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E-Book

1914 - Zeitenwende

Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg

AutorSteffen Bruendel
VerlagHerbig
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783776681918
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Eine einzigartige Epochendiagnose Viele deutschsprachige Künstler und Literaten jubeln bei Kriegsausbruch 1914. Auch Philosophen, Historiker und Theologen versuchen, dem Krieg einen höheren Sinn zu verleihen. Er wird als geistig-kulturelle Auseinandersetzung mit den Feinden und als Chance zur gesellschaftlichen Erneuerung gedeutet. Im Verlauf des Krieges mehren sich jedoch die kritischen Stimmen. Der Historiker Steffen Bruendel zeigt anhand zahlreicher Originaltexte auf, inwiefern Entwicklungen im künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Bereich angestoßen wurden, die bis heute nachwirken. Entstanden ist so ein spannender Blick auf die Zeit des Ersten Weltkriegs als Ideenwende - und ein außergewöhnliches Leseerlebnis. Das erste Buch zum Thema aus dem Blickwinkel der damaligen geistigen Elite Ein Lesegenuss für alle Leser von Florian Illies' 1913

Dr. Steffen Bruendel, geboren 1970, ist deutscher Historiker und seit 1999 als Wissenschafts- und Kulturmanager für verschiedene Stiftungen und Unternehmen tätig. Zudem war er Lehrbeauftragter der Universitäten Bielefeld und Bochum. Er forscht und publiziert insbesondere zur Geschichte des Ersten Weltkriegs und der europäischen Nachkriegsordnung.

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Abglanz

LEUCHTENDES MÜNCHEN

»München leuchtete. Über den festlichen Plätzen und weißen Säulentempeln, den antikisierenden Monumenten und Barockkirchen, den springenden Brunnen, Palästen und Gartenanlagen der Residenz spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide, und ihre breiten und lichten, umgrünten und wohlberechneten Perspektiven lagen in dem Sonnendunst eines ersten, schönen Junitages.«[16]

Mit diesen Worten beginnt Thomas Manns Novelle »Gladius Dei« aus dem Jahre 1902. Der Protagonist, ein junger, eher hässlicher Mann, schlendert an einem schönen Sommertag durch München und entdeckt im Fenster eines Kunsthändlers ein ihn unsittlich anmutendes Bild der Muttergottes, die Reproduktion eines Meisterwerks der Renaissance. Nachdem er den Ladenbesitzer mehrfach aufgefordert hat, das unzüchtige Bild zu entfernen oder gar zu verbrennen, lässt dieser ihn durch einen Mitarbeiter unsanft vor die Tür setzen. Daraufhin glaubt der Jüngling, am Himmel das breite Feuerschwert Gottes (Gladius Dei) zu erkennen. Indem Thomas Mann seinen Protagonisten als Reinkarnation eines radikalen, gegen die Verworfenheit der Welt kämpfenden spätmittelalterlichen Bußpredigers auftreten lässt, karikiert er den uninspirierten Kunstbetrieb seiner Zeit sowie den Münchner Renaissancekult, der sich darin erschöpfte, die Vergangenheit zu reproduzieren. München, immerhin eine der führenden Kunststädte des Reiches, wird hier von dem aufstrebenden, 1875 in Lübeck geborenen Schriftsteller als oberflächlich und wenig kunstsinnig, ja als kulturell geradezu gleichgültig vorgeführt.[17]

Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, da Thomas Mann, der als junger Mann noch gegen die Normen des Wilhelminismus aufbegehrt hatte, seit der Jahrhundertwende den Lebensstil des Großbürgers und loyalen Staatsbürgers pflegte und somit durchaus angepasst lebte. Trotz seiner Neigung zum eigenen Geschlecht ehelichte er 1905 Katharina (Katia) Pringsheim, die Tochter aus einer großbürgerlichen Gelehrtenfamilie. Skeptisch verfolgte er den Lebenswandel seines vier Jahre älteren Bruders Heinrich, der sich mit Frauen und Freunden umgab, die fast alle der Halbwelt des Theaters entstammten. Heinrichs lockeres Verhältnis zu der aus Brasilien stammenden Sängerin Ines (Nena) Schmied missbilligte Thomas entschieden. Es war die Kritik des etablierten Bürgers am freien Bohémien, die Abgrenzung des Konformisten vom Nonkonformisten.[18]

Folgerichtig unterschied sich auch ihre Meinung zur Literatur. Thomas Manns Ideal war der Bildungsroman, wobei er sich literarisch an den russischen Realisten, insbesondere Tolstoi, orientierte. Die Kompositionstechniken und die autobiografische Struktur übernahm er von den Romanen seines russischen Vorbilds. Außerdem war er im Sinne des Philosophen Friedrich Nietzsche davon überzeugt, dass das Geistige im Allgemeinen und der Künstler im Besonderen in der Gesellschaft isoliert seien. Darunter litt er massiv, denn er wollte wahrgenommen werden. So suchte Thomas Mann gezielt Themen, in die er Autobiografisches einbringen konnte. Besonders deutlich wurde das in seiner 1912 erschienenen Novelle »Der Tod in Venedig«.[19]

Heinrich Mann dagegen orientierte sich an Frankreich. Begeistert von den Werken Guy de Maupassants, Gustave Flauberts und Honoré de Balzacs entwickelte er das Konzept des Gesellschaftsromans. Die Übernahme französischer Schreib- und Darstellungsmuster war für Heinrich jedoch weit mehr als eine Formalität. Sie eröffnete ihm, dem geistig Heimatlosen, die Möglichkeit, an eine nationale Kultur anzuschließen und der deutschen Gegenwart aus dieser Perspektive ein gesellschaftskritisches Programm gegenüberzustellen. Schon 1904 bekannte er sich öffentlich zu Frankreich und würdigte dessen demokratische Gesellschaftsform.[20] Auch Émile Zola, der skandalumwitterte Bestsellerautor, prägte ihn. Zunächst waren es biografische Ähnlichkeiten, die Heinrichs Sympathie für Zola begründeten – in erster Linie ihrer beider unbürgerlicher Lebenswandel, der Zola zwei Kinder aus einer außerehelichen Beziehung beschert hatte und bei Heinrich Mann in einer gelösten Verlobung und einer späteren Scheidung resultierte –, sodass von einer habituellen Übereinstimmung zwischen beiden gesprochen werden kann.[21] Darüber hinaus verband sie aber auch die Sozialkritik, die ihr jeweiliges Werk kennzeichnete.

Die gegensätzlichen Literaturkonzepte der Brüder Mann entwickelten sich analog zu ihrer Position im literarischen Feld. Während der Bildungsroman Thomas Manns seine Nähe zum literarischen und sozialen Establishment veranschaulichte, entsprach Heinrichs Gesellschaftsroman, in dem Außenseiter wichtige Rollen spielten, seiner eigenen Position am Rande der Gesellschaft und des Literaturbetriebs. Heinrichs Werk war gegen die wirtschaftliche und politische Elite des Kaiserreichs gerichtet. Präzise beschrieb er die Folgen der sozialen Marginalisierung der literarischen Intelligenz, die zur Entfremdung von Geist und bürgerlichem Kapitalismus führte. Folgerichtig verlangte er eine Literatur, welche die bürgerlichen Wertvorstellungen hinterfragte. Seine Gesellschaftsromane waren kritische Spiegelbilder ihrer Zeit, ganz im Stil von Zola, der in seinem Werk den Schwachen und Ausgestoßenen eine Stimme gegeben und deren Lebensumstände dargestellt hatte. Das war Antibürgerlichkeit als Programm. Schon in den 1890er-Jahren wandte sich Heinrich Mann – beeinflusst vom französischen Realismus – gesellschaftskritisch-satirischen Erzählungen zu. Mit seinem Roman »Im Schlaraffenland«, erschienen 1900, begann seine sozialkritische Auseinandersetzung mit dem Deutschen Kaiserreich.[22]

Sosehr sich die Literaturkonzepte beider Brüder unterschieden, so unvereinbar waren auch ihre Auffassungen von der gesellschaftlichen Rolle des Schriftstellers. In seinem überaus wirkungsvollen Essay »Geist und Tat« hatte Heinrich Mann 1910 die Forderung nach sozialer Verantwortung des Dichters erhoben. Dieser Text gilt als Gründungsschrift des Expressionismus sowie als Manifest des politisch engagierten Intellektuellen.[23] Ein Jahr später sollte eine kunsttheoretische Abhandlung von vergleichbarem Einfluss erscheinen: Wassily Kandinsky, fünf Jahre älter als Heinrich Mann und seit 1896 in der bayerischen Hauptstadt lebend, wo er 1909 die »Neue Künstlervereinigung München« mitgegründet hatte, veröffentlichte 1911 seine Schrift »Über das Geistige in der Kunst«.[24] Gemeinsam mit den Münchener Malern Franz Marc und Alexej von Jawlensky gehörte er dem »Blauen Reiter« an, einer Vereinigung, die Musiker, Dichter und Künstler zusammenbrachte und seit 1912 einen Almanach gleichen Namens herausgab. Kandinskys Aufsatz wurde zur wesentlichen Grundlage der sich entwickelnden abstrakten Malerei.[25]

Seit der Neugründung der Münchener Kunstakademie 1885 hatte sich die bayerische Hauptstadt zu einem geistig-kuturellen Zentrum entwickelt, das bedeutende Künstler wie Wilhelm von Kaulbach, Franz von Lenbach und Franz von Stuck prägten. Die Boheme um Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee und Kandinsky ging in den Schwabinger Künstlerlokalen ein und aus. München leuchtete tatsächlich. Dennoch blickte Heinrich Mann lieber nach Paris. In der kulturellen Tradition des westlichen Nachbarlandes sah er sein Ideal des in die Politik eingreifenden Literaten verwirklicht. Französische Schriftsteller, schrieb er, hätten das Volk zur Demokratie erzogen, indem sie »der bestehenden Macht entgegentraten«.[26] Damit spielte Heinrich auf Émile Zolas persönlichen Einsatz in der Dreyfus-Affäre an, der 1898 durch den Artikel »J’accuse …!« (Ich klage an …!) auch im Deutschen Reich bekannt geworden war. Zolas Engagement für den zu Unrecht wegen Spionage für Deutschland verurteilten Alfred Dreyfus hatte Heinrich beeindruckt und ihn von der Notwendigkeit des intellektuellen Eingreifens in das politisch-soziale Geschehen überzeugt.[27]

Thomas Mann betrachtete sich dagegen als verantwortungsfreien Künstler. Nach dem Abschluss seines Romans »Königliche Hoheit« entwarf er Anfang 1909 eine Antithese zu Heinrichs Essay »Geist und Tat« und entwickelte das Gegensatzpaar »Geist und Kunst«, so der Titel seiner unveröffentlichten Erwiderung. Thomas schrieb, dass der Geist sich in analytischer Literatur ausdrücke, während Kunst schöpferische Dichtung sei. Seit 1912 trat er immer stärker für eine spezifisch irrationale Kunst ein, die der intellektuellen Reflexion nicht bedürfe.[28] Mit Blick auf Heinrich kontrastierte Thomas den schnell schreibenden Literaten mit dem schöpferischen Dichter, der sich auf etwas Gegebenes – im Idealfalle die Wirklichkeit – stütze und dieses kreativ gestalte. Beeinflusst von Nietzsche entwickelte er eine Art kategorischen Ästhetizismus, der an den Künstler die Forderung stellte, sich über gesellschaftliche Ordnungen zu erheben, um dem Geist absolute Freiheit zu lassen. So verstanden war der Künstler unpolitisch und losgelöst von jeder sozialen Verantwortung. Gleichwohl empfand Thomas Mann, gerade im Vergleich zu seinem Bruder, einen Zwiespalt zwischen gesellschaftlicher Aufgabe und freiem, ungebundenem Schaffen.[29] Die Auseinandersetzung zwischen dem Rationalen und dem Wild-Schöpferischen, dem – in Nietzsches Terminologie – Apollinischen und Dionysischen durchzieht sein Werk, insbesondere seine 1912 erschienene Novelle »Der Tod in Venedig«.[30]

Treffend analysierte der Schriftsteller Erich Mühsam 1914 die verschiedenen Perspektiven der Brüder Mann. Thomas verarbeite seine Stoffe ästhetisch, Heinrich seine Themen emotional. Deshalb bevorzuge das...

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