Wussten Sie, dass alleine Subsahara-Afrika mehr als fünfmal so gross ist wie die Europäische Union? Das Unwissen fängt oft bereits bei den Grössendimensionen an. Kein anderer Kontinent unterliegt so stereotypen und klischeehaften Charakterisierungen wie Afrika, das nicht einfach ein geografischer Raum ist, sondern auch ein gedankliches Konstrukt; koloniale Deutungsmuster haben im Westen weiterhin Bestand. In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert die Vorstellung eines monolithischen Blocks, der von Korruption, Kriegen, Krankheiten und Katastrophen beherrscht ist. Eine solche Sicht versperrt den Blick auf die Dynamik, die den Kontinent erfasst hat: 2018 befanden sich sechs der zehn am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in Afrika.
Tatsache ist aber auch, dass mehr als die Hälfte der von extremer Armut betroffenen Menschen in Afrika lebt. Weil dort die Bevölkerung schnell wächst, ist Afrika die einzige Region auf der Welt, wo die absolute Zahl der Armutsbetroffenen gestiegen ist, nämlich seit 1990 um 100 Millionen auf heute 413 Millionen Menschen. Die Weltbank schätzt, dass bis 2030 neun von zehn der Menschen, die weniger als 1.90 Dollar pro Tag zur Verfügung haben, in Afrika leben werden, vor allem in Subsahara-Afrika.
Afrika ist ein Kontinent zwischen Aufbruch und Armut, der aber allzu oft nur in diesem Antagonismus wahrgenommen wird. Der vorliegende «Almanach Entwicklungspolitik», der auf Subsahara-Afrika fokussiert, möchte andere Perspektiven aufzeigen, auch auf den Begriff der Entwicklung. Zugleich durchleuchtet er die Chancen und Risiken des Wirtschaftswachstums in Bezug auf die Armutsbekämpfung. Schon der Verweis auf eine kauffreudige, wachsende afrikanische Mittelschicht, die 350 Millionen Menschen umfassen soll, ist mit Vorsicht zu geniessen: Alle, die zwischen 2 und 20 Dollar pro Tag verdienen, werden zur Mittelklasse gezählt, aber etwa die Hälfte lebt hart an der Armutsgrenze. Die Wahrnehmung Afrikas als Kontinent im Aufbruch darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass für viele die Lebensbedingungen nach wie vor prekär sind und sie nicht automatisch vom Wachstum profitieren. Der Trickle-down-Effekt war schon immer ein theoretisches Konstrukt, in dessen Schatten sich individueller Reichtum anhäuft und Ungleichheiten verschärfen.
Die Situation zwischen Aufbruch und Armut in Subsahara-Afrika fordert auch die Entwicklungszusammenarbeit heraus, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Obwohl Subsahara-Afrika in den letzten fünf Jahrzehnten mehr Entwicklungsgeld erhalten hat als jede andere Region, konnte, wie erwähnt, die absolute Zahl der von extremer Armut betroffenen Menschen nicht gesenkt werden. So muss sie ihr Wirken und ihre Methoden immer wieder auf den Prüfstand stellen. Sie muss sich aber auch vehement dagegen wehren, in Subsahara-Afrika wirkungslos geblieben zu sein, eine Behauptung, die von falschen Voraussetzungen ausgeht, was Entwicklungszusammenarbeit überhaupt zu leisten vermag. Vor allem in der Bildung und Gesundheit, aber auch der Stärkung der Zivilgesellschaft sind beachtliche Fortschritte erzielt worden, wie Assistenzprofessor Kenneth Kalu, Autor des Buches «Foreign Aid and the Future of Africa», in seinem Beitrag aufzeigt. Armutsbekämpfung lässt sich nie losgelöst von den globalen Macht- und Handelsstrukturen betrachten; und es kann dafür auch nicht alleine die Entwicklungszusammenarbeit in die Pflicht genommen werden. Gegenwärtig verliert Afrika ein Mehrfaches durch illegale Finanzabflüsse, als es an Entwicklungshilfe und Investitionen erhält. Viel Geld ist auch im Rahmen der Schuldenkrise als Zins- oder Zinseszins in den Westen zurückgeflossen. Neuerdings hält der Schuldendienst manches afrikanische Land wieder im Würgegriff (siehe dazu den Beitrag von Tirivangani Mutazu vom Entschuldungsnetzwerk Afrodad in Simbabwe). Die Entwicklungszusammenarbeit kann letztlich politische und soziale Prozesse in den betroffenen Ländern nicht steuern, sondern nur unterstützend begleiten oder anregen. Generell müssen wir uns davor hüten, das überholte Bild des hilfsbedürftigen Afrika und des wohltätigen Westens zu bedienen. Gleich mehrere Stimmen – darunter der senegalesische Wirtschaftsprofessor und Romancier Felwine Sarr – plädieren im vorliegenden Sammelband dafür, die Vorstellung von einer «aufholenden Entwicklung» zu hinterfragen. Diese geht davon aus, Afrika müsse sich nach dem idealtypisch verklärten westlichen Modell entwickeln. Eine solche Perspektive zeichnet zwangsläufig ein defizitäres Bild von Afrika.
Dichotomien dieser Art sind historisch tief verwurzelt und lagen auch der westlichen Zivilisierungsmission im Orient zugrunde, der dem Westen zugleich als Sehnsuchtsort diente. Ein ähnlicher Mechanismus spielt im Nord-Süd-Verhältnis: Idyllische Bilder der Savanne mit dösenden Löwen im Schatten eines Affenbrotbaumes verbrämen den Kontinent zum Sehnsuchtsort, aber lassen ihn aus westlicher Perspektive zugleich als rückständig erscheinen. Dabei geht gerne vergessen, dass das Modell der aufholenden Entwicklung die Defizite des eigenen Verständnisses von Moderne und Fortschritt überdeckt, Defizite, die angesichts des Klimawandels und der Endlichkeit der Ressourcen evident sind. «Nachhaltige Entwicklung ist möglich, wenn die Wertvorstellungen einer Gesellschaft ernst genommen werden und als Basis für politische und wirtschaftliche Veränderungen dienen», schreibt Franziska Koller, operative Leiterin des Bereichs Internationale Zusammenarbeit bei Caritas Schweiz. Konkret bedeutet dies, anzuerkennen, dass in Subsahara-Afrika die sozialen Netzwerke als primärer Alltagsbezugsrahmen fungieren und die informelle Ökonomie stark mit der regulären Wirtschaft verzahnt ist. Es heisst aber auch, die eigenen politischen und ökonomischen Strukturen neu zu bewerten und neue Wege für eine gerechte globale Ordnung zu suchen, so Franziska Koller. In eine ähnliche Richtung zielt Boniface Mabanza Bambu, der in Kinshasa studierte und in Münster promovierte. In seinem Beitrag hält er der nördlichen Hemisphäre mit ihrem wachstumsorientierten, ressourcen- und energieintensiven Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell den Spiegel vor und kritisiert, die Bekämpfung struktureller Ursachen von Armut stehe zu wenig im Mittelpunkt internationaler Anstrengungen.
Hüten wir uns aber auch davor, den Westen zu dämonisieren und die Ursachen für die Armut Subsahara-Afrikas alleine in der ungerechten globalen Wirtschaftsordnung zu suchen. Auch diktatorische Regime, Vetternwirtschaft und schwache Institutionen haben das Gemeinwohl untergraben. Günstlingswirtschaft darf aber auf keinen Fall als «natürlicher afrikanischer Wesenszug» betrachtet werden, will man nicht rassistischem Gedankengut den Boden bereiten. Vielmehr ist es so, dass afrikanische Regime, die sich nach der Unabhängigkeit als korrupt entpuppten, die westliche Besatzermentalität fortführten und so den einstigen Kolonialherren garantierten, weiterhin afrikanische Ressourcen ausbeuten zu können; Korruption muss von beiden Seiten her gedacht werden. Die Fixierung auf Potentaten als Ursache allen Übels verkennt zudem die ökonomischen Machtverhältnisse. Mancher in Afrika tätige globale Konzern verfügt über ein grösseres Budget als viele afrikanische Staaten. Wer im Westen lebt, der sich auch im 21. Jahrhundert der Rohstoffe Afrikas bemächtigt und die tiefen Sozial- und Umweltstandards zum eigenen Vorteil nutzt, darf die Verantwortung für mangelnden Fortschritt bei der Armutsbekämpfung weder einseitig den afrikanischen Regierungen noch der Entwicklungszusammenarbeit anlasten. Das wäre heuchlerisch. Politische und wirtschaftliche Eigeninteressen haben im auf eurozentrischen Modernisierungstheorien basierenden Entwicklungsdiskurs schon immer eine zentrale Rolle gespielt, um sich den Zugang zu afrikanischen Rohstoffen und Märkten zu sichern.
Anstatt auf den afrikanischen Kontinent hinabzublicken und ihn als «rückständig» zu taxieren, müssen solche Zusammenhänge mehr ins Blickfeld geraten. Nicht umsonst fordert Marianne Hochuli, Leiterin Grundlagen bei Caritas Schweiz, in ihrer Synthese eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Ein solcher Paradigmenwechsel hat in der öffentlichen und der privaten Entwicklungszusammenarbeit längst stattgefunden, wird aber noch zu wenig wahrgenommen. So betont im Interview Mark Herkenrath, Geschäftsleiter von Alliance Sud, dass die jeweilige lokale Zivilgesellschaft in die Projekte und Programme stets miteinbezogen würde mit dem Ziel, sie zu stärken, damit sie die Regierung in die Verantwortung nehmen könne. Oft bilden die Anträge und Vorschläge zivilgesellschaftlicher Organisationen die Grundlage für die jeweiligen Projekte, die zusammen mit NGOs entwickelt, aber dann primär von den Einheimischen selber umgesetzt werden.
Aber auch Mitarbeitende in der Entwicklungszusammenarbeit sind nicht davor gefeit, stereotypen Vorstellungen zu unterliegen. Der erste Teil dieses Buches geht deshalb Fakten, Bildern und Zerrbildern auf den Grund. Mit der Urbanisierung und der translokalen Lebenswelt setzt er zwei Schwerpunkte, welche die afrikanischen Gesellschaften einschneidend prägen. Gerne geht vergessen, dass der Grossteil der afrikanischen Migration auf dem Kontinent selber stattfindet. Hannah Niedenführ, Doktorandin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück, zeigt, dass diese Binnenmigration oft Bestandteil der täglichen Lebenssicherung ist, und sie erläutert, warum die Entwicklungspolitik die enorme Bedeutung von Translokalität für den sozioökonomischen Wandel berücksichtigen muss.
Der zweite Teil des «Almanachs...