Einleitung
Wer immer sich mit dem deutsch-russischen bzw. dem sowjetischnationalsozialistischen Krieg beschäftigt, muß sich den besonderen Problemen der Quellenlage stellen, die dort gegeben sind. Es sind, um es kurz zu sagen, Probleme, die sich aus dem extremen Ausmaß an Desinformation und Fälschung ergeben, das hier vorliegt und sich durch die Dokumente und die Zeugenaussagen zieht. Gelogen und gefälscht wurde und wird natürlich in jedem Krieg, während der Kampfhandlungen2 und auch danach. Wenn es um die dauerhafte Deutung, die Schuldzuweisungen an die gegnerische Politik oder die Diffamierung einzelner Personen geht, dann gibt es insbesondere in der Moderne offenbar keinen Friedenszustand. Für den vorliegenden Fall kam noch die Besonderheit hinzu, daß dem „heißen“ Krieg nicht nur kein Friedenszustand, sondern ein jahrzehntelanger Kalter Krieg folgte, der nicht zuletzt auf deutschem Boden ausgetragen wurde. Er drehte sich unter anderem um das Selbstverständnis der westdeutschen Republik, in dem die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit mit den Jahren eben nicht, wie zu erwarten wäre, eine geringere, sondern etwa seit Ende der 1950er eine immer größere Bedeutung gewonnen hat. Letzteres erhielt durch die Vereinigung zweier deutscher Teilstaaten 1990 einen neuen Schub und hält bis heute, dies wird im Jahr 2015 geschrieben, ungebrochen an. Das läßt sich etwa an den Bemühungen der bundesdeutschen Justiz ablesen, teilweise fast hundertjährige Personen unter Gesichtspunkten anzuklagen, die Jahrzehnte vorher noch als verjährt oder überhaupt nicht strafbar gegolten hätten.
Nehmen wir ein bekanntes Beispiel für systematische Totalfälschung von sowjetischer Seite: den Fall Katyn. Daß in der Nähe dieses russischen Ortes von sowjetischer Seite mehrere zehntausend polnische Offiziere ermordet wurden, kann heute als Allgemeinwissen historisch gebildeter Personen gelten. Deutlich weniger verbreitet, aber auch einigermaßen bekannt, ist die Tatsache, daß die Sowjetunion versucht hat, dieses Verbrechen zunächst als deutsches Verbrechen darzustellen und diese Version auch im Nürnberger Hauptprozeß gegen die überlebenden Teile der deutschen Staatsführung vorgebracht hat. Fast völlig unbekannt und jedenfalls gänzlich unterschätzt ist allerdings im weiteren das Ausmaß der dafür gefälschten Dokumente. Man brachte in Nürnberg und auch in einem Prozeß in Minsk, bei dem deutsche Soldaten verurteilt wurden, nicht einfach nur die bloße Behauptung des Verbrechens vor. Man ergänzte diese Anklage durch die Fabrikation von Fotos, Dokumenten, Gutachten und Zeugenaussagen, die allein in den gedruckten Akten des Nürnberger Prozesses mehrere Dutzend Seiten einnehmen. Darin enthalten waren auch gefälschte Postkarten und Briefe, mit denen der Beweis angetreten werden sollte, es hätten die 1940 erschossenen polnischen Offiziere bis zum Beginn des deutschen Angriffs im Sommer 1941 noch ihren Familien geschrieben und demnach noch gelebt. Die Bereitschaft der sowjetischen Führung, diese Dokumente vorzulegen, wirft ein negatives Licht auch auf andere strittige Fragen.
Wer es trotzdem unternimmt, zu einem Aspekt der deutschen Besatzungspolitik eine belastbare Darstellung zu erarbeiten, wie in diesem Fall zum Einsatz der 707. Infanteriedivision und ihres Kommandeurs Bechtolsheim, der muß dies berücksichtigen. Diese Feststellung erfordert ein gesundes Mißtrauen gegenüber Dokumenten und Aussagen jedweder Art. Als selbstverständliche Zurückhaltung scheint dies derzeit allerdings häufig nur noch gegenüber den Zeugenaussagen deutscher Militärangehöriger oder sonst in der UdSSR eingesetzter Personen Eingang in die Forschung zu finden. Es sollte aber ebenso für Dokumente gelten, die aus der früheren Sowjetunion stammen, auch für scheinbar deutsche Dokumente aus sowjetischer Herkunft. Brachte die westliche Geschichtsschreibung und auch die bundesdeutsche Justiz diesen Dingen aus dem „Osten“ in der Nachkriegszeit zunächst fast absolute Ablehnung entgegen, so sind beide im Lauf der Zeit in Richtung eines fast ebenso absoluten Vertrauens gekippt. Das gilt häufig auch für die Zuspitzung einzelner Sätze aus Feldpostbriefen oder von protokollierten Aussagen vor der Justiz. Michael Wildt hat dies bereits im Jahr 2000 mit Blick auf die damalige Holocaustforschung kritisch vermerkt:
„Zitate aus Vernehmungsprotokollen werden zum Beispiel wie authentische Wiedergaben des Gesagten behandelt, völlig unbekümmert darüber, daß es sich in aller Regel um die Mitschrift eines Justizangestellten handelt, der die Aussagen des Vernommenen nach bestem Wissen und Können zusammenfaßt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die Vertrauensseligkeit, mit der Historiker mit Vernehmungsprotokollen umgehen, muß etwas mit der generellen Schriftgläubigkeit dieser Zunft zu tun haben, die stets in Gefahr steht, das Geschriebene mit dem Wirklichen zu verwechseln.“3
Nun kann Geschichtswissenschaft bekanntlich nicht anders, als sich auf das Geschriebene zu stützen. Ihr Zugriff endet nämlich exakt dort, wo Geschriebenes nicht vorhanden ist und sie muß dann der Archäologie oder anderen Wissenschaften Platz machen, spekulieren oder schweigen. Dessen ungeachtet trifft es sicher zu, daß die Begeisterung über den Zugriff auf schriftliche Quellen, die der Historiker dann im Idealfall noch als „neu“ präsentieren kann, oft den quellenkritischen Blick trübt.
Für die Wehrmachtsdebatte spielte das insofern eine allgemeine Rolle, als in den neueren Darstellungen zahlreiche Aussagen sowjetischer Provenienz eine tragende und oft dramatisierende Rolle spielen. Für den speziellen Fall der 707. Inf.-Div. gilt dies zwar nur mit Einschränkung. Hier sind es Dokumente und Aussagen deutscher Herkunft, die im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Eine wesentliche Ausnahme stellen allerdings die sowjetischen Gerichtsprotokolle und –urteile dar, in denen in der Nachkriegszeit die Taten jener litauischen Hilfstruppen abgeurteilt wurden, die zeitweise im Stationierungsgebiet der Division agierten. Sie geben indirekt einen Eindruck dessen, wofür die 707. Inf.-Div. verantwortlich war, und wofür nicht. Allerdings steht auch hier fest, daß die Prozesse und die Dokumenteneditionen in Bezug auf die möglichen Verbrechen litauischer Einheiten unter den Bedingungen des Kalten Krieges entstanden. Sie waren als Waffe in dieser Auseinandersetzung gedacht. In dem Monumentalwerk von Christoph Dieckmann über diesen Komplex heißt es beispielsweise dazu:
„Innerhalb des sowjetischen Litauen kursierten zunächst nur Broschüren und Zeitungsberichte, die über die Arbeit der in ganz Litauen von 1944 bis 1947 eingesetzten ‚Staatlichen Außerordentlichen Kommission für die Feststellung der von den deutsch-faschistischen Eindringlingen und ihren Helfershelfern begangenen Verbrechen‘ und über die ersten Kriegsverbrecherprozesse berichteten. Erst seit 1960 publizierte eine 1958 eigens eingerichtete Abteilung der Akademie der Wissenschaften Dokumentensammlungen unter dem Titel ‚Faktai kaltina‘ (‚Fakten klagen an‘). Den Kontext bildete eine geschichtspolitische Kampagne während des Kalten Krieges, die litauische Bestrebungen nach Unabhängigkeit desavouieren und die USA sowie litauische Emigrantenkreise, in denen auch litauische Kriegsverbrecher unbehelligt lebten, anklagen sollte.“4
Dessen ungeachtet erachtet Dieckmann die erwähnten Faktensammlungen für authentisch. Daß die Staatliche Untersuchungskommission Tatsachen verfälschte und Vorsicht im Umgang mit ihren Materialien angebracht ist, weiß er zwar ebenfalls und schreibt das einige Seiten später in den Fußnoten.5 Die zusammengestellten Dokumenteneditionen seien jedoch „fast durchweg zuverlässig“, erklärt er abschließend.6 Man fragt sich natürlich spontan, wie es wirklich mit einer Edition steht, die auch mehrere Dokumente des Justiz-, bzw. Innenministeriums der „Republik Litauen“ enthält, die teilweise vom 17. August 1941 und sogar vom 16. September 1941 datieren, wenn Dieckmann selbst an anderer Stelle feststellt, die improvisierten litauischen Regierungsstellen seien von deutscher Seite schon am 5. August 1941 aufgelöst worden.7
Angesichts dieser Sachlage und dem Komplex „Verbrechen“, um den es hier geht, müssen auch die Methoden der historischen Forschung in diesem Fall angepaßt werden. Wer einzelnen Personen oder militärischen Einheiten ein Verbrechen vorwirft, muß dafür im Prinzip gerichtsfeste Beweise erbringen. Das ist normalerweise nicht das Amt des Historikers. Dennoch sind im Rahmen der Wehrmachtsdebatte häufig Vorwürfe erhoben worden, die eigentlich eine entsprechende Vorgehensweise erfordert hätten. So bleibt denn im Rahmen einer Untersuchung wie dieser, die sich damit beschäftigt, ob dies gerechtfertigt gewesen sei, der Rückgriff auf so etwas wie Ermittlungstätigkeit gegenüber den historischen Fakten und deren Präsentation nicht erspart. Insofern unterscheidet sich diese Studie von anderen, die der...