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1972

Storys aus einem Jahr Popmusik - mit Statements von Joy Fleming, Hellmut Hattler, Michael Rother und Edo Zanki

AutorGerd Katthage
VerlagPosth Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl124 Seiten
ISBN9783981298765
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR

1972 - ein Jahr Popkultur. Ein kurzer Sommer, der selbstbewusst eine große Utopie verkündet: Rockmusik erlöst und erträumt eine andere, eine neue Welt. (Kraut)Rock ist Freiheit. Auf dem Höhepunkt seiner Bedeutung entdeckt der Rock zugleich die dunkle Seite seines traumhaften Sounds, ahnt ein tragisches Scheitern. 1972 - Storys, Anekdoten, Analysen, Fantasien und zahlreiche Bilder knüpfen die Textur einer popkulturellen Metapher: Kein Anlass für behagliche Nostalgie, sondern notwendige Erinnerung an ein außergewöhnliches Jahr, das einer Zukunft der Popkultur Modell stehen kann.

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Leseprobe

Pol(h)itparade


Vordergründig koppelt die LP mit dem Titel Pol(h)itparade Politik und Pop spielerisch und satirisch. Ausschnitte politischer Reden von Karl Schiller, Franz-Josef Strauß, Gerhard Schröder, Helmut Schmidt, Walter Scheel, Willy Brandt, Rainer Barzel und Herbert Wehner werden mit gepflegtem Jazz, Orchester oder Rockgitarren unterlegt, in Wiederholungsschleifen gesetzt, rhythmisiert, in Songstrukturen transformiert, mit Backgroundchor harmonisiert. Arrangiert hat dieses Sampling der Autor und Regisseur Volker Kühn. Für den Politsound zuständig ist der Jazzpianist Roland Schneider, der sich hier auch vom Gitarristen Volker Kriegel begleiten lässt.

Die Absicht der Pol(h)itparade ist klar: Ironische Verfremdung entlarvt entweder die leeren Sprachhülsen politischer Rhetorik oder entdeckt politische Parolen (Mehr Demokratie wagen oder etwas lernen, etwas leisten, gut verdienen) als poetische Songtitel. Der Volksvertreter ist nichts anderes als ein Schlagersänger, Agent der unterhaltenden Kulturindustrie.

Auf der Rückseite der Satire öffnet sich aber auch noch etwas ganz anderes: das Vergnügen an einem spielerischen, lustvollen Umgang mit Politik, die zum überraschenden Material für Popsongs avanciert. Die Pol(h)itparade balanciert auf der Schwelle zwischen Politisierung des Pop und Ästhetisierung der Politik. Sie bietet die Ausdrucksform für eine zentrale Frage der Zeit sowie einen schönen Begriff, der in seinem Wortspiel die Debatte zwischen politisierendem Pop oder rockiger Politik eröffnet.

Richard Nixons Lieblingsband


Richard Nixon ist ein feinfühliger Mensch und liebt Musik, die seine Seele zum Schwingen bringt. Als guter Amerikaner fühlt er sich erdigem Country ebenso verpflichtet wie virtuosem Jazz. Größen des Pop werden ins Weiße Haus eingeladen, um Nixons Hand zu schütteln, wie Johnny Cash, Ray Charles, Frank Sinatra, Elvis, Duke Ellington und die Carpenters. Die Carpenters sind Richard Nixons Lieblingsband. Ihre neue Platte, A song for you, die so gefühlvoll von der Liebe singt, hat es ihm besonders angetan. Immer wenn Richard Nixon den Hit im Radio hört, muss er für sich mitsummen: I'm on the top of the world lookin' down on creation …. Und manchmal fallen ihm dabei auch seine vaterlandsliebenden Piloten und ihr tapferer Einsatz in Vietnam ein. Am 1. August ist es soweit, sein Namensvetter Richard Carpenter und dessen 22-jährige Schwester Karen besuchen Richard Nixon im Weißen Haus. Man plaudert nett und posiert gemeinsam vor den Fotografen.

Dieses junge Geschwisterpaar singt die schönsten Lieder und gibt an Ort und Stelle für den Präsidenten eine Kostprobe seines Liedguts. Richard Nixon ist stolz auf diese jungen Leute. So wie sie sollen sie sein, seine Amerikaner. Karen spendet 100.000 Dollar für die Krebs-Forschung.

Die Carpenters im Weißen Haus (75)

Sie engagiert sich ehrenamtlich, hat was gegen Drogen, aber nichts gegen eine goldene Puderdose. Man muss nicht Hippie sein, wenn man jung ist. Das will Richard Nixon auch seinem Kollegen aus Deutschland, Willy Brandt, einmal zeigen und so werden Karen und Richard ein weiteres Mal im Weißen Haus singen. Am Tag der Arbeit, am 1. Mai 1973, lauschen Richard Nixon und Willy Brandt den schönsten Liebesliedern. Willy Brandt ist ein höflicher Gast

Allerdings weiß Richard Nixon nicht, dass Karens Magersucht genauso geheim gehalten wird wie die Friedensverhandlungen, die sein Außenminister Kissinger gerade mit dem Vietkong führt. Ebenso weiß er nicht, dass beide adretten Vorbilder so viele Pillen in ihre Körper werfen wie seine B52 Entlaubungsmittel in den vietnamesischen Dschungel. Irgendwann werden die süßlichen Harmonien diese Misstöne nicht mehr verdecken können. Hätte Richard Nixon das vorher gewusst. Später muss Richard Nixon zurücktreten, Richard Carpenter in die Entziehungskur und Karen Carpenter stirbt elf Jahre später an den Folgen ihrer Sucht.

Together – die Kraft der Solidarität


Man rückt zusammen. Wo Angst vor Isolation wächst, schnappt der Automatismus der sozialen Signalverarbeitung (Bolz 2010, 98) ein. Ein dunkler Gedanke kriecht ins Bewusstsein. Könnte es sein, dass der Schrei nach Freiheit jedes Einzelnen ein verzerrtes Echo zurückschickt, dass die Einsicht dämmert: Absolute Freiheit ist nur im Paket mit Einsamkeit zu haben. Doch der Gruppenkult beschwichtigt dumpfe Sorgen. Netzwerke, Communities, Solidargemeinschaften wuchern, wenn sich Vereinzelung als Preis der Freiheit erweist. Kommt zusammen Leute / Lernt euch kennen (Ton Steine Scherben, Keine Macht für Niemand). Zusammen zu meistern, was den Einzelnen überfordert, ist der Wunsch der Stunde. Der Ruf Come Together (King Ping Meh) erfordert ein zehnminütigen Beatles-Cover, um zu zeigen, wie wichtig er ist. Da kann es auch schon mal egal sein, warum man sich zusammenschließt, der Ruf Join Together begründet sich offenbar selbst: We don't move in any 'ticular direction / And we don't make no collections / I want you to join together with the band (The Who). Was man dann so zusammen anstellt, spielt eine untergeordnete Rolle, allein das Zusammensein zählt. Hey you, we could do it together (Walpurgis, Hey You, Over There). Es kann jedoch auch eine leichte Drohung mitschwingen, die vor einsamen und individuellen Wegen warnt. Nur gemeinsam könnt ihr's schaffen / euch zu helfen, denn sonst ist's zu spät (Necronomicon, Tips zum Selbstmord).

Jane und Golden Earring titeln ihre LPs schlichtweg Together. Alles scheint damit gesagt. Al Green und Argent präzisieren die plakative Aufforderung nur unwesentlich: Let's Stay Together sagt nicht mehr als All Together Now. An sozialen Zusammenhalt zu appellieren, verschleiert gelegentlich das dann doch sehr private Begehren, eine Frau abzuschleppen, das sich zudem als gutes Geschäft erweist. Us being together is always a very big deal to me (David Cassidy, Being Together). Schon zwei erfüllen das Zusammensein: Together just we two (Emergency, Happiness). Aber erst, wenn der Ruf nach Zusammenkunft als Solidarität sich verklärt, wird's richtig gefährlich. Jetzt entfacht man die Kraft der Solidarität (Franz Josef Degenhardt). Plötzlich gilt eine einfache Gleichung: Aus der Einsicht, was euch formt, müsst ihr euch mitgestalten, folgt die Konsequenz, drum müsst ihr euch zusammentun, wo's immer geht (Eulenspygel). Solidarität heißt die Zauberformel der Klassenkampf-Romantik, die man im Refrain besingt: Wir halten zusammen, zeigen Solidarität, kämpfen gegen alles, was dem Fortschritt im Wege steht. (Lokomotive Kreuzberg) Das WIR schreibt man groß. Es überragt jenes Wir, mit dem die Schlagerwelt lockt und Drafi Deutscher eine fröhliche Gesangstruppe benennt. Aber Reden vom Zusammenhalt reicht nicht. Über ein Karlchen in der Badewanne, das nur davon redet,

macht sich Liedermacher Arno Clauss lustig. So kann das nicht weitergeh'n / denn so ist das Scheiße / wenn wir alle zusammensteh'n / dann wird's auch anders, weißte. Lieder singen ist das eine, zusammen handeln das andere. Das Solidaritäts-WIR definiert sich politisch kämpferisch.

Wir schließen uns zusammen und nehmen unsere Sache in die Hand. Wir sind solidarisch mit unseren Freunden in jeder Schule, in jeder Fabrik. (Hotzenplotz)
Ausschnitt aus der Coverrückseite von Hotzenplotz Songs aus der Show (76)

In der Gruppe ist das bedrohte Ich gut aufgehoben. Die Gruppe erhöht die eigene Freiheit zu Größerem und alles ergänzt sich dann zum gemeinsamen Ziel (Komkol, Biene und Stachelschwein). Freunde hocken zusammen, weil sie auf einen großen gemeinsamen Feind blicken. Der einfachste Begriff des Politischen setzt seine Erfolgsgeschichte fort.

Wenn du nachdenkst, was es ist, was dich frustriert,
wenn dir aufgeht, dass nach dem System ausgebeutet wird,
dann erkennst du, wer er ist,
dein Feind, der Kapitalist,
dein Feind, der Kapitalist. (Hotzenplotz)

Nur gegen solidarische Freunde, die zusammen denken und handeln, hat DER Kapitalist keine Chance. Das Arme Unternehmerlein ahnt schon, was auf ihn zukommt. Der Kapitalist ist manchmal gar nicht so blöd, er wittert die Gefahr (Hotzenplotz), und die Solidargemeinschaft feiert ihren Sieg avant la lettre. Wir wollen nicht mal, dass du blutest, / nur dass du dich beim Abhauen sputest (Hotzenplotz).

Der Kapitalist, der Feind, ist nicht zu beneiden. Allein, selbstständig, selbstverantwortlich muss er in eigener und einsamer Freiheit immer große Dinge tun, immer nur entscheiden (Hotzenplotz). Ganz anders die solidarischen Freunde, die sich in der Freiheit von der eigenen Meinung auf die enteignete Fabrik freuen.

Wie Fritz Rau uns einmal einer Illusion beraubte


Die Les Humphries Singers setzen sich zusammen aus Les und Humphries oder, wie Fritz Rau es sagt, aus Spontaneität und Disziplin.

Armes Unternehmerlein? Wir werden 'ne ganze Masse dazutun müssen! Ausschnitt aus der Coverrückseite...

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