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Von Gott und der Welt verlassen

Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan

VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl299 Seiten
ISBN9783593432434
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Fritz Bauer (1903 - 1968), Jude, Sozialdemokrat, Justizjurist, von den Nazis 1936 vertrieben, 1949 aus dem Exil zurückgekehrt, um am Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens tatkräftig mitzuwirken, setzte seine Hoffnungen auf die junge Generation. In Thomas Harlan (1929 - 2010), dem rebellischen Sohn des Nazi-Regisseurs Veit Harlan (1899 - 1964), der sich zeitlebens an der NS-Vergangenheit abarbeitete, sah Bauer ein Vorbild für die Jugend. Er schloss Freundschaft mit Harlan und unterstützte den Schriftsteller nach Kräften. Seine Briefe an Thomas Harlan zählen zu den wenigen erhaltenen Schreiben dieser Art von Bauers Hand, sie zeigen einen bis heute weithin unbekannten, privaten Bauer.

Werner Renz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut. Michael Farin ist Autor und Verleger.

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Leseprobe
Am Rande des Lebens: Fritz Bauer
Werner Renz
'Durch Deinen Wuschelkopf kann ich nicht fahren.'
Bauer an Harlan
Für Recht und Gerechtigkeit zu arbeiten und zu leben war Fritz Bauers Credo. Nicht allein in seinem Amt, auch im Alltag strebte er danach, die Ideale der Französischen Revolution zur Geltung zu bringen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren ihm Werte, die aus der zu wahrenden Würde eines jeden Menschen erwuchsen. Frei, gleich und solidarisch konnten Menschen Bauer zufolge jedoch nur sein und leben, wenn der demokratische Staat ein Höchstmaß an Pluralismus garantierte. Zeitlebens begriff sich Bauer als Anwalt des Menschen und seiner Grund- und Menschenrechte gegenüber privater und insbesondere staatlicher Willkür.
Bauer in einer kurzen Einführung zu seinen Briefen an Thomas Harlan einigermaßen gerecht zu werden ist ein schwieriges Unterfangen, war er doch eine überaus komplexe Persönlichkeit. Wer in ihm einzig den Justizjuristen, gar ausschließlich den 'Nazi-Jäger' sieht, verkennt den Menschen Bauer vollkommen und wird durch die Briefe eines Besseren belehrt.
Als im Mai 1945 Deutschland militärisch besiegt, jedoch keineswegs mental vom Nazismus befreit war, drängte es den Exilanten Bauer, die Rückkehr in die 'Heimat' anzutreten. Für den 1933 aus dem Staatsdienst vertriebenen Juristen gab es als sicheren Neuanfang nach über zehn Jahren Exil allein den Justizdienst.
In seinen Ämtern als Generalstaatsanwalt bei den Oberlandesgerichten Braunschweig und Frankfurt am Main war Bauer notwendigerweise ein an das überkommene, geltende Recht gebundener Strafverfolger. Als Strafrechts- und Strafvollzugsreformer blieb er aber fortwährend ein progressiver Kriminalpolitiker, der ein der sozialen Verteidigung dienendes Behandlungsrecht forderte. Bauer strebte ein Kriminalrecht an, das sich an den Erkenntnissen der Natur- und Sozialwissenschaften orientiert, das endlich das herkömmliche Schuldstrafrecht überwindet.
Als Aufklärer, Humanist und Volkspädagoge war er ein öffentlich an den Fortschritt der Wissenschaften und an die Erziehbarkeit des Menschen glaubender Optimist. Als Privatmensch, in persönlichen Äußerungen, erwies er sich aber eher als Skeptiker, der sein Tun und Lassen selbstkritisch in Frage stellte. Auch ein glühender Patriot und zugleich ein radikaler Diagnostiker der deutschen Misere ist der Menschenfreund Fritz Bauer gewesen. All dies und vieles mehr, freilich nicht als unvereinbare Gegensätze, vielmehr als essentielle Facetten einer historischen Gestalt im Jahrhundert der Barbarei. Viele Herzen schlugen in Bauers Brust. Er war ein Mann von funkelnder Intelligenz, umfassendem Wissen und klassischer Bildung, umgetrieben von heißer Menschenliebe und verzehrender Sorge um das Menschengeschlecht. Leidenschaftlich und engagiert, rastlos und unermüdlich, selbstlos und aufopfernd arbeitete und lebte er. Liest, sieht und hört man ihn, so drängt sich der Eindruck auf, dass er an der Welt und ebenso an sich selbst nicht wenig litt, dass er gewiss ein couragierter Streiter und mutiger Kämpfer, aber auch ein seelisch Verletzter und innerlich Versehrter gewesen war.
Seine Briefe an Thomas Harlan legen diesen Befund überdeutlich nahe.
Der 1903 in Stuttgart in ein jüdisches Elternhaus geborene Bauer politisierte sich bereits in jungen Jahren. 1920 trat der Schüler des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums der SPD bei, und nachdem er mit 18 Jahren Abitur gemacht hatte, begann er zielstrebig das Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Als Student in Heidelberg, München und Tübingen engagierte er sich im 'Bund Freier Wissenschaftlicher Vereinigungen', hielt Vorträge und setzte sich für die gefährdete Demokratie der Weimarer Republik ein. Zwischen den beiden Staatsprüfungen 1926 und 1928 promovierte der begabte Jurist und Wirtschaftswissenschaftler in Heidelberg bei Karl Geiler. Für den Schutz der Weimarer Republik stritt er im 'Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold' an der Seite von Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher. Ab 1928 war er dann bei der Stuttgarter Justiz tätig, seit 1930 als Amtsrichter.
Nachdem er im März 1933 in seinem Dienstzimmer verhaftet und unter den Augen seiner stumm zuschauenden Kollegen abgeführt worden war, erlitt Bauer im KZ Heuberg und im Ulmer Garnisonsarresthaus die von den Nazis gegen ihre politischen Gegner verhängte 'Schutzhaft'. Nach seiner Entlassung im November 1933 war er als Sozialdemokrat und Jude den Repressionen des Regimes ausgesetzt. Vorübergehende Verhaftungen verliefen glimpflich für den Oppositionellen. Doch Bauer sah sich gezwungen, aus Deutschland zu emigrieren. Im März 1936 verließ er seine schwäbische Heimat und reiste zu seiner Schwester Margot, verheiratete Tiefenthal, die seit 1934 in Dänemark lebte.
Bauer schlug sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durch und rettete sich, seine Eltern und die vierköpfige Familie Tiefenthal im Oktober 1943 nach Schweden. Der Plan der Nazis, alle Juden zu deportieren, war rechtzeitig verraten worden. Mit Fischerbooten konnten sich circa 7.000 Juden nach Schweden in Sicherheit bringen. In Stockholm schloss sich Bauer den Sozialdemokraten im Exil (SoPaDe) an, lernte Willy Brandt kennen und gründete mit ihm die Zeitschrift Sozialistische Tribüne. Sowohl in Dänemark als auch in Schweden publizierte er Bücher. Nationalökonomische Arbeiten und insbesondere sein in beiden Exilländern und in der Schweiz erschienenes Buch Die Kriegsverbrecher vor Gericht sind hier zu nennen.
Thomas Harlan nahm 1960 Kontakt mit Bauer auf. Nach Polen, hinter den Eisernen Vorhang, war Harlan gleichsam geflüchtet, nachdem ihm NS-Täter wie Franz Alfred Six, im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess 1948 zu 20 Jahren Haft verurteilt und 1952 vorzeitig entlassen, mit Strafanzeige wegen übler Nachrede gedroht hatten. Harlan hatte Anfang 1959 im Anschluss an die 50. Aufführung seines Theaterstücks über das Warschauer Ghetto in der Westberliner Kongresshalle einen Aufruf an den Deutschen Bundestag verlesen, in dem er anprangerte, dass in der Bundesrepublik von der Justiz unbehelligte NS-Verbrecher lebten. Er forderte Bonn auf, die genannten Personen vor Gericht zu stellen.
Der Generalstaatsanwalt Hessens war Harlan als konsequenter und streitbarer Verfolger von NS-Verbrechern bekannt. Harlans Archivstudien in Polen und sein Vorhaben, ein Werk über wohlintegrierte einstige NS-Täter zu schreiben, legten es nahe, sich an Bauer zu wenden und den Ermittlungsbehörden Informationen über seine Quellenfunde zukommen zu lassen. Harlan erstattete auch Anzeige gegen NS-Täter, auf die er bei seinen Archiv­recherchen gestoßen war.
Bauer sah in Harlan ein bewundernswertes, von ihm so sehr ersehntes Beispiel für den richtigen Umgang der jungen Generation mit der NS-Vergangenheit. Bewältigung der Vergangenheit hieß für Bauer immer, politische Konsequenzen und Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Sofern es ihm möglich war, nahm Bauer Harlans Unterstützung an und war selbst bestrebt, die Forschungsarbeit und die Publikationsvorhaben des jungen Literaten zu fördern.
Obgleich die Ahndung der NS-Verbrechen nicht zu Bauers Hauptanliegen als Justizjurist zählte, sei in der Einführung und im Kontext seiner Korrespondenz mit Harlan vor allem von seinen Überlegungen zur justiziellen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit die Rede.
Bauers erste Darlegungen zur Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen datieren aus den beiden letzten Kriegsjahren und reichen bis zum Urteil im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess. Die Einführung spannt den Bogen von seinen frühen Auffassungen zu seiner skeptischen und pessimistischen Bilanz, die er nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess zog. Bauers geradezu überschäumende Hoffnungen um 1945 endeten 20 Jahre später in Bitterkeit und Resignation.
In einem Zeitschriftenbeitrag vom Februar 1945 befasste sich Bauer mit der notwendigen 'Abrechnung mit den Kriegsverbrechern' und sprach sich im Namen der 'deutschen Opposition' für eine 'durchgreifende Revolution gegen Kriegsanstifter, Kriegsverbrecher und Verbrecher am deutschen Volke' aus. Mit Revolution meinte er eine auf 'revolutionäre[s] Recht' gestützte Aburteilung der NS-Verbrecher, das heißt eine Aburteilung mit Hilfe eines Rechts, das rückwirkend erst zu schaffen sei. Auf der Grundlage des geltenden Rechts war nach Bauer die geforderte 'Abrechnung' nicht möglich. Er schrieb:
'Die nazistische Revolution muss durch eine antinazistische Gegenrevolution beseitigt werden. Die Antinazisten können einen Mittelweg beschreiten, indem sie revolutionäre Gesetze und Revolutionstribunale mit rückwirkender Kraft schaffen, aber auch dieser Weg ist nicht der des geltenden Rechts, sondern der Weg revolutionären Rechts. Bestimmt sich das Volk zu ihm, werden wir nicht nur den Alliierten viele Schwierigkeiten abnehmen. Wir werden auch die Glaubwürdigkeit und Effektivität eines neuen Deutschland beweisen.'
Anders als Bauer es erhoffte und forderte, hat das deutsche Volk Nürnberg den Alliierten überlassen. Es gab keine 'Antinazisten' als politisch starke und einflussreiche Kraft, weder im Exil noch im besiegten Deutschland, die gegenüber den Alliierten eine juristische Selbstreinigung hätte durchsetzen können. Bauer war diese Entwicklung keineswegs recht. In einem Artikel über den Nürnberger Prozess erklärte er:
'Deutsche Antinazisten bedauern, dass die Verurteilung der nazistischen Verbrechen durch alliierte und nicht durch deutsche Gerichte erfolgt. [...] Sie bedauern es, weil deutsche Gerichte Gelegenheit gehabt hätten, klar und deutlich der Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass das neue Deutschland wieder ein Rechtsstaat geworden ist, der mit der rechtlosen Vergangenheit bricht und die nazistischen Vorstellungen, Macht sei Recht, verflucht.'
Auch in seinem Beitrag Rättegången i Nürnberg vom Oktober 1946 stellte er die Frage, ob es nicht zweckmäßiger gewesen wäre, 'das Verfahren einem deutschen Gericht zu überlassen, dem das deutsche Volk möglicherweise größeres Vertrauen entgegengebracht hätte'. Da der Prozess gegen die 'Hauptkriegsverbrecher' neben seinem juristischen Zweck eine 'moralisch-pädagogische Aufgabe' habe, ein 'Element demokratischer Erziehung der Deutschen' sei, 'indem man zeigt, was wirklich geschehen ist, und indem die Taten der Angeklagten einer humanitären und weltbürgerlichen Moral gegenübergestellt' werden, erschien es Bauer ratsam, Deutsche über Deutsche richten zu lassen.
Im Rückblick auf das in Nürnberg gesprochene Urteil hob er seine Überzeugung hervor, 'dass die gesunden und anständigen Schichten des deutschen Volkes ohne jeden Vorbehalt die gemeinen Verbrechen des Massenmordes, die Gaskammern, die Gestapotortur, die ganze Barbarei des Hitlerismus verurteilen und verfluchen'. Bauer erhoffte sich mithin einen radikalen Mentalitätswandel bei der Mehrheit der vormaligen Volksgenossen.
Die Abberufung des Freiburger Richters, der im November 1946 Matthias Erzbergers Mörder freigesprochen hatte, kommentierte Bauer folglich mit einem hoffnungsfrohen Blick auf sein Heimatland: 'Ein neues Deutschland kann, wenn es leben und geachtet sein will, nicht dulden, dass Richter sich wieder zu Helfershelfern von Mordgesellen machen.' Im angeblichen Verhalten des Mitattentäters von Walther Rathenau, 'der seine Strafe verbüsste und durch Handlungen wieder gutzumachen suchte, was er in jugendlichem Unverstand verbrach', sah Bauer hingegen ein Beispiel dafür, wie eine verbrecherische Vergangenheit aufzuarbeiten sei. Ernst Werner Techow - so Bauer - 'las die Werke Rathenaus und begann sie und den Mann zu verstehen und zu achten. Er half denen, die von Hitler aus Deutschland vertrieben wurden; er half ihnen in Südfrankreich, in Afrika, er half anonym.' Diese von Bauer als exemplarisch erachtete Geschichte konnte von der historischen Forschung nicht bestätigt werden. Techows vorgebliches Verhalten war ihm 'wortlose Reue und Sühne. Das war menschliches Heldentum und vorbildliche Tat.'
Auch vom deutschen Volk ersehnte sich Bauer einen Wandel zum Guten. Nur selbstreinigende, bereuende Einkehr konnte seiner Auffassung nach einen Neubeginn gewährleisten. Wie umstürzend seine Hoffnungen im Exil waren, veranschaulicht der Schluss seines Artikels:
'Es ist richtig, das Schicksal des deutschen Volkes, auch seine Freisprechung und Amnestierung, liegt in seinen Händen. Sie hängen aber von der Arbeit ab, die es in den kommenden Jahrzehnten leistet, von seinem Willen, ein anderes Deutschland, ein Reich der Gerechtigkeit zu schaffen, dem Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern. Es kommt auf Selbstprüfung und neues Beginnen an. Sie bestimmen den Ausfall des Urteils. Die kommende Geschichte ist das Gericht. Nützen wir alle die Chance.'
Auf einer Pressekonferenz in Stockholm vom 9. Mai 1945, zu der der 'Arbeitsausschuss antinazistischer Organisationen in Schweden' eingeladen hatte, meinte Bauer, das besiegte Deutschland sei 'eine tabula rasa', mithin könne und müsse 'ein neues und besseres Deutschland [...] von Grund auf aufgebaut werden. Es ist nicht umzubauen, es ist neuaufzubauen.' Beseelt von der Hoffnung auf einen radikalen, umwälzenden Neuanfang führte er weiter aus:
'Wir wünschen, dass alle antinazistischen Kreise Deutschlands sich zusammen­schliessen, um den Nazismus in allen seinen Schattierungen und Verkleidungen niederzuschlagen und restlos auszurotten. Die Kriegsverbrecher und Verbrecher am deutschen Volke, diejenigen[,] die den Nazismus zur Macht gebracht und den Krieg vom Zaune gebrochen haben, die Verbrecher der Läger von Buchenwald, Belsen und Ma[j]danek[,] sollen auf das härteste bestraft werden.'
15 Jahre später war Bauer desillusioniert. In der Ära Adenauer gab es keine fundamentale Abkehr von der Vergangenheit. Das 1949 in Kraft getretene Grundgesetz (Art. 103, Abs. 2 GG) schloss Rechtsnormen mit rückwirkender Kraft aus. Demnach waren die NS-Verbrechen allein auf der Grundlage des zur Tatzeit geltenden Rechts zu judizieren. Bauer wusste nur zu gut, dass das Rechtsinstrumentarium (Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung) wenig geeignet war, den Massenmord zu ahnden.
In einem 1960 erschienenen Aufsatz über die 'ungesühnt' gebliebene Nazijustiz konstatierte er nüchtern, die fällige 'geistige Revolution der Deutschen' habe sich nicht ereignet. Gleichwohl verband Bauer anfangs mit den NS-Prozessen, die Ende 1958 von der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen und zum Beispiel auch von den Bauer nachgeordneten Staatsanwaltschaften vorbereitet und eingeleitet wurden, große Hoffnungen. Im Interview mit Thomas Gnielka, der ihm im Januar 1959 die 'Breslauer Dokumente' zugesandt hatte, die für Bauer die willkommene Handhabe gewesen waren, in Sachen Auschwitz durch die landgerichtliche Staatsanwaltschaft ermitteln zu lassen, war er noch der Meinung, dass 'in der Öffentlichkeit die Notwendigkeit' der NS-Prozesse, 'die Notwendigkeit einer endgültigen auch strafrechtlichen Abrechnung mit der NS-Zeit erkannt worden' sei. Er war sogar der Ansicht, dass die Öffentlichkeit 'in weitem Umfang verstanden' habe, was er und die Strafverfolger 'mit der Durchführung dieser Prozesse' wollten.
Bauers Hoffnungen erfüllten sich nicht. Nach dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965) und nach deprimierenden Erfahrungen mit nicht wenigen Deutschen, die die NS-Verfahren lauthals ablehnten, einen Schlussstrich forderten und antisemitische Ressentiments schürten, machte sich bei ihm Resignation breit. In seinem Beitrag für den von Helmut Hammerschmidt herausgegebenen Sammelband Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945-1965 konnte Bauer nur noch seine Enttäuschung konstatieren. Repräsentative Umfragen hatten ergeben, dass 40 Prozent der befragten Deutschen vom Auschwitz-Prozess nie etwas gehört hatten und dass von den 60 Prozent der Informierten vier von zehn der Meinung waren, man müsse 'über die Vergangenheit Gras wachsen lassen'. Bauer artikulierte sodann eine Einsicht, die nicht ganz mit seinen Texten um 1945 zu vereinbaren ist. Er schreibt:
'Die Gleichgültigkeit, ja der Widerwille gegen den historischen, rechtlichen und moralischen Unterricht, den die Strafprozesse darstellen könnten, finden sich nicht erst ?zwanzig Jahre danach?; sie kennzeichnen die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch des NS-Staats bis heute.'
Mit Bestimmtheit stellte er fest, dass die Ablehnung der Nürnberger Rechtsgrundlagen durch die deutsche Justiz ein wichtiger Grund für die unangemessene Ahndung der NS-Verbrechen darstelle. Die Justiz habe 'nachdrücklich die Auffassung' vertreten, 'unser ?gutes altes Recht? genüge vollständig'.
Freilich hätte Bauer zufolge die Rechtspraxis der bundesdeutschen Schwurgerichte in Sachen NS-Verbrechen auch anders aussehen können. Seine Kritik an der Rechtsprechung und seine Rechtsansicht seien kurz erörtert.
1. Mit Blick auf nicht wenige Gerichte, die den Angeklagten unvermeidbaren Verbotsirrtum konzedierten, hob Bauer hervor, die Rechtsprechung hätte neben der Fiktion eines Kernbereichs des Rechts auch einen Kernbereich des Gewissens stipulieren müssen. Dem Bundesgerichtshof hielt er deshalb vor, 'den Schluß vom Naturrecht auf das schlechte Gewissen der nazistischen Täter nicht gezogen' zu haben. Bejahe man 'einen unzerstörbaren Kernbereich des Rechts', wie es der Bundesgerichtshof im Anschluss an Gustav Radbruch tue, so müsse man 'logischerweise auch einen unzerstörbaren Kernbereich des Rechts- und Unrechtsbewußtseins anerkennen'.
In der Regel haben die Gerichte bei tatnahen Tätern ein Unrechtsbewusstsein durchaus angenommen. Selbst wenn Angeklagte im Vorverfahren beteuerten, die Tötungen in Auschwitz als rechtmäßig betrachtet zu haben, wurden derartige Einlassungen von den Gerichten meist als Schutzbehauptung bewertet. So auch im Fall von Victor Capesius, dem SS-Apotheker in Auschwitz. Von einer 'Konzession eines irrenden Gewissens' durch die Gerichte, wie Bauer kritisch feststellte, kann demnach nur in einigen NS-Prozessen die Rede sein. Beispiele hierfür sind der Frankfurter Prozess gegen 'Euthanasie'-Ärzte (Aquilin Ullrich und andere) und Verfahren gegen NS-Juristen, die Unrechtsurteile gefällt hatten. Die Annahme fehlenden Unrechtsbewusstseins war also in den Verfahren gegen Personal der Vernichtungslager und gegen Angehörige der Einsatzgruppen keineswegs die Regel.
2. Bauer übte weiterhin Kritik an den Gerichten, die den Mord an den europäischen Juden, die 'Endlösung der Judenfrage', nicht als in sich geschlossenes Gesamtgeschehen, als natürliche Handlungseinheit, betrachteten. Die punktuelle Aufklärung der Massenverbrechen, die 'Atomisierung des Gesamtgeschehens' durch Aufteilung in Einzelepisoden, bewertete er als gänzlich verfehlte Rechtsauffassung. Bauer hatte im Auschwitz-Prozess erfahren müssen, dass die Frankfurter Richter nach den strengen Beweisregeln der Strafprozessordnung der Ansicht waren, den einzelnen Angeklagten müssten jeweils zweifelsfrei bewiesene Einzeltaten nachgewiesen werden. Anders Bauer. Ihm zufolge war die 'Tätigkeit eines jeden Mitglieds eines Vernichtungslagers' als natürliche Handlungseinheit anzusehen, gleichviel, welche Funktionen und Aufgaben der einzelne SS-Angehörige gehabt haben mag. Bauers Rechtsansicht wurde von den Schwurgerichten in den Verfahren gegen Personal der Vernichtungslager Che?mno, Treblinka und Sobibór geteilt. Das Vernichtungsgeschehen in den genannten Todeslagern hielten die Tatrichter für eine Tat, an der beteiligt war, wer zum Lagerpersonal gehörte. Ein Einzeltatnachweis war nicht erforderlich. Die Zugehörigkeit zur Lagermannschaft reichte für die Tatzurechnung aus. Der Bundesgerichtshof hat die Urteile bestätigt. Im Fall des Lagers Auschwitz, das kein 'reines Vernichtungslager', sondern eine Kombination von Konzentrations- und Todeslager gewesen war, haben die Frankfurter Richter und Karlsruhe Bauers Rechtsansicht jedoch verworfen. Eine unerfreuliche Konsequenz waren drei Freisprüche im Auschwitz-Prozess.
3. Ein weiterer Kritikpunkt Bauers war die Gehilfenrechtsprechung in NS-Prozessen. Die bei den Gerichten 'beliebte Annahme bloßer Beihilfe' bei der überwiegenden Mehrheit der Angeklagten, die auf Befehl gehandelt hatten, führte selbst bei hohen SS-Führern zu milden Strafen. So wurde der SS-Zahnarzt Willy Frank, 'Alter Kämpfer' seit 1922 und beim Marsch auf die Feldherrnhalle an Hitlers Seite, im Auschwitz-Prozess als Gehilfe qualifiziert und für seine Mitwirkung an nachweislich sechs Selektionen auf der Birkenauer Rampe zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Auffassung des Gerichts habe sich der altgediente Nazi Frank die von der Staatsführung befohlene Tat, die Tötung der angekommenen Juden, nicht zu eigen gemacht, er habe sie lediglich als fremde Tat fördern und unterstützen wollen.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einführungen8
»Am Rande des Lebens«: Fritz Bauer – Werner Renz10
»Ein deutsches Leben«: Thomas Harlan – Jean-Pierre Stephan28
»Von Gott und der Welt verlassen« – Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan44
Editorische Notiz46
Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan48
Anmerkungen zu den Briefen222
Anhang268
Fotos270
Glossar288
Abkürzungen292
Danksagung294
Herausgeber und Autoren296
Personenregister298

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