Sie sind hier
E-Book

Abrechnungsverstöße in der stationären medizinischen Versorgung

Medizinische, ökonomische und juristische Perspektiven

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl212 Seiten
ISBN9783170238657
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Krankenhäuser stehen im Fokus einer kritischen Öffentlichkeit. Man konfrontiert sie mit Vorhaltungen, die neben Leistungsfragen (Hygienemängel, Behandlungsfehler) auch ihr Abrechnungsverhalten betreffen. Als Ursache wird ihre wachsende wirtschaftliche Ausrichtung ausgemacht. Solche Vorwürfe müssen - angesichts knapper Sozialkassen, aber auch der existenziellen Bedeutung der stationären medizinischen Versorgung - nachdenklich stimmen. Deshalb diskutiert das Buch, ob Krankenhäuser tatsächlich Abrechnungsverstöße in einem relevanten Maße begehen, welche Ausprägungen dies annimmt und wie es gedeutet und erklärt werden kann. Dem interdisziplinär angelegten Band liegt eine empirisch-kriminologische Erhebung zugrunde, die durch einige ergänzende Beiträge flankiert wird und so ganz unterschiedliche Perspektiven zur Sprache kommen lässt.

Prof. Dr. Ralf Kölbel ist Kriminologe und Strafrechtswissenschaftler an der LMU München. Mit Beiträgen von: Ralf Kölbel, Christoph Bobrowski, Peter Merguet, Oliver Ricken, Peter Dirschedl, Hans-Friedrich Kienzle und Torge Sulkiewicz.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

1 Einführung – Überblick und kriminologische Einordung


Ralf Kölbel

1.1 Untersuchungsgegenstand und Forschungsbedarf


Der vorliegende Band versammelt sowohl Beiträge, die auf Grundlage einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten und an der Universität Bielefeld durchgeführten Untersuchung entstanden sind, als auch eine Reihe ergänzender Aufsätze. Thematisch sind die Texte allesamt – direkt oder jedenfalls mittelbar – auf die Problemstellung der besagten Studie bezogen. Diese widmet sich vor einem wirtschaftskriminologischen Hintergrund der korporativen Devianz im Gesundheitssystem und konzentriert sich dabei auf einen spezifischen Ausschnitt. Ihren Gegenstand bildet die Akteursgruppe der Krankenhäuser (während andere unternehmerische Leistungserbringer oder Krankenkassen nicht berücksichtigt werden). Ferner geht es allein um die von Kliniken ausgehenden Fehler und Manipulationen im Kontext der Leistungsabrechnung, nicht aber um anderes normwidriges Agieren (etwa korruptionsnahes Verhalten, arzneimittelrechtliche und transplantationsrechtliche Verstöße). Dies alles ist schließlich auf das Feld der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beschränkt (so dass die Besonderheiten bei selbst zahlenden und privat versicherten Patienten außer Acht bleiben).

An einer solchen Untersuchung besteht gleich mehrfach Bedarf: Der Umstand, dass 2011 allein innerhalb der deutschen GKV (mit ca. 70 Mio. Versicherten) für Krankenhausbehandlungen ca. 60 Mrd. Euro (2006: knapp 50 Mrd. Euro) ausgegeben wurden (GKV 2012, S. 13), belegt die enorme volkswirtschaftliche Bedeutung dieses gesellschaftlichen Sektors. Zudem wurden mit dem Jahr 2003 die rechtlichen Grundlagen und mit ihnen die zentrale Logik des Entgeltsystems in einer sehr weitreichenden Weise reformiert. Die dadurch ausgelösten Wirkungen werden seither durchaus erforscht, dies allerdings allein aus einer gesundheitsökonomischen und medizinischen sowie mit Abstrichen auch medizinsoziologischen Warte. Forschungen, die daneben dezidiert nach regelwidrigem Wirtschaftsverhalten fragen, fehlen dagegen völlig – ganz so, als ob es dafür keine Notwendigkeit gäbe. Mehr noch: Die spezifischen Fragestellungen der bislang unbeachtet gebliebenen Kriminologie werden nach den Erfahrungen, die bei der Projektdurchführung gewonnen wurden, von nicht wenigen Systemakteuren nicht nur als neu, sondern als unangenehm oder befremdlich empfunden. Tatsächlich sind sie im gesundheitswissenschaftlichen Spektrum aber weder abwegig noch überflüssig, sondern stellen dort vielmehr eine ganz klare Bereicherung dar, weil sie die fraglichen Phänomene als sozial abweichendes Verhalten und nicht länger nur als ökonomisches Problem thematisieren.

Insofern zeigen denn auch die Erfahrungen ausländischer Gesundheitssysteme, die vergleichbare Krankenhausvergütungsstrukturen eingeführt haben, dass Devianz im Abrechnungsbereich als ein gesellschaftlich relevanter und untersuchungsbedürftiger Gegenstand gelten muss. Dies betrifft beispielsweise Verstöße in Form fehlerhafter Leistungskodierung (sog. Upcoding), deren Verbreitung in den USA am besten analysiert worden ist: »There is substantial evidence that upcoding in U.S. hospitals is common« (Jesilow 2012, S. 34). In Kodierer-Surveys berichtet nahezu die Hälfte des befragten Personals davon, dass ihr Management sie zu grenzwertig erlösmaximierender Kodierung anhält (Lorence und Spink 2002). Ferner haben zahlreiche Studien, in denen Klinikabrechnungen einer nachträglichen Prüfung unterzogen wurden (Krankenakten-Review mit Rekodierung), einen hohen Abrechnungsanteil mit entgeltrelevanten Verschlüsselungsfehlern festgestellt (vgl. die Literaturanalyse von Lüngen und Lauterbach 2001, S. 1450 f.). Da solche Fehler überwiegend zu Lasten der Kostenträger gehen (in klarer Form etwa bei Psaty et al. 1999), werden sie nicht nur auf einfache Irrtümer zurückgeführt, sondern auch auf Erlösmaximierung und ein erhebliches Manipulationspotenzial (Vandenburg 1999; Jesilow 2007; Friedrichs 2009, S. 79 f.; Gosfield 2012, § 1:9). Dies – auch in Deutschland – zu erforschen, ist die originäre Aufgabe der Kriminologie.

Für entsprechende Fragestellungen und Analysen zeichnet sich hierzulande inzwischen auch ein rechtspolitisches Verwertungspotentzial ab. Das geltende Krankenhausvergütungssystem, das ganz wesentlich auf diagnosegestützten Pauschalen beruht, hat sich nämlich in Deutschland gleichermaßen als fehleranfällig erwiesen. Damit geht die Befürchtung einher, dass aus der GKV unberechtigte Entgelte in einem jährlichen Milliardenvolumen an die Leistungserbringer fließen könnten (vgl. etwa die Kalkulationen bei Schönfelder et al. 2009; Bundesrechnungshof 2009). Das Bundessozialgericht sieht die Gefahr, »dass Krankenhäuser den Krankenkassen gegenüber ohne eigenes finanzielles Risiko unter Verstoß gegen ihre gesetzlichen Übermittlungspflichten aus § 301 SGB V fehlerhaft abrechnen könnten« (BSGE 106, 214, Rn 21). Bundesversicherungsamt (2010) und Bundesrechnungshof (2009) drängen die Kassen, weitere Kostensenkungspotenziale durch eine intensivierte Abrechnungsprüfung zu erschließen. Die darauf zielenden Instrumente für die Abrechnungskontrolle auszubauen, ist daher nicht nur eine Forderung der Kostenträger (GKV 2011), sondern wird seit geraumer Zeit wiederholt auch im parlamentarischen Raum diskutiert.1 Selbst das Bundesgesundheitsministerium, das zunächst keinen Problemdruck erkennen mochte (Bundesministerium für Gesundheit 2011), wartete unlängst mit einem Konzeptionspapier auf, das eine Verdichtung der Abrechnungskontrolle erwägt.2 Einschlägige empirische Daten und Analysen durch eine auch kriminologische Forschung kämen solchen Debatten ganz offensichtlich zugute.

Ein Bedarf an Studien der hier vorgestellten Art besteht allerdings nicht nur von Seiten des Gesundheitssystems (seiner Untersuchung und Fortentwicklung), sondern auch von Seiten der Kriminologie: Wirtschaftsdelinquenz ist im Vergleich zur klassischen Kriminalität unterforscht, insbesondere mit Blick auf korporative Devianz. Das betrifft empirisches Wissen wie theoretische Konzeptionen und gilt für die deutsche Kriminologie noch viel mehr als im angelsächsischen Raum (vgl. nur Boers 2010). Insofern tut es aus dieser disziplinären Warte ebenfalls Not, die kriminologische Vermessung wichtiger ökonomischer Felder – wie das der Gesundheitswirtschaft – zu intensivieren.

1.2 Methodische Vorgehensweise der Untersuchung


Gleichwohl ist das Ziel des Projektes (und dieses Bandes) eher bescheiden: Es geht nicht schon darum, die skizzierten Fehlstellen zu füllen, sondern um erste, teilweise auch exemplarische Schritte, um die kriminologische Perspektive auf das besagte Untersuchungsfeld überhaupt zu etablieren und eine erste Phänomenerfassung zu unternehmen. Der durchaus explorative Charakter erklärt sich auch damit, dass Abrechnungsverstöße im stationären Bereich der empirischen Forschung nur unter erheblichem Aufwand zugänglich sind und ein daran angepasstes, zuverlässiges Methodeninventar hierfür erst noch entwickelt werden muss. Dabei bestehen all jene Hürden und Methodenprobleme, die die wirtschaftskriminologische Forschung generell in typischer Weise erschweren: Die wichtigsten traditionellen Instrumente der Kriminologie stehen hier nämlich nicht zur Verfügung. So sind im fraglichen Feld nicht allein die amtlichen Kriminalstatistiken wegen der nur partiellen Strafrechtswertigkeit illegalen Unternehmensverhaltens und der eminenten Verfolgungslücken ohne Aussagewert (Slapper und Tombs 1999, S. 54 ff.), sondern auch quantitative Dunkelfeldforschungen meist aussichtslos. Das Zustandekommen statistisch auswertungsfähiger Stichproben scheitert daran, dass in der Wirtschaft erfahrungsgemäß nicht genügend Bereitschaft für Interviews zur selbstberichteten Delinquenz mobilisiert werden kann (Slapper und Tombs a. a. O., S. 107 f.), während Opferinterviews wegen der Viktimisierungsdiffusität vieler Unternehmensdelikte von vornherein kaum weiter führen (a. a. O., S. 56 f.). Nicht von Ungefähr überwiegen in der Wirtschaftskriminologie daher qualitative Studien, die Einzelereignisse, Deliktskategorien oder Wirtschaftsbranchen untersuchen (Überblick a. a. O., S. 41 ff.).

Einen solchen fallanalytischen Weg, der im Übrigen auch bei (Abrechnungs-) Delikten in Kliniken bereits erprobt worden ist (vgl. Vandenburg 1999), hat daher das im vorliegenden Band vorgestellte Projekt ebenfalls beschritten, wobei es sich einer Methode bedient, auf die sich auch viele andere unternehmenskriminologische Arbeiten stützen: Es wurden offene, nicht-standardisierte, wenngleich leitfadenorientierte Interviews durchgeführt und mit den Mitteln der qualitativen Sozialforschung ausgewertet (zur Vorgehensweise vgl. Froschauer und Lueger 2003; Friese 2012). Die Interviews entsprachen in ihrer Anzahl dem, was mit den Projektressourcen zu bewältigen war. Befragt wurde dabei eine solche Mischung aus unterschiedlichen Systemakteuren, dass dies die Erfassung der maßgeblichen Erfahrungshintergründe und verschiedenen Blickwinkel versprach: neun (teilweise ehemalige) Krankenhausärzte, fünf (teilweise ehemalige) Controller bzw. Abrechnungsmitarbeiter an Kliniken, sechs Kassenprüfsachbearbeiter, zwei Mitarbeiter von Fehlverhaltensermittlungstellen (§ 197a SGB V) der Kassen und eine Justiziarin einer Klinik.

Diese jeweils mehrstündig geführten, sodann transkribierten und textanalytisch ausgewerteten Interviews bilden den empirischen Kern der Untersuchung, den allerdings eine Reihe weiterer Bausteine flankiert:3

  • So entstand bei Vorbereitung und Durchführung des Projekts ein...
Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Grundlagen - Nachschlagewerke Medizin

Gesundheitspsychologie

E-Book Gesundheitspsychologie
Ein Lehrbuch Format: PDF

Das Buch liefert für das relativ junge Fachgebiet der Gesundheits-psychologie Grundlagenkenntnisse. Ein Teil des Bandes befaßt sich mit gesundheitsfördernden bzw. -mindernden…

Gesundheitspsychologie

E-Book Gesundheitspsychologie
Ein Lehrbuch Format: PDF

Das Buch liefert für das relativ junge Fachgebiet der Gesundheits-psychologie Grundlagenkenntnisse. Ein Teil des Bandes befaßt sich mit gesundheitsfördernden bzw. -mindernden…

Gesundheitspsychologie

E-Book Gesundheitspsychologie
Ein Lehrbuch Format: PDF

Das Buch liefert für das relativ junge Fachgebiet der Gesundheits-psychologie Grundlagenkenntnisse. Ein Teil des Bandes befaßt sich mit gesundheitsfördernden bzw. -mindernden…

Rehabilitation

E-Book Rehabilitation
Ein Lehrbuch zur Verhaltensmedizin Format: PDF

Das Lehrbuch bietet eine umfassende und aktuelle Übersicht über interdisziplinär orientierte Behandlungsansätze in der medizinischen Rehabilitation. Es erörtert Grundlagen und Anwendungsfelder der…

Rehabilitation

E-Book Rehabilitation
Ein Lehrbuch zur Verhaltensmedizin Format: PDF

Das Lehrbuch bietet eine umfassende und aktuelle Übersicht über interdisziplinär orientierte Behandlungsansätze in der medizinischen Rehabilitation. Es erörtert Grundlagen und Anwendungsfelder der…

Rehabilitation

E-Book Rehabilitation
Ein Lehrbuch zur Verhaltensmedizin Format: PDF

Das Lehrbuch bietet eine umfassende und aktuelle Übersicht über interdisziplinär orientierte Behandlungsansätze in der medizinischen Rehabilitation. Es erörtert Grundlagen und Anwendungsfelder der…

Rehabilitation

E-Book Rehabilitation
Ein Lehrbuch zur Verhaltensmedizin Format: PDF

Das Lehrbuch bietet eine umfassende und aktuelle Übersicht über interdisziplinär orientierte Behandlungsansätze in der medizinischen Rehabilitation. Es erörtert Grundlagen und Anwendungsfelder der…

Weitere Zeitschriften

Menschen. Inklusiv leben

Menschen. Inklusiv leben

MENSCHEN. das magazin informiert über Themen, die das Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft bestimmen -und dies konsequent aus Perspektive der Betroffenen. Die Menschen, um die es geht, ...

arznei-telegramm

arznei-telegramm

Das arznei-telegramm® informiert bereits im 53. Jahrgang Ärzte, Apotheker und andere Heilberufe über Nutzen und Risiken von Arzneimitteln. Das arznei-telegramm®  ist neutral und ...

Ärzte Zeitung

Ärzte Zeitung

Zielgruppe:  Niedergelassene Allgemeinmediziner, Praktiker und Internisten. Charakteristik:  Die Ärzte Zeitung liefert 3 x pro Woche bundesweit an niedergelassene Mediziner ...

FREIE WERKSTATT

FREIE WERKSTATT

Die Fachzeitschrift FREIE WERKSTATT berichtet seit der ersten Ausgaben 1994 über die Entwicklungen des Independent Aftermarkets (IAM). Hauptzielgruppe sind Inhaberinnen und Inhaber, Kfz-Meisterinnen ...

Card-Forum

Card-Forum

Card-Forum ist das marktführende Magazin im Themenbereich der kartengestützten Systeme für Zahlung und Identifikation, Telekommunikation und Kundenbindung sowie der damit verwandten und ...

ea evangelische aspekte

ea evangelische aspekte

evangelische Beiträge zum Leben in Kirche und Gesellschaft Die Evangelische Akademikerschaft in Deutschland ist Herausgeberin der Zeitschrift evangelische aspekte Sie erscheint viermal im Jahr. In ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

PFLICHTLEKTÜRE – Seit zwei Jahrzehnten begleitet das e-commerce magazin das sich ständig ändernde Geschäftsfeld des Online- handels. Um den Durchblick zu behalten, teilen hier renommierte ...

VideoMarkt

VideoMarkt

VideoMarkt – besser unterhalten. VideoMarkt deckt die gesamte Videobranche ab: Videoverkauf, Videoverleih und digitale Distribution. Das komplette Serviceangebot von VideoMarkt unterstützt die ...