Einleitung
Es gibt Jahre, die markieren so wichtige Einschnitte in der Geschichte, dass allein die Jahreszahl wie ein Fanal wirkt. Wer sie hört oder liest und sich nur ein wenig auskennt, der weiß sofort, worum es geht. Obwohl sich natürlich auch in diesen Jahren sehr viel mehr und auch sehr unterschiedliches ereignet hat, stehen sie heute nur noch für ein einziges, großes, alles andere überragendes Ereignis. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts kann mit einigen solcher Jahreszahlen aufwarten: 1914, 1918, 1933, 1939, 1945, 1949, 1961, 1968, 1989, 1990 – sie alle stehen für epochale Ereignisse und Veränderungen. Am Ende des Jahres waren Land und Leute nicht mehr so wie zu seinem Beginn.
Das Jahr 1913 gehört nicht dazu. Es steht erst einmal nur für sich selbst. Es begann, dann passierte dieses und jenes, und schließlich ging es wieder zu Ende. Kein alles überragendes Ereignis, kein Epochenschnitt, keine große Zäsur. Ein langweiliges Jahr, könnte man meinen. Aber das stimmt nicht. Es kann auch gar nicht stimmen, denn komplett langweilige Jahre gibt es nicht. Das Interessante findet sich immer. Und dass es sich gerade auch für das Jahr 1913 finden lässt, ist spätestens seit dem erfolgreichen und lesenswerten Buch von Florian Illies über just dieses Jahr bewiesen.
Illies Idee zu diesem Buch war in gewisser Weise ein kleiner Geniestreich, denn jedem neunmalklugen Kenner der Materie war natürlich völlig klar, dass es über das Jahr 1914 – dem Jahr des Beginns des Ersten Weltkriegs – furchtbar viel zu erzählen gäbe, und dass man sich, der Logik runder Jubiläen folgend, in den Verlagen und Fernsehredaktionen akribisch darauf vorbereitete, im Jahr 2014 das Jahr 1914 ausgiebig zu würdigen. Aber 1913? Das hatte niemand auf der Rechnung. Und wie sollte man dem sensationsverwöhnten Publikum auch ein Jahr nahebringen, in dessen Verlauf weder ein Krieg begonnen oder beendet noch ein Staat gegründet oder aufgelöst noch eine Mauer gebaut oder geöffnet wurde? Illies zeigte jedoch, dass das geht.
Warum dann aber gerade 1913? Warum nicht 1912 oder, sagen wir, 1903 oder 1877? Nun ließen sich gewiss auch über 1903 oder 1877 interessante Dinge schreiben oder über jedes andere beliebige Jahr, das nicht so weit zurückliegt, das wir schlicht und ergreifend nichts mehr darüber wissen. Aber eine kleine Besonderheit hat das Jahr 1913 dann eben doch aufzuweisen. Es liegt eben nicht irgendwo im Niemandsland einer gerade still vor sich hin dümpelnden und in sich ruhenden historischen Epoche, sondern geht, wie wir wissen, dem kommenden großen Knall unmittelbar voraus. Illies hat eben nicht mit der Schrotflinte irgendwo in die historische Pampas geschossen und dabei irgendein beliebiges Ziel getroffen. Er schoss haarscharf am eigentlichen Ziel der historischen Großwildjäger vorbei. Wie ein Schütze, der absichtlich ein paar Zentimeter daneben schießt und zeigt, dass dort auch etwas ist.
Umbrüche, Zäsuren, Epochenschnitte – das ist alles zweifellos interessant. Wir sehen dort scheinbar Festgefügtes einstürzen, Unbewegliches ins Wanken geraten und Menschen, die sich entweder hilfesuchend ducken oder mutig vorwärts ins Freie laufen. Das alles ist spannend. Aber wie ist es mit der Ruhe vor dem Sturm? Woraus zieht sie ihren Reiz? Einen Umbruch wirklich verstehen kann man nur, wenn man weiß, was vorher gewesen ist. Die Behauptung, eine alte Welt sei untergegangen und eine neue entstanden, ist sinnlos, wenn man nicht zumindest eine ungefähre Vorstellung davon hat, was in der alten Welt anders war als in der neuen. Und die Perspektive aus der historischen Rückschau ist dabei sehr bequem. Bequemer zumal als die der Zeitgenossen.
Wenn wir auf das Jahr 1913 blicken, sehen wir Menschen, die aus ihren unterschiedlichen Lebenssituationen heraus versuchen, ihren Alltag zu meistern, ihre Probleme zu lösen und ihren Weg zu gehen. Nicht anders als wir dies heute auch tun. Aber der Blick auf ihr Treiben bringt uns ihnen gegenüber in eine ungeheuer überlegene, privilegierte Position, denn wir wissen bereits, was sie noch nicht wissen, dass nämlich ihr friedliches Leben bald ein jähes Ende nehmen wird, dass ein langer Krieg vor der Tür steht, der in seiner Heftigkeit bis dahin unbekannte Ausmaße annehmen wird, und dass mit dem Ende dieses Krieges die bestehende Ordnung zusammenbrechen und durch eine neue, in vielerlei Hinsicht andersartige Ordnung ersetzt werden wird. Eine Ordnung, die sehr viel mehr Dynamik, aber auch sehr viel mehr Instabilität und Unsicherheit mit sich bringt. Schließlich wird all dies in die Katstrophe des Nationalsozialismus und eines zweiten, noch gewalttätigeren Krieges münden, an dessen Ende die Spaltung der Welt in Ost und West stehen wird. Kaum jemand wird von all diesen Umbrüchen unberührt bleiben. Das Leben ganz vieler wird sich dramatisch verändern. Viele werden gewaltsam ums Leben kommen, manche werden einen dramatischen Aufstieg und manche einen dramatischen Abstieg erleben, manche auch zuerst das eine und dann das andere. Und 1913 ist das letzte noch weitgehend „normale“ und friedvolle Jahr, bevor all diese Umbrüche beginnen.
Es stimmt, dass der Krieg 1914 nicht ganz überraschend kam. Dass es zwischen den Großmächten früher oder später zum Knall kommen würde, hatten viele vorausgesehen und manche sogar herbeigesehnt. Zu stark und unüberwindlich erschienen die Spannungen, zu gegensätzlich die unterschiedlichen Interessen und viel zu gering der Wille, zurückzustecken und sich friedlich zu einigen. Schon mehrfach hatte es in den vergangenen Jahren so ausgesehen, als könne es mit dem Krieg möglicherweise sehr schnell losgehen. Man könnte also sagen, der Krieg sei erwartet worden. Das stimmt in gewisser Weise, und doch stimmt es nicht. Ein Krieg war tatsächlich erwartet worden, aber nicht dieser Krieg. Erwartet worden war zumindest in Deutschland ein kurzer und vor allem siegreicher Krieg. Dass der Krieg vier Jahre dauern und mit einem politischen Zusammenbruch enden würde, ahnte man nicht. Nur wenige dürften die Hellsichtigkeit des britischen Außenministers Edward Grey besessen haben, der Anfang August 1914 seinen berühmten Satz gesagt haben soll „In ganz Europa gehen die Lampen aus, und wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen."
Der Krieg war kein Naturereignis. Er wurde von Menschen gemacht. Menschen, die in der Rückschau mitunter den Eindruck erwecken, als hätten sie geradezu vorsätzlich auf die kommende Katastrophe zugesteuert, hätten alles dafür getan, dass das grausige Massaker endlich beginnt. So lesen sich viele Ereignisse der deutschen Politik des Jahres 1913 so, als seien sie nur ein Präludium für 1914, seien quasi schon unmittelbare Kriegsvorbereitung oder Symptom einer aufkommenden Kriegsstimmung in der Bevölkerung. Ob es die Hochrüstung zur See ist, mit der man Großbritannien immer wieder düpierte, oder die Verdächtigungen gegen die Bevölkerung im Elsass, der man eine frankophile Gesinnung unterstellte – immer wieder finden wir Motive, die die Kriegskonstellation des nächsten Jahres in etwas anderer Gestalt schon vorwegzunehmen scheinen, und die nach Kriegsbeginn in gewandelter Form wieder auftauchen. Dennoch sollte man sich hüten, die Dinge allzu sehr von ihrem Ende her zu betrachten. Dass es 1914 tatsächlich zum Krieg kommen würde, wurde 1913 von einigen wichtigen Persönlichkeiten zwar schon gedacht oder vielleicht sogar geplant, war aber noch nicht entschieden. Noch gab es unterschiedliche Wege, die man beschreiten konnte, und auch eine friedliche Entwicklung war immer noch möglich. Neben denjenigen, die einen Krieg wollten oder es zumindest auf ihn ankommen ließen, gab es immer noch jene, die ihn nicht wollten und sich gegen ihn stellten, und ihr letztendliches Scheitern war keineswegs zwangsläufig.
Und dennoch: Wir sind befangen in unserer Sicht der Dinge und können uns nicht frei machen von unserem Wissen darüber, dass wir es hier im Jahre 1913 mit einer untergehenden Welt zu tun haben. Wenn auch das Jahr 1913 selbst noch keinen Umbruch bringt, so wissen wir doch, dass der Umbruch bald schon kommen wird, und wir blicken auf die Menschen von damals, die es nicht wissen. Das ist in mehrfacher Hinsicht interessant, zumal große Umbrüche zwar schnellen Wandel herbeiführen, Altes hinwegfegen und dem Neuen zum Durchbruch verhelfen. Aber oft ist das Neue, das zum Durchbruch gelangt, in der alten Gesellschaft bereits angelegt gewesen und hatte sich im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten schon bis zu einem gewissen Punkt entwickelt. Die Frage also, wie viel Moderne schon in der Vorkriegszeit steckt, ist spannend, und auch hier hat ja Florian Illies gerade für das Jahr 1913 eindrucksvoll demonstriert, dass dies durchaus mehr ist, als man gemeinhin denken mag. So bestechen die Exkursionen in das Jahr 1913 mitunter gerade dadurch, wie nahe uns doch so vieles von dem ist, von dem wir immerhin durch ein Jahrhundert, zwei Weltkriege und vier politische Umbrüche getrennt sind.
Das vorliegende Buch bietet keine geschlossene Darstellung. Die Darstellungsweise ist vielmehr episodenhaft und bietet Schlaglichter auf wichtige Ereignisse des Jahres 1913, wobei Vorgeschichte und Nachwirkung berücksichtigt werden, es also nicht bei einer sturen Betrachtung allein des Zeitraums von Januar bis Dezember 1913 bleibt. Der Auswahl haftet zweifellos immer etwas Subjektives an. Gewiss hätte man hier oder da auch anders auswählen, einen Teil hinzufügen oder einen anderen weglassen können. Gesucht habe ich immer einerseits nach dem Zeittypischen und andererseits nach dem, was über die Zeit hinausweist und für die weitere...