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E-Book

Ändere die Welt!

Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen

AutorJean Ziegler
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641155452
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das provokante Debattenbuch des international
bekannten Globalisierungskritikers

Die Kriege sind zurück, Hunger und Not gehören auch in Europa wieder zum Alltag, aufklärungsfeindliches Denken gewinnt an Boden. Die Welt verfügt zum ersten Mal in ihrer Geschichte über die Ressourcen, Hunger, Krankheit, Tyrannei auszumerzen; und doch wird der Kampf um knappe Güter menschenverachtend in immer neuen Dimensionen ausgetragen. Jean Ziegler, der seit Jahrzehnten Elend, Unterdrückung und Ungerechtigkeit anprangert, blickt zurück und befragt sich selbst, was er mit seiner wissenschaftlichen und politischen Arbeit bewirkt hat. Warum gelang es den Menschen in den westlichen Gesellschaften bisher nicht, ihre inneren Ketten abzuschütteln, die sie hindern, frei zu denken und zu handeln? Ziegler ruft dazu auf, die Welt zu verändern und zu einer sozialen Ordnung beizutragen, die nicht auf Beherrschung und Ausbeutung basiert. Seine Hoffnung richtet sich auf eine neue weltumspannende Zivilgesellschaft, die antritt, die Ursachen der kannibalischen Weltordnung zu bekämpfen.

Jean Ziegler, geboren 1934 im schweizerischen Thun, lehrte bis zu seiner 2002 erfolgten Emeritierung Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne/Paris. Bis 1999 war Jean Ziegler Nationalrat im Parlament der Schweizer Eidgenossenschaft, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, als dessen Berater er heute noch tätig ist. Seine Publikationen wie »Die Schweiz wäscht weißer« (1992) und »Die Schweiz, das Gold und die Toten« (1998) haben erbitterte Kontroversen ausgelöst. Als Kritiker von Globalisierung und Raubtierkapitalismus ist er mit Bestsellern wie »Das Imperium der Schande« (2005), »Der Hass auf den Westen« (2007), »Wir lassen sie verhungern« (2012), »Ändere die Welt!« (2015) »Der schmale Grat der Hoffnung« (2017) und »Die Schande Europas« (2020) hervorgetreten.

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Leseprobe

ERSTES KAPITEL

Was nützt ein Intellektueller?

Lerne das Einfachste! Für die
Deren Zeit gekommen ist
Ist es nie zu spät!
Lerne das Abc, es genügt nicht, aber
Lerne es! Laß es dich nicht verdrießen!
Fang an! Du mußt alles wissen!
Du mußt die Führung übernehmen.

Lerne, Mann im Asyl!
Lerne, Mann im Gefängnis!
Lerne, Frau in der Küche!
Lerne, Sechzigjährige!
Du mußt die Führung übernehmen.
Suche die Schule auf, Obdachloser!
Verschaffe dir Wissen, Frierender!
Hungriger, greif nach dem Buch: es ist eine Waffe.
Du mußt die Führung übernehmen.

Scheue dich nicht zu fragen, Genosse!
Laß dir nichts einreden
Sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt
Weißt du nicht.
Prüfe die Rechnung
Du mußt sie bezahlen.
Lege den Finger auf jeden Posten
Frage: wie kommt er hierher?
Du mußt die Führung übernehmen.

Bertolt Brecht, Lob des Lernens6

In den Jahren 1935/1936 hielt Georges Politzer an der Arbeiteruniversität von Paris eine Vorlesung mit dem Titel Elementare Prinzipien der Philosophie. Die Arbeiteruniversität wurde 1939 aufgelöst. Politzer, der Widerstandskämpfer gegen den Faschismus und aktive Kommunist, starb durch die Kugeln eines Exekutionskommandos der Nazis. Nach der Befreiung Frankreichs veröffentlichte einer seiner ehemaligen Studenten, Maurice Le Goas, die Aufzeichnungen, die er sich in Politzers Vorlesung gemacht hatte.

Politzer konnte sich eine institutionelle Aufteilung des Wissens nicht vorstellen: Seine Vorlesung richtete sich an Männer und Frauen aus allen Berufen und allen Altersgruppen, die durch ihr Denken und Handeln Zeugnis von ihrer Entschlossenheit ablegten, eine ungerechte Gesellschaft zu verändern. Seine Ausführungen mussten deshalb für jedermann verständlich sein – weil sie sonst für niemanden verständlich gewesen wären. Wie Maurice Le Goas schrieb, sollte die Vorlesung den Arbeitern, jungen wie alten, Hand- und Kopfarbeitern, »eine Methode des Nachdenkens an die Hand geben, die ihnen erlaubt, unsere Zeit zu verstehen und ihr Handeln auszurichten, sowohl in ihrer Technik wie auf dem politischen und sozialen Feld«.7 Politzers Vorlesung ist für mich ein Modell pädagogischen Handelns.

Indem ich hier die elementaren Prinzipien einer radikal kritischen oppositionellen Soziologie darlege, möchte ich einen möglichst wirksamen Beitrag dazu leisten, dass die Gerechtigkeit und das Bewusstsein der Menschen für ihre eigene Macht Fortschritte machen.

Jede Gesellschaft spricht mit sich über sich selbst. Jeder Mensch hat vielfältige Meinungen über sich und andere. Die kollektiven und individuellen Vorstellungen, die Bilder, die die Menschen sich von ihrem Leben machen, bilden den Überbau der Gesellschaft. Die materiellen Umstände ihres Lebens, die Produktivkräfte und das dazugehörige Werkzeug bilden den Unterbau. Bilder und Realität, Überbau und Basis ergänzen sich und stehen zugleich im Widerspruch. Diese Beziehungen bilden die Gesellschaft.

Es gibt nur eine Wissenschaft, nämlich jene, die jede metasoziale Begründung ablehnt: Alain Touraine hat als Erster 1973 in seinem grundlegenden Werk Production de la société8 die überzeugendste, theoretisch untermauerte Kritik an metasozialen Konzeptionen formuliert. Die metasoziale Begründung, so wie Alain Touraine sie definiert, geht von einer Instanz jenseits der Realität der Gesellschaft aus. Mittels solcher Instanzen erheben die Mächtigen den Anspruch, Bedeutungen zu legitimieren, bestimmte Praktiken aufzuzwingen, Verhaltensweisen zu reglementieren.

In der Geschichte der Gesellschaften hat es den Rückgriff auf metasoziale Begründungen und die entsprechenden Instanzen immer gegeben. Er diente und dient dazu, unveränderliche, ahistorische »Wahrheiten« zu rechtfertigen und letzten Endes den Fortbestand der herrschenden Machtverhältnisse zu sichern.

Drei Beispiele sollen das erläutern, zwei sind der französischen Geschichte entnommen, das dritte der Aktualität der Weltgesellschaft.

Erstes Beispiel: Ludwig der Heilige, dessen Herrschaft im 13. Jahrhundert den Höhepunkt des Königtums der Kapetinger markierte, legitimierte seine Macht mit der Formel »Ludwig, durch die Gnade Gottes König von Frankreich«. Die metasoziale Begründung seiner Macht verweist auf die religiöse Ideologie. Der König empfing seine Macht von Gott, vermittelt durch die kirchliche Bürokratie. Der erste französische König, der gesalbt wurde, war Pippin der Kurze. Er wurde ein erstes Mal 751 von einer Versammlung von Bischöfen des Königreichs gesalbt, die in Soissons zusammengekommen waren, und ein zweites Mal 754 in Saint-Denis durch Papst Stephan II. Als letzter französischer König wurde Karl X. 1825 in der Kathedrale von Reims gesalbt.

Metasoziale Begründungen können auch dazu dienen, komplexere politische Teilstrategien zu rechtfertigen. Dazu ein Beispiel:

Suger, der Abt von Saint-Denis (der Abtei vor den Toren von Paris, die Grablege der französischen Könige ist), Ratgeber der Könige Ludwig VI. und Ludwig VII. sowie Kanzler des Reichs, illustriert, was damit gemeint ist. Suger wollte der im Entstehen begriffenen Monarchie eine solide Legitimität verschaffen und zugleich seine eigene Macht festigen. Das konnte er nur erreichen, indem er den Heiligen, dessen Reliquien die Abtei besaß, zum Beschützer des Reiches und wichtigsten Heiligen Frankreichs erhob.9 Darum musste er ein möglichst prunkvolles, luxuriöses und eindrucksvolles Heiligtum errichten. Doch weil damals Not und Hunger herrschten, gab es anhaltende und heftige Kritik an solch verschwenderischen Ausgaben. Suger fand einen Ausweg: In den Schriften, die er über die Verwaltung von Saint-Denis hinterlassen hat10 – in denen es um die Rekonstruktion der Kirche geht, um möglichst große Balken, kostbare Edelsteine, wundervolle Goldschmiedearbeiten, prächtige Fenster –, präsentiert er sich selbst als Instrument Gottes, des heiligen Dionysius und der anderen Heiligen. Er beteuert, seine Entscheidungen über Ausgaben, über teures Material und so weiter seien ihm in Visionen und durch Wunder »diktiert« worden. Somit geht sein Handeln aus der Heilsgeschichte hervor, die Ereignisse rechtfertigt, ihnen eine metasoziale Begründung verleiht und damit die Realität verschleiert.

Heute ist die mächtigste und zugleich die gefährlichste metasoziale Begründungsweise die »Naturalisierung« ökonomischer Fakten. Die Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals berufen sich auf sogenannte »Naturgesetze der Wirtschaft«, um den Menschen aus seiner eigenen Geschichte zu vertreiben, um präventiv jeden Ansatz von Widerstand, der ihm in den Sinn kommen könnte, zu brechen und ihre Profite abzusichern. Der »Weltmarkt«, die oberste Regelungsinstanz nicht nur für die Produktion und den Austausch von Waren, sondern auch für menschliche Beziehungen und Konflikte, wird auf diese Weise in den Rang einer »unfehlbaren unsichtbaren Hand« erhoben. Das Ziel aller Politik soll demnach die vollständige Liberalisierung sämtlicher Bewegungen von Kapital, Waren und Dienstleistungen sein, die Unterwerfung aller menschlichen Tätigkeiten unter den Grundsatz der Maximierung von Profit und Rentabilität und darum die Privatisierung aller öffentlichen Bereiche. Diese Strategie enthält ein Versprechen: das Versprechen, dass die Marktkräfte, wenn sie erst einmal endgültig der öffentlichen Kontrolle und allen territorialen Beschränkungen entzogen sind, unvermeidlich weltweites Wohlergehen erzeugen werden. Weil dann das Kapital automatisch in jedem Moment dorthin geht, wo es den maximalen Profit erzielen kann.

James Wolfensohn, der einstige Wall-Street-Banker, Multimilliardär, begnadeter Pianist, ein warmherziger, kultivierter Mann, war bis 2005 Präsident der Weltbank. Sein Credo, das er unzählige Male leidenschaftlich auf internationalen Podien wiederholte, lässt sich auf folgendes Motto reduzieren: »stateless global governance«. Mit anderen Worten: Die Selbstregulierung des Weltmarkts, endlich befreit von aller Einmischung von Staaten, Gewerkschaften, Bürgern und so weiter, wartet am Horizont und ist das endgültige Ziel der Geschichte.

Die »Marktgesetze« sind eine metasoziale Begründung, die zumal dadurch besonders gefährlich ist, als sie sich auf einen strengen Rationalismus beruft. Tatsächlich handelt es sich um nichts anderes als Hokuspokus, der uns glauben machen möchte, wissenschaftliche Strenge und die Strenge der »Marktgesetze« seien das Gleiche.

Und noch etwas anderes gilt es zu verstehen: Indem sich die Diktatur des globalisierten Finanzkapitals hinter blinden »Marktgesetzen« verschanzt, zwingt sie uns eine geschlossene, starre Sicht der Welt auf, in der es keine menschliche Initiative gibt, kein geschichtliches Handeln, das aus der subversiven Tradition des noch nicht Existierenden, des Unvollendeten, der Freiheit erwächst.

Um zu illustrieren, was ich meine, zitiere ich eine Erinnerung. Einige meiner Bücher, vor allem Eine Schweiz – über jeden Verdacht erhaben (1976), Die Schweiz wäscht weißer (1990) und Die Schweiz, das Gold und die Toten (1997) zogen den Hass der schweizerischen Bankiers auf sich. Um mich finanziell zu ruinieren und so zum Schweigen zu bringen, wurden neun Prozesse gegen mich angestrengt. Meine parlamentarische Immunität wurde aufgehoben. Die Schadenersatzforderungen summierten sich auf mehrere Millionen...

Blick ins Buch

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