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E-Book

Abgründe der Medizin

Die bizarrsten Arzneimittel und kuriosesten Heilmethoden der Geschichte

AutorLydia Kang, Nate Pedersen
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783745303186
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Eine schaurig-schöne Reise durch die Abgründe der Medizingeschichte - rezeptfrei und mit Gänsehautgarantie! Wieselhoden als Verhütungsmittel, Aderlass gegen Blutverlust oder glühende Eisen bei Liebeskummer: Aus heutiger Sicht mögen solche Behandlungsmethoden völlig absurd erscheinen. Aber es gab Zeiten, da glaubte man fest an ihre Wirkung. Entweder weil man wissenschaftliche Erkenntnisse bewusst ignorierte oder die Medizin einfach noch nicht so weit war. Dieses reich bebilderte Buch ist ein ebenso informatives wie unterhaltsames Sammelsurium dessen, was den Menschen im Laufe der Jahrhunderte fälschlicherweise als Heilung versprochen wurde - und nicht selten das genaue Gegenteil bewirkte.

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Leseprobe

 

6


Opiate


Von Mohngöttern, dem Stein der Unsterblichkeit, heldenhaften Drogen und einschläfernden Babysittern

Babygeschrei ist nicht gerade Musik in den Ohren. Schon gar nicht für überarbeitete Kinderfrauen, die vor hundert Jahren oder so zehn Kinder versorgen mussten, weil deren Mütter in der Fabrik arbeiteten. Oder für ein älteres Kind, das auf seine Geschwisterchen aufpasst. Oder für eine erschöpfte Mutter, die nicht noch eine Nacht ohne Schlaf aushält und vielleicht das nächste Kind schon im Bauch trägt. Gewiss, das Schreien mag ein Zeichen sein, dass das Kind Hunger hat oder vollgekackt ist. Vielleicht liegt es auch an Koliken oder Zahnungsschmerzen. Aber muss es denn so furchtbar laut sein? Schließlich hat man nur zwei Hände!

Ah, was für ein Segen für die gute Mutter, die nun endlich ihre Kinder betäuben und selbst ein bisschen schlafen kann.

Da greift man am besten zu Mrs. Winslow’s Soothing Syrup, Godfrey’s Cordial, Jayne’s Carminative Balsam oder Daffy’s Elixir, welche allesamt Morphin oder Opium enthalten und dem Baby einen raschen Schlummer bereiten … oder einen raschen Tod.

Es mag gruselig klingen, aber über Jahrtausende hinweg war es üblich, schreiende Säuglinge zu sedieren. Der Papyrus Ebers (1550 v. Chr.) beschreibt eine Mischung aus Mohnpflanzen mit Wespenkot zur Beruhigung zahnender Kinder. Im 11. Jahrhundert empfahl der Arzt und Philosoph Avicenna einen Trank aus Mohn, Fenchel und Anis. Vom 15. bis ins letzte Jahrhundert rieten Lehrbücher bei Zahnungsbeschwerden und Schlafproblemen zu unterschiedlichen Mixturen aus Opium und Morphin. Wollte das Kind nicht abstillen? Gründungsvater Alexander Hamilton hatte da was. Er empfahl »ein wenig Weinmolke, verdünnte Bowle oder sogar einen oder zwei Teelöffel Mohnsirup … um Ruhelosigkeit und Schreianfälle zu verhindern, bis die Brust vergessen ist«.

Das Problem war allgegenwärtig. Aus dem Edinburgh des späten 19. Jahrhunderts berichtete Charles Routh, dass Ammen gern ihre Mündel narkotisierten, oder auch gleich sich selbst. »Entweder ist die Amme selbst eine mäßige Trinkerin oder Opiumesserin und beeinflusst durch ihr Laster die Milch … oder, zum andern, gibt sie dem Kinde das Mittel.« Schön und gut, die Kinder schliefen, aber das bedeutete auch, dass sie nicht so häufig aßen und dass eventuelle Krankheitszeichen wegbetäubt wurden.

Opium, die Amme der Armen.

DER MOHN IST AUFGEGANGEN …

Solche Babysitter gewannen sicherlich keine Preise für hervorragende Kinderbetreuung. Doch sie führten eben den uralten Brauch fort, die vielen interessanten Eigenschaften des Opiums zu nutzen. Eine halbe Stunde nach Einnahme fühlt man sich euphorisch und schläfrig, während selbst der quälendste Schmerz schwindet. Klingt herrlich, oder? Dann schauen wir mal auf die Nebenwirkungen: Juckreiz, Verstopfung, Übelkeit und gefährlich langsame Atmung. Oh, und außerdem überwältigende Abhängigkeit. Und Tod.

Der Schlafmohn, Papaver somniferum (griechisch »Mohn« und lateinisch »schlaferzeugend«), ist der Menschheit seit mehr als 5000 Jahren bekannt. Seine Blüte ist wie aus weißem, rotem, rosa oder lila Seidenpapier, und ihre Blütenblätter halten keine zwei Tage, bevor sie im Winde verwelken. Aber die Zartheit täuscht. Die Macht des Mohns liegt nicht in der Schönheit seiner Blüte, sondern in der festen, mit Drogen vollgepackten Kapsel, die zurückbleibt. 3400 v. Chr. nannten die Sumerer den Mohn Hul Gil, die »Freudepflanze«. Zweitausend Jahre später hatte sich die Nutzung von Opium in Nordafrika, Europa und dem Nahen Osten ausgebreitet. Mit Süßholz oder Balsam gemischt galt es als Allheilmittel. Im alten Ägypten soll die Göttin Isis dem Gott Ra Opium gegen seine Kopfschmerzen gegeben haben. Weil ja auch Götter manchmal Migräne haben.

Schlafmohn: Der Querschnitt der Kapsel verrät, wo der gute Stoff herkommt.

Im alten Griechenland hatten Gottheiten in Darstellungen oft Mohnblumen in der Hand oder waren mit Mohn bekränzt. Opium war gleich mehreren Göttern zugeordnet, die allesamt trostreiche Erlösung versprachen: Nyx (Nacht), Hypnos (Schlaf), Thanatos (Tod) und Morpheus (Traum). Im 4. Jahrhundert v. Chr. hatte Hippokrates gehörigen Respekt vor den Gefahren des Opiums und empfahl nur sparsame Verwendung als Schlafmittel, zum Blutstillen und Betäuben sowie gegen Frauenleiden. Homer erzählt von einer Droge namens nepenthe, bei der es sich wohl um Opium handelte und die Telemach von Helena erhielt, um Vergessen zu erzeugen. Schierling und Opium wurden gern zu tödlichen Mischungen kombiniert, um Verurteilte hinzurichten. Opium war ziemlich brauchbar. Aber es wurde allzu oft missbraucht.

Im 2. Jahrhundert n. Chr. war Galen von Opium als Medizin ein bisschen zu sehr angetan. Er hielt es für ein Mittel gegen Höhenangst, Taubheit, Epilepsie, Schlaganfall, Fehlsichtigkeit, Nierensteine, Lepra und so ziemlich alles andere. Schließlich fühlte man sich dadurch durchweg besser. Im 11. Jahrhundert schrieb Avicenna eine Abhandlung über Opium und rühmte darin dessen Vorzüge. Was er in seinem Kanon der Medizin schrieb, klingt absolut sinnvoll: Opium hilft bei schmerzhafter Gicht, hemmt Durchfall und schenkt den Schlaflosen Schlaf. Zum Letzteren sei gesagt, dass Opium zu den ältesten Schlafmitteln der Welt gehört. Aber Galen glaubte auch, dass es gegen ungezügelte Libido helfen würde: »Patienten mit beunruhigend hoher Libido können Opioide äußerlich anwenden.« Ähm, nun denn.

Avicenna warnte seine Leser vor den giftigen Eigenschaften des Opiums, die er beobachtet hatte: Atemprobleme, Juckreiz und Ohnmacht. Kein Wunder, dass es bei unkontrollierter Herstellung und Vergabe häufig zu Überdosen kam und Avicenna daher davor warnte. Aber ironischerweise erlag er selbst der möglicherweise ersten dokumentierten Opiumüberdosis der Medizingeschichte. Offenbar litt er an Bauchweh und sein Diener gab ihm eine Überdosis, weil er ihn bestehlen wollte. Ach ja, Avicenna hatte damals auch etwas zu viel Sex (so viel zur Libidosenkung). Kurz darauf starb er. (Merke: Bauchweh plus zu viel Sex plus Opium kann tödlich sein. Aber es gibt schlimmere Todesarten.)

DAS NEUE OPIUM: LAUDANUM

Den Opiumboom im Europa des 15. Jahrhunderts haben wir Paracelsus zu verdanken. Der berühmte Arzt nannte Opium den »Stein der Unsterblichkeit« und soll das Laudanum erfunden haben, welches er bescheiden »allen anderen heroischen Heilmitteln überlegen« nannte. Ein Zeitgenosse, Johannes Oporinus, schrieb: »Er hatte Pillen, die er Laudanum nannte und die wie Krümel von Mäusekacke aussahen … Er prahlte, mit diesen Pillen könne er Tote erwecken.«

Paracelsus, Erfinder des Laudanums.

Paracelsus’ Mäuseköttel, Laudanum genannt (nach lat. laudare – »preisen«), enthielten vermutlich ein Viertel Opium, dazu Mumie (richtig gelesen, siehe »Kannibalismus & Leichenmedizin«, Seite 229), Bezoarstein aus dem Kuhmagen, Bilsenkraut (ein Beruhigungsmittel und Halluzinogen), Bernstein, zerkleinerte Korallen und Perlen, Moschus, Öle, den Knochen aus dem Herzen eines Hirsches (hä?) und Einhornhorn (wohl eher vom Nashorn oder Narwal stammend). Manche seiner Rezepte enthielten auch Froschlaich, andere verlangten nach Orangensaft, Zimt, Nelken,

Amber und Safran. Vom Prinzip her war es also größtenteils Opium vermischt mit allerlei kostspieligem Zeug, das (größtenteils) sehr gut roch. Laudanum war nicht wirklich besser als das, was es immer schon gab. Konnte es Tote erwecken? Äh, nein.

Utensilien eines Opiumrauchers

Im 17. Jahrhundert machte Thomas Sydenham seine Version des Laudanums populär, indem er den Firlefanz von Paracelsus wegließ, dafür aber etwas Entscheidendes hinzufügte: jede Menge Alkohol. Den Geschmack verfeinerte auch er mit Zimt und Nelke. Sein Laudanum wurde als Mittel gegen die Pest angepriesen. Leider heilte es nicht von der Pest. Aber es sorgte wahrscheinlich dafür, dass sich die Pestopfer viel besser fühlten, während sie von der Seuche dahingerafft wurden. Sydenham bekam davon allerdings nichts mit – er floh aus London, weil er die Pest mied wie … äh, die Pest.

Indessen wurde Opium auf der ganzen Welt zum Verkaufshit. Zwei Opiumkriege wurden im 19. Jahrhundert geführt. Die Souveränität Chinas, Suchtepidemien, Handelsverträge – all das kulminierte in einem Machtkampf, der dazu führte, dass Hongkong für über 150 Jahre an Großbritannien fiel. Überall auf der Welt eröffnete man Opiumhöhlen. Das Opium, das dort in fester Form geraucht wurde, stammte meist aus dem chinesischen Handel.

Aber im Westen forderte Laudanum, die flüssige Form der Droge, mehr Opfer. Zwar war die Wirkung nicht so stark wie bei reinem Opium, aber die...

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