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E-Book

Abendmahl der Mörder

Kannibalen - Mythos und Wirklichkeit

AutorManfred Riße
VerlagMilitzke Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783861899709
Altersgruppe18 – 
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Im Dezember 2003 begann vor der 6. Strafkammer des Landgerichts Kassel der spektakuläre Prozess gegen den zur Tatzeit im Jahre 2001 41 Jahre alten Computertechniker A. M., besser bekannt als der 'Kannibale von Rotenburg'. Detailliert schildert er in der Hauptverhandlung die vor laufender Kamera festgehaltene Tötung und Schlachtung des 43-jährigen Berliner Ingenieurs J. B. 'Man kann es fast mit dem Abendmahl vergleichen', so seine Worte vor dem entsetzten Publikum. Das Thema Kannibalismus ruft bei den meisten Menschen Ekel, Angst und Widerwillen hervor, gleichzeitig ist es auch oft mit Sensationslust, Neugier und magischer Anziehung verbunden. Manfred Riße erläutert in seinem sorgfältig recherchierten und verständlich geschriebenen Buch den Fall A. M. vor dem Hintergrund historischer, psychologischer und anthropologischer Erkenntnisse über das Phänomen des Kannibalismus. Aus seiner beruflichen und wissenschaftlichen Erfahrung steuert er rechtmedizinische und kriminologische Detailinformationen zum Fall Rotenburg und zum Thema Kannibalismus bei, die Licht in dieses von Tabu, Gerüchten und Mythen verdunkelte Thema bringen. Ohne Sensationslust, sondern mit viel Sachverstand und Faktentreue ermöglicht er sowohl dem Fachpublikum als auch den interessierten Laien einen objektiven Blick auf einen der erschreckendsten Fälle der Kriminalgeschichte, aber eben auch auf einen der dunkelsten Aspekte des Menschseins, denn Rotenburg war kein Einzelfall ... Für Leser mit starken Nerven! Empfohlen ab 18 Jahren

Prof. Dr. med. Manfred Riße ist stellvertretender Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Gießen und war mit dem Fall A.M. als gerichtsmedizinischer Sachverständiger betraut.

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Leseprobe

Anthropophagie


Mythos und Fantasy


Blutsymbolik und Blutrituale


Das Töten und Schlachten eines Opfers ist stets ein unumgänglicher Teil des kannibalischen Aktes, und es ist unausweichlich mit »Blutvergießen« verbunden. In der vieldeutigen Blutsymbolik, die von MARTIN SCHRENK21 in der Einleitung zu einer »Einführung in die Geschichte der Hämatologie« paradigmatisch dargestellt und erörtert wird, bedeutet Blutvergießen und Blutverlust zum einen Verlust der Lebenskraft sowie Sterben und Tod, zum anderen aber auch Werden und Entstehung. Blut symbolisiert somit nicht nur Tod und Untergang, sondern ist gleichsam auch ein Symbol des Lebens (»Denn des Leibes Leben ist in seinem Blute, solange es lebt«; III. Moses 17, 14).

Schon seit jeher findet sich im Blut das Prinzip und die Kraft des Lebens, und das Herz, aus dem das Blut entströmt, stellt das Zentrum jedes tierischen und menschlichen Lebens dar. Lange Zeit glaubte man auch an dessen heilende Wirkung. Blut galt als Heilmittel bei »Morbus sacer«, der heiligen und zugleich verfluchten Krankheit Epilepsie, die früher auch Fallsucht genannt wurde. Nachschub holte man sich nicht selten bei öffentlichen Hinrichtungen, wenn das Fallbeil gerade den Kopf des Delinquenten vom Leib getrennt hatte und das Blut frisch aus den Adern hervorsprudelte. Dieses frische, noch wie lebendig sprudelnde Blut war so begehrt, dass es nicht selten zu tumultartigen Szenen unter dem Schafott oder auf dem Richtplatz kam. Gierig standen meist Frauen, bewaffnet mit Tiegeln, Töpfen und sonstigen Auffanggefäßen unter der Hinrichtungsstätte. Pöbeleien, Reibereien und Auseinandersetzungen mit der Wachmannschaft waren zwangsläufig die Folge am Ort der Hinrichtung. CHRISTIAN W. THOMSEN zitiert in diesem Zusammenhang einen Bericht von Albert Hellwig aus dem Jahr 1908, in dem es von Vorfällen aus nicht all zu langer Zeit u. a. heißt: »Bei der Hinrichtung einer Giftmischerin im Januar 1859 bei Göttingen durchbrach das Volk das von Hannoverschen Schützen gebildete Karree, stürzte sich auf das Schafott und suchte sich in den Besitz des Blutes der Hingerichteten zu setzen. In Hanau stürzten sich im Jahre 1861 bei der Hinrichtung eines Raubmörders viele Menschen auf das Blutgerüst und tranken von dem rauchenden Blute. Als 1864 in Berlin zwei Mörder hingerichtet wurden, tauchten die Scharfrichtergehilfen ganze Mengen von weißen Schnupftüchern in das Blut und erhielten für jedes zwei Taler.«22

Schrenk berichtet über Blut trinkende Hunde und Gladiatoren in römischen Arenen und zitiert in diesem Zusammenhang Plinius den Älteren: »Man trinkt gegen Fallsucht das Blut der Gladiatoren gleichsam aus lebendigen Bechern. Ja wahrhaftig, das warme und vom Odem beseelte Blut aus dem Menschen – und damit zugleich durch den Kuß aus den Wunden das Leben selbst einzusaugen, gilt als wirksames Mittel.«23 Schrenk sieht im Blutgenuss durch den »Kuß« eine sexuell getönte Handlung bzw. eine sexuelle Motivation, die sich zuweilen auch im verbrecherischen Kannibalismus wiederfindet.

Das menschliche Blut als Träger des Lebens ist im Alten Testament und in der spätjüdischen Theologie das Eigentum Gottes. Vergießen unschuldigen Blutes ist somit ein Verbrechen gegen Gott.24 Dieses Prinzip findet sich bereits in den Zehn Geboten. Als Fundament der christlichen Ethik sind diese in den alttestamentarischen Büchern Moses aufgestellt. Im 5. Gebot fließt der Blutmythos im Verbrechen quasi mit ein, wenn es heißt: »Du sollst nicht töten.« Allerdings sind diese biblischen Zehn Gebote, die allesamt mit »Du sollst nicht …« beginnen, lediglich als Gebote im Sinn von Forderungen zu verstehen. Das im Töten Ungesetzliche wird im 5. Gebot somit nicht mit einer juristisch verankerten Strafandrohung verbunden.

Unabhängig von religiösen Vorstellungen – auch im Hinblick auf Opferhandlungen – bedeutet »Blutvergießen« im weltlichen Sinn in der Regel »nach dem Leben trachten«. Töten und Morden sind mit Strafe belegt. Das Töten eines Menschen kann »Blutrache«, eine weitere Erscheinungsform der Blutsymbolik, nach sich ziehen. Auch diese findet bereits im Alten Testament Erwähnung. Eine der wohl bekanntesten Stellen aus der biblischen Talionsformel25, die unter den verschiedensten Aspekten an unterschiedlichen Stellen und in verschiedenem Wortlaut bzw. verschiedenen Übersetzungen des Alten Testaments wiedergegeben worden ist, steht wohl im 2. Buch Moses 21, 22–25. Hier heißt es auszugsweise: »Wenn zwei Männer miteinander sich zanken und sie stoßen dabei eine schwangere Frau und es tritt eine Fehlgeburt ein, aber kein weiterer Unfall, so soll er eine Geldbuße zahlen, die ihm der Eheherr der Frau auferlegt. Und er soll sie ihm geben unter Vermittlung von Schiedsrichtern. Entsteht aber ein weiterer Unfall, dann musst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme!«26

Ergänzt wurde diese Formel häufig auch sinngemäß um die Worte »Blut für Blut« bzw. »Blut um Blut«. Beispielhaft sei hierfür ein Beitrag aus »Die Zeit« genannt, in dem es um den Politthriller »München« von Steven Spielberg geht. Er sagt zum politischen Patt im Nahen Osten: »Seit Jahrzehnten haben wir diesen Sumpf in der Region: Blut um Blut. Wo soll das enden? Wie kann es enden?«27 Auch der berühmte deutsche Heimatdichter Hermann Löns (1866–1914) bedient sich in der später vertonten Gedichtesammlung »Der kleine Rosengarten« mit seinem Gedicht »Blut um Blut« der Talionsformel: »6. Und wo mein Schatz begraben liegt, eine weiße Taube zum Himmel fliegt; und wo der Mörder fand sein Grab, da fliegt ein Rabe auf und ab, so rot wie Blut, so rot wie Blut.«28

Ein Tötungsdelikt aus (Blut-)Rache kann letztlich auch als eine Form von Ritualmord, wiederum ein Begriff aus der Blutsymbolik, aufgefasst werden. Andere Formen von Ritualmorden fanden sich in der Vergangenheit häufig bei Tötungen zur Gewinnung von Opferblut und somit bei rituellen Schlachtungshandlungen. In unserer Gesellschaft finden sich rituelle Morde bei Jugendlichen, begangen im Zusammenhang mit »Schwarzen Messen« oder anderen subkulturellen Handlungen.

Zu weiteren Blutriten zählt nicht nur das »brüderliche« Vermischen von Blut, eine rituelle Vereinigung, die nicht zuletzt den Lesern von Karl May als »Blutsbrüderschaft« bekannt ist, sondern auch das Trinken von Blut, welches bei der Gründung eines Blutbundes zuweilen auch mit Wein vermischt wurde, oder das Eintauchen der Hände in ein blutgefülltes Becken.

Vampire, Hexen und Zigeuner: Mythosfiguren ritueller Anthropophagie


Die breit angelegte Auslegung des Begriffs Anthropophagie umfasst auch das Trinken von Körperflüssigkeiten, insbesondere das Trinken von Blut. Im Volksglauben ist Vampirismus untrennbar mit dieser speziellen Form der Anthropophagie verbunden, wobei Menschenblut nicht nur getrunken, sondern dem Vampirglauben folgend auch ausgesaugt wird. Das Klischee, welches die meisten Menschen mit Vampirismus verbinden, ist das Folgende: Der fahlgesichtige Vampir, bekleidet mit einem schwarzen Umhang, oftmals gerade seiner Gruft entstiegen, umhüllt sein Opfer und rammt dem meist Ahnungslosen seine langen spitzen Eckzähne seitlich in den Hals, um aus dessen Halsschlagader Blut zu saugen und dieses sogleich zu trinken. Der Vampir entzieht seinem Opfer hierdurch seine Lebensenergie. In den meisten Fällen »erwacht« das Opfer später wieder als »Untoter«. Dennoch ist Vampirismus nicht unbedingt auf Töten angelegt, zumindest nicht im Film. Entscheidend ist vielmehr die Handlung, die mit dem leidenschaftlichen Saugen und Trinken verbunden ist. Verwoben mit diesem Klischee ist auch das Aussehen und die Erscheinung des Vampirs in Gestalt des Grafen Dracula, der Titelgestalt des Romans »Dracula« von Bram Stoker aus dem Jahr 1897. Seither sind eine Reihe von Vampirfilmen gedreht worden, die in ihrer Art und Aufmachung eine Besonderheit in der Filmszene darstellen. Anders als die sogenannten Horrorfilme, die ihr Publikum vorwiegend mit grausigen Szenen und Monstern schockieren wollen, gehen Vampirfilme softer mit ihrer Grausamkeit um. Für die Filmwissenschaftlerin CHRISTINE NOLL BRINCKMANN ist der Vampirfilm eher aristokratisch angelegt. Er verfährt gern elegant und poetisch, mit einer kulinarischen Ästhetik und sanftem Grauen, das erotisch unter die Haut geht. »Graf Dracula lebt zwar vom Blut seiner Opfer, verletzt sie jedoch kaum und agiert eher erotisch als kannibalisch.«29

Was aber ist ein Vampir? Eine kurz gefasste, wissenschaftlich-pragmatische Definition lautet: »Der Vampir ist ein wiederkehrender Toter, der sein Grab verlässt, um Lebende zu schädigen und zu töten, das Vieh zu ruinieren oder generell Schaden zu...

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