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E-Book

1966

Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsein erweiterte

AutorFrank Schäfer
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783701745272
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
1966 ist das Jahr, in dem die Welt Abschied von gestern nimmt. Mit der Eröffnung des 'Psychedelic Shop' am 3. Januar 1966 in San Francisco beginnt nicht nur popkulturell eine neue Epoche. Ken Kesey und die Merry Pranksters touren durch die Staaten und veranstalten öffentliche LSD-Happenings. Sogar die Beatles sind auf LSD und mittlerweile bekannter als Jesus. Kontroverser auch. Im Londoner UFO Club heben Pink Floyd ab. Captain Kirk, Mr. Spock und Pille ebenfalls. Der Kalte Krieg wird ins Weltall verlegt und die Studenten bewegen sich, nicht zuletzt auf der Straße. Unterdessen wird ein weißer Wal im Rhein gesichtet ... Frank Schäfer erzählt collagenartig von dem Jahr, in dem die lange, steifleinerne Nachkriegszeit ein Pink-Paisley-gemustertes Ende findet.

Frank Schäfer geboren 1966, lebt als Schriftsteller, Musik- und Literaturkritiker in Brauschweig und schreibt für 'Rolling Stone', 'Neue Zürcher Zeitung', 'taz', 'Titanic', 'konkret' und andere. Neben Romanen und Erzählungen sind diverse Essaysammlungen und Sachbücher, vor allem zur Literatur und Popkultur, erschienen.

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Leseprobe

No-1-Hits Januar


Deutschland


The Rolling Stones: Get Off Of My Cloud (1.1.–14.1.)
Drafi Deutscher: Marmor, Stein und Eisen bricht (15.1.–31.1.)

England


The Spencer Davis Group: Keep On Running (1.1.–20.1.)
The Overlanders: Michelle (21.1.–27.1.)
Nancy Sinatra: These Boots Are Made for Walkin’ (28.1.–17.2.)

USA


Simon &Garfunkel: The Sound Of Silence (1.1.–7.1.)
The Beatles: We Can Work It Out (8.1.–21.1.)
Simon &Garfunkel: The Sound Of Silence (22.1.–28.1.)
The Beatles: We Can Work It Out (29.1.–4.2.)

Woolworth für Acid Heads Die Brüder Ron und Jay Thelin kennen die Wäscherei an der Ecke Haight und Ashbury Street gut. Sie sind hier aufgewachsen und ihr Vater leitet das Woolworth-Kaufhaus auf der anderen Straßenseite. Im Jahr zuvor haben sie erstmals einen mit Acid beträufelten Zuckerwürfel vom Szenechemiker Owsley Stanley III gelutscht, seitdem haben sie den Wunsch, allen davon zu erzählen. Und noch mehr als das. Der psychedelischen Revolution zum Sieg zu verhelfen. Denn eins ist ihnen aufgegangen beim Lutschen: Wenn man die Menschen schon nicht mit Vernunftgründen davon überzeugen kann, dass Kriege sinnlos sind, dann hilft nur noch das LSD-Sakrament.

Die Marketender-Mentalität des Vaters steckt ihnen aber ebenfalls in den Genen. Also kratzen Ron und Jay ihre Ersparnisse zusammen und mieten die mittlerweile leer stehende Wäscherei, Haight Street 1535, um dort am 3. Januar 1966 den Psychedelic Shop zu eröffnen. Gewissermaßen das Woolworth für Acid Heads.

Die Wände sind mit Leinentüchern und Kunsthandwerk behängt. Es riecht gut. Und die Produktpalette der Gebrüder Thelin ist recht breit gefächert. Zigarettenpapier, freaky Kleidung, Tücher, Glocken, Glasperlen und Accessoires, Flöten, Poster, Schallplatten, kleine Zangen zum Halten von Joint-Kippen, Fanzines und Bücher über Drogen, Bewusstseinserweiterung, orientalische Weisheitslehren – sie haben alles, was der Hippie zur täglichen Feier des Lebens eben so benötigt. Hier bekommt man auch die Karten für die Happenings im Fillmore Auditorium und im Avalon Ballroom.

Der Psychedelic Shop ist viel mehr als ein Laden – er ist eine Mischung aus Kulturzentrum, Informationszentrale, Beratungsstelle und Kreativspielplatz. Und bald nachdem er geöffnet hat, ändert sich auch das Gesicht der Straße. Die billigen Mieten sprechen sich herum. Das sich prächtig entwickelnde Hippie-Business siedelt sich in der Nachbarschaft an. Der Klamottenladen In Gear etwa, Wild Colors, ein Geschäft, in dem lokale Kunsthandwerker ihre Töpfereien und Makramee-Eulen feilbieten, Xanadu, ein Lederfachgeschäft, die Mnasidika Boutique, der I / Thou Coffee Shop. Love Burgers gibt es auch bald und das »San Francisco Oracle«, die Underground-Zeitung der Stadt. Das Viertel entwickelt eine ganz neue, ganz originäre Infrastruktur. In einem Tempo, das man den kommerzverachtenden Weltverbesserern nicht unbedingt zugetraut hätte.

Der Starkstrombrause-Trip Seit November 1965 schon kurven Ken Kesey und seine Hippie-Gang Merry Pranksters durch Kalifornien und Oregon, um den »squares« zu zeigen, was ein Haufen durchgeknallter Säureköpfe ist. Neal Cassady alias Dean Moriarty, der hyperaktive Held aus Kerouacs Beat-Bibel »On the Road«, findet sich ein und sofort seine Rolle als nimmermüder, rastloser Lenker von »Furthur« (!), dem umgebauten Schulbus, ihrem fahrenden Hauptquartier und mit allerlei audiovisuellem Freak-Schnickschnack aufgerüsteten Propagandazentrum. Denn die Pranksters haben eine Mission – sie wollen die Gesellschaft mit LSD erleuchten oder doch wenigstens ein bisschen aufmischen. Eine Band gibt es auch: The Warlocks liefern den Soundtrack zum Schlangentanz, in ein paar Wochen heißen sie Grateful Dead.

Acid Tests nennen die Merry Pranksters ihre schrillen öffentlichen Happenings, man kann auch ruhig Orgien dazu sagen, auf die nicht nur die Menschen in der Provinz mit Verstörung, Unverständnis und latenter Gewalttätigkeit reagieren. Selbst Acid-Apologeten wie Timothy Leary, Richard Alpert oder Owsley Stanley III, der als talentierter LSD-Koch für den nie versiegenden Nachschub sorgt, ist das zu viel Aufmerksamkeit. Noch haben die Behörden zwar keine Handhabe, das Gesetz, das LSD verbietet, muss erst noch verabschiedet werden, aber die Strafen für ein paar Gramm Marihuana sind drakonisch. Und man hat die Szene im Visier.

»Die Acid Tests waren einer jener seltenen Verstöße gegen die guten Sitten, einer jener Skandale, die einen neuen Stil oder gar eine neue Weltanschauung begründen. Alle tun aufgeregt gackernd ihre Besorgnis kund, knirschen wutschnaubend mit den Zähnen ob so viel schlechten Geschmacks – Unmoral! Vulgarität! Unverschämtheit! Unreife! Wahnsinn! Grausamkeit! Verantwortungslosigkeit! Rosstäuscherei! – und steigern sich dramatisch geifernd in eine solche Aufregung, dass sie die Geschichte nicht mehr loswerden. Sie wird zur perfekten Obsession«, schwärmt Tom Wolfe in seiner Mammutreportage »The Electric Kool-Aid Acid Test«, für die er Kesey und seine Mannen monatelang begleitet hat. Wolfe ist der kongeniale Biograf der »neuen Bewegung«. Er legt zwar zunächst noch Wert auf eine gewisse Distanz, gibt sich schon auf den ersten Seiten als Ostküsten-Dandy zu erkennen, den man »in der Welt der Heads« wegen seines »blauen Seidenblazers, einer überbreiten Krawatte voller Clowns und eines Paars … schwarzer … glänzender … Halbschuhe« eher milde belächelt, aber er wird immer mehr mit hineingezogen in diesen Irrwitz. Und auch seine Sprache, die zunächst noch um eine gewisse objektive Beschreibungsakkuratesse bemüht ist, geht bald mit auf den Starkstrombrause-Trip, wird ein Teil dieses Dauerdeliriums. Was dieses Buch leistet, ist nicht weniger als eine wohlwollende, aber letztlich ungeklitterte Innenansicht der frühen Hippiekultur mit all ihren Ritualen, Ideologemen und Phrasen, ihren halben Wahrheiten und Lebenslügen, den heute kaum noch fassbaren Freiheiten und vielfältigen Möglichkeiten, sich auszuprobieren.

»Die Acid Tests waren der epochemachende Markstein des psychedelischen Stils und praktisch all dessen, was man damit verbindet. Das soll nicht nur heißen, dass die Pranksters die Ersten waren, sondern darüber hinaus auch, dass sich alles Weitere in einer direkten Linie aus den Acid Tests ableiten lässt«, konstatiert er. Nicht zuletzt das große Ding der Stunde, das Mixed-Media-Konzept, sei »schnurgerade aus der bei Acid Tests üblichen Kombination von Licht- und Filmprojektionen, Stroboskopen, Bändern, Schwarzlicht und Rock ’n’ Roll« hervorgegangen. »Sogar Details wie die psychedelische Plakatkunst mit ihren Quasi-Jugendstilkringeln in Schrift und Design, ihren vibrierenden Farben, den Elektropastelltönen, dem spektralen DayGlo-Farbenspiel, das alles kam aus den Acid Tests.«

Ein bisschen vollmundig ist das allemal, es gibt schließlich auch in London und an der Ostküste Künstler, die auf Lysergsäure Kunst produzieren und die eingeübten Formate und Präsentationsformen transzendieren. Aber die Merry Pranksters mit ihrer Entourage sind schon sehr früh. Und ihre Überzeugungsarbeit trägt langsam Früchte. Im Januar des Jahres wird aus dem übersichtlichen Underground-Spaß erstmals ein Massenspektakel – das Trips-Festival.

Schon am 8. Januar 1966 findet im Fillmore, San Francisco, ein bunter LSD-Abend statt, der ein paar hundert Menschen anlockt und den die Polizei nur mit Mühe auflösen kann, weil sie nicht recht weiß, wo sie anfangen soll in diesem Durcheinander. Beinahe kommt es auch zum Eklat, als Pranksters-Vize Ken Babbs nicht weiß wohin mit seiner Virilität und sich den Uni(n)formierten in den Weg stellt.

Stewart Brand, ein Szene-Aktivist und Gründer der Organisation »America needs Indians«, der bald mit dem »Whole Earth Catalog« eine der essenziellen Publikationen zur Selbstverständigung der jungen Counterculture herausgeben wird, und der befreundete Künstler Ramon Sender planen etwas noch Größeres. Eine mehrtägige Messe, die einen Querschnitt der aktuellen Acid-Kultur zeigen soll. »Die Dinge haben sich geändert«, heißt es in ihrer Pressemeldung, »aus Feierlichkeiten in kleinen, sich selbst genügenden Gruppen sind nunmehr große Happenings geworden, bei denen das gesamte Publikum mitwirkt. Das gemeinsame Tanzen aller Anwesenden ist ein Teil der Darbietungen, und alle, die kommen, sind aufgerufen, sich so ekstatisch wie möglich zu kleiden und selbst Instrumente mitzubringen (Anschlüsse für Elektronikinstrumente sind vorhanden).«

Um die Behörden einzulullen, gibt man sich betont abstinent. Eine »psychedelische Erfahrung ohne Drogen« sei das Ziel, eine bloße Simulation des Trips also, allein mit einer opulenten Light-Show, Film- und...

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