Das erste Kapitel des theoretischen Teils ist dem zentralen Begriff der Untersuchung, der nationalen Identität, gewidmet. Um den Begriff zu definieren, spaltet ihn dieses Kapitel zunächst in seine zwei Bausteine auf: In Kapitel 2.1 und 2.2 wird der Begriff der Nation definiert, seine Verwendung, Abgrenzung und Bedeutung für die Arbeit erläutert. In Kapitel 2.3 soll es um den Begriff der Identität und speziell um kollektive Identität gehen. Am Ende des zweiten Kapitels werden die beiden Begriffe Nation und Identität wieder zusammengesetzt, um den Begriff der nationalen Identität zu definieren und seine weitere Verwendung in dieser Arbeit zu bestimmen.
Die moderne Bedeutung des Begriffes der Nation (ital.: nazione) verbreitete sich erst vor ungefähr 200[5] Jahren in der Zeit der Aufklärung (vgl. Anderson 2005: 20). Die Wahrnehmungsformen haben sich seit dem 18. Jahrhundert stark verändert: „Früher [...], als Staaten durch Zentren definiert wurden, waren die Grenzen durchlässig und unklar“ (Anderson 2005: 27). „Noch 1914 stellten Dynastien die Mehrheit der Mitglieder des politischen Weltsystems“ (ebd.: 29). Das Römische Reich sowie das chinesische oder das ägyptische waren keine Nation, genauso wenig wie das Reich Alexanders des Großen (vgl. Renan: Was ist eine Nation?[6]). Heute dagegen ist die Welt in fast 200 Länder unterteilt, von denen 193[7] dem Verbund der VN angehören; diese 193 Mitgliedsstaaten werden folglich alle als Nationen oder Nationalstaaten angesehen. Auffällig ist, dass in der Charta der VN schon im ersten Satz sowohl von Nationen als auch von Völkern die Rede ist.[8] Man sieht also, dass selbst die VN die Begriffe Nationen, Nationalstaaten, Völker nicht akkurat voneinander unterscheidet. Um begriffliche Klarheit zu schaffen, wird der Begriff der Nation deshalb im Folgenden von zwei Seiten beleuchtet: in seiner Verwendung als politischer Begriff und in seinem Gebrauch in der Kulturwissenschaft. In den Kapiteln 2.1 und 2.2 wird zudem deutlich werden, warum auch der Begriff des Nationalismus eine wichtige Bedeutung für die kulturwissenschaftliche Verwendung des Begriffs der Nation hat.
Der böhmische Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch definierte Nation ganz schmucklos als „ein Volk im Besitz eines Staates“ (zit. nach Jansen/Borggräfe 2007: 83). Deutsch beschäftigte sich u. a. mit der Bildung von Nationen. Laut Deutsch entsteht eine Nation durch sechs verschiedene Prozesse, die zeitgleich ablaufen (vgl. ebd.: 83):
1. Entstehung von Ländern, einer nationalen Wirtschaft und Infrastruktur,
2. Bildung einer offiziellen Nationalsprache,
3. Durchsetzung dieser Sprache durch nationalistische Intellektuelle,
4. Ausweitung des Gemeinschaftsgefühls auf Grundlage der gemeinsamen Kommunikation und der gemeinsamen Erfahrungen,
5. Konstituierung des Volkes basierend auf dem Gemeinschaftsgefühl,
6. politischer Aufbau von Institutionen zur Bildung eines Nationalstaats.
Man kann also zusammenfassend festhalten, dass eine Nation laut Deutsch in einem Land angesiedelt ist, das eine nationale Sprache, Politik und Wirtschaft hat. Interessant ist, wie Deutsch Nationalstaat (ital.: Stato nazione) und Volk (ital.: popolo) in seine sechs Prozesse einordnet: Der Nationalstaat wird durch den Aufbau eines gemeinsamen politischen Systems in Form von Institutionen gebildet. Das Volk ist nicht synonym zum Begriff Nation zu verwenden, sondern wird durch das Gemeinschaftsgefühl gebildet, das wiederum u. a. durch gemeinsame Erfahrungen entsteht. Volk wie Nationalstaat könnte man also als Grundlage der Nation ansehen, beide sind am Prozess der Nationenbildung beteiligt, aber sie selbst wiederum bilden sich erst während des Prozesses. Volk, Nation und Nationalstaat sind bei Deutsch also keineswegs gleichzusetzen, sondern stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander. Man erkennt schon bei den ersten zwei Punkten, dass dieses Modell stark verallgemeinert und nicht auf alle Nationen anwendbar ist. Die Schweiz ist z. B. eine Nation mit vier Nationalsprachen, genauso muss eine Nation nicht unbedingt deckungsgleich mit einem Land sein.
Benedict Anderson definiert die Nation als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“ (2005: 15; Hervorhebungen von der Autorin dieser Arbeit eingefügt). Mit „vorgestellt“ meint Anderson, dass sich die Mitglieder der Nation die Gemeinschaft nur vorstellen, da sich die meisten Mitglieder nie begegnen, sich aber trotzdem miteinander als Nation identifizieren. „Begrenzt“ bedeutet, dass man sich die Nation als innerhalb ihrer territorialen Staatsgrenzen liegend vorstellt. Anderson fügt hinzu, dass die heute bekannten und als normal erachteten Grenzen aus dem Imperialismus heraus entstanden und rein willkürlich festgelegt wurden (vgl. ebd.: 116).
Der Begriff Nationalstaat darf nicht verwechselt werden mit dem Nationalitätenstaat[9], der sich aus mehreren Nationen zusammensetzt (vgl. Brockhaus 1991: 363); seine Staatsbürger gehören also verschiedenen Nationalitäten[10] (ital.: nazionalità) an. In einem Nationalstaat lebt im Vergleich zum Nationalitätenstaat ausschließlich eine Nation, deren Bürger einer Nationalität angehören. Anderson machte außerdem darauf aufmerksam, dass die Nationalität erst mit Gründung der Nationalstaaten aufkam:
„Welche Nationalität sollte man den Bourbonen, die in Frankreich und Spanien [...] und den Wittelsbachern, die in Bayern und Griechenland herrschten, zuschreiben?“ (2005: 88)
Die Überlegung ist so einfach wie logisch: Ohne Nation gab es keine Nationalität, es konnte folglich auch keine Identifikation mit der Nation geben. Im Falle Italiens identifizierten sich Menschen, die vor 1861 auf der italienischen Halbinsel lebten, auch nicht mit der italienischen Nation, weil es sie schlichtweg noch nicht gab.
Christian Bala spricht dagegen nicht vom Nationalstaat, sondern von Staatsnation, die sich von Deutschs Definition nur unwesentlich unterscheidet: Bala meint, dass ein Staat auf der Basis einer Volksnation oder einer Kulturnation[11] (siehe auch Kapitel 2.2) errichtet werden könne.
In diesem Kapitel wurde bisher ein Modell zur Nationenbildung und der Zusammenhang zwischen Nation, Volk und Nationalstaat bzw. Staatsnation vorgestellt. Außerdem wurde die Annahme dargelegt, dass eine Nation auf einem Volk aufbaue. Im nächsten Abschnitt soll es um den Zusammenhang zwischen Nationalismus und Nation gehen.
Ernest Gellner definiert den Begriff der Nation völlig anders, nämlich über den Nationalismus (ital.: nazionalismo). So schreibt er (zit. nach Jansen/Borggräfe 2007: 89):
„Nationen können nur im Zeitalter des Nationalismus[12] definiert werden. [...] es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt.“
Es ist seiner Meinung nach also nicht das Volk, das das gemeinsame Bestreben hat, ein Nationalstaat zu werden, sondern es ist laut Gellner der politische Wille, der Nationalismus, der erst Nationen entstehen lässt.[13] An dieser Stelle wird deutlich, warum die politische Definition auch für eine kulturwissenschaftliche Arbeit von Bedeutung sein kann: Laut Gellner ließ erst die Politik in Form des Nationalismus die Idee der Nation und schließlich die Nation selbst entstehen. Den Höhepunkt der Bildung von Nationalstaaten erreichte die Weltpolitik endgültig „[n]ach den Umwälzungen des Zweiten Weltkriegs“ (Anderson 2005: 115). Anderson sagt außerdem, dass sich Nationen als Erfindung mit dem Kapitalismus oder Marxismus gleichsetzen lassen: Sie seien mentale Erfindungen, die sich nicht patentieren ließen. Das Modell der Nation stand „dem geistigen Diebstahl offen“ (ebd.: 156) und konnte sich so als ein Trend der modernen Politik verbreiten.
Zygmunt Bauman zitiert in seinem Aufsatz Soil, blood, identity (1992: 676) Nietzsche, der sagte, dass eine Nation vielmehr eine res facta als eine nata sei. Er meint damit, genauso wie Gellner, dass Nationen erst durch den Trend des Nationalismus zur Nation wurden und nicht vom Volke her entstanden. Bauman meint außerdem, dass es wichtig sei, das Phänomen des Nationalismus zu erklären, wenn es für die Definition von Nation so bedeutend ist: „In the course of modern history, nationalism played the role of the hinge fastening together state and society (represented as, identified with, the nation)”[14] (ebd.: 683). Auch Eickelpasch und Rademacher (2013: 73) beziehen sich auf die Interdependenz zwischen Nationalismus und Staat und schreiben zusammenfassend, dass sich „[s]eit der Moderne[15] Nationalismus ohne Staat als ebenso schwach [erwiesen hat] […] wie Staatenbildung ohne Nationalismus“. Beide Phänomene seien also nur gemeinsam beständig.
Vom Nationalismus abzugrenzen sind die beiden Begriffe Patriotismus (ital.: patriottismo) und Chauvinismus (ital.: sciovinismo). Patriotismus, abgeleitet vom lateinischen Begriff patria, bedeutet Liebe zum Vaterland und auch Gehorsam gegenüber demselben (vgl. duden online/Vocabolario Treccani online[16]). Im Vocabolario Treccani liest man des Weiteren, dass die Ideologie des Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert unter anderem von einem „patriottismo aggressivo“[17] angeleitet wurde. Chauvinismus wird in der Enciclopedia Treccani als „[n]azionalismo esclusivo, esaltato e spesso...