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E-Book

Afrikanisches Fieber

Erfahrungen aus vierzig Jahren

AutorRyszard Kapu?ci?ski
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783492962636
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Immer wieder zog es den polnischen Journalisten Ryszard Kapu?ci?ski nach Afrika, zu den Schauplätzen von Staatsgründungen, Putschen und Bürgerkriegen. Mehr als 40 Jahre hat er den Schwarzen Kontinent bereist, die Menschen erforscht und in seinen Reportagen beschrieben. Die Summe seiner Neugier, seiner Erfahrungen, seiner Faszination und seines ohnmächtigen Staunens über die gewaltigen Dimensionen Afrikas geben ein hautnahes Bild. Dieser Band, einer seiner größten Erfolge auf dem deutschen Buchmarkt und ein zeitloses Dokument, ist nun endlich wieder lieferbar.

Ryszard Kapu?ci?ski, geboren 1932 in der ostpolnischen Stadt Pinsk, gestorben 2007 in Warschau, wurde in den Fünfzigerjahren als Korrespondent nach Asien und in den Mittleren Osten, später auch nach Lateinamerika und nach Afrika entsandt. Er zählte zu den großen Journalisten seiner Zeit, seine Reportagen aus der Dritten Welt sind weltberühmt. 1994 war er der erste Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, 1999 wurde er in Polen zum 'Journalisten des Jahrhunderts' ernannt, 2004 erhielt er in Wien den 'Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch' des Jahres 2003.

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Leseprobe

Anfang, Kollision, Ghana 1958

Vor allem anderen fällt das Licht auf. Überall Licht. Überall Helligkeit. Überall Sonne. Noch gestern das regentriefende, herbstliche London. Das regentriefende Flugzeug. Kalter Wind und Dunkelheit. Und hier seit dem Morgen der ganze Flughafen in der Sonne, wir alle – in der Sonne.

Früher einmal, als die Menschen noch zu Fuß durch die Welt zogen, auf Pferden ritten oder auf Schiffen segelten, bereitete die Reise selber sie auf die Veränderungen vor. Die Bilder der Erde zogen langsam an ihren Augen vorüber, die Weltbühne drehte sich ganz, ganz langsam. Die Reise dauerte Wochen, Monate. Der Mensch hatte genug Zeit, um sich in eine andere Umgebung, eine andere Landschaft einzuleben. Auch das Klima veränderte sich in Etappen, stufenweise. Bevor der Reisende aus dem kühlen Europa zum glühend heißen Äquator gelangte, hatte er schon das angenehm warme Las Palmas, die Hitze von El-Mahary und die Gluthölle von Kap Verde hinter sich.

Heute ist von diesen Abstufungen nichts mehr geblieben! Das Flugzeug reißt uns unvermittelt aus Schnee und Eis und schleudert uns noch am selben Tag in den glühenden Abgrund der Tropen. Wir haben kaum Zeit, uns die Augen zu reiben, da sind wir schon inmitten der feuchten Hölle. Sofort beginnen wir zu schwitzen. Wenn wir im Winter aus Europa ankommen – reißen wir uns den Mantel vom Leib, ziehen den Pullover aus. Das ist die erste Geste der Initiation von uns Menschen aus dem Norden nach unserer Ankunft in Afrika.

Menschen aus dem Norden. Haben wir je darüber nachgedacht, dass die Menschen aus dem Norden auf unserem Planeten eindeutig in der Minderheit sind? Kanadier und Polen, Litauer und Skandinavier, ein Teil der Amerikaner und Deutsche, Russen und Schotten, Lappen und Eskimos, Ewenken und Jakuten, die Liste ist nicht besonders lang. Ich weiß nicht, ob sie insgesamt mehr als fünfhundert Millionen Menschen umfasst: weniger als zehn Prozent der Bewohner der Erde. Die überwiegende Mehrzahl hingegen ist in warmen Regionen zu Hause, brät ihr ganzes Leben in der Sonne. Im Übrigen wurde der Mensch unter der Sonne geboren, seine ältesten Spuren wurden in warmen Ländern gefunden. Welches Klima herrschte zur Zeit des biblischen Paradieses? Es war ständig warm, ja heiß, sodass Eva und Adam nackt gehen konnten und nicht einmal im Schatten der Bäume fröstelten.

Schon auf der Treppe des Flugzeugs begegnet uns eine weitere Neuheit: der Geruch der Tropen. Eine Neuheit? Das ist doch der Duft, der den kleinen Laden mit »Kolonialwaren und anderen Produkten« von Herrn Kanzman in der Perez-Straße in Pinsk erfüllte. Mandeln, Gewürznelken, Datteln, Kakao. Vanille, Lorbeerblätter, Orangen und Bananen nach Stück, Kardamom und Safran nach Gewicht. Und Drohobycz? Das Innere der Zimtläden von Bruno Schulz? »Schwach beleuchtet, dunkel und feierlich schwelgten ihre Eingeweide im tiefen Geruch von Farben, Lack, Weihrauch, dem Aroma ferner Länder und seltener Materialien …!« Der Geruch der Tropen ist aber doch ein wenig anders. Schon nach kurzer Zeit spüren wir seine Schwere, seine klebrige Körperlichkeit. Dieser Geruch macht uns sofort bewusst, dass wir uns in den Breiten unserer Erde befinden, wo die üppige und rastlose Biologie ständig am Werk ist, etwas hervorbringt, wuchert und blüht und gleichzeitig krank wird, sich zersetzt, vermodert und verfault.

Es ist der Geruch erhitzter Körper und dörrender Fische, verfaulenden Fleisches und gerösteter Kassawa, frischer Blumen und faulender Wasserpflanzen, mit einem Wort ein Geruch von allem, was gleichzeitig angenehm und eklig ist, was anzieht und abstößt, was verlockt und Abscheu erweckt. Dieser Geruch weht aus den nahen Palmenhainen zu uns herüber, er entströmt der heißen Erde, steigt aus den fauligen Rinnsteinen der Stadt. Er lässt uns nicht los, ist ein Teil der Tropen.

Und schließlich die wichtigste Entdeckung – die Menschen. Die Einheimischen, die Eingeborenen. Wie gut sie zu dieser Landschaft, dieser Welt, diesem Geruch passen. Wie das alles eine Einheit darstellt. Wie Menschen und Landschaft eine unzertrennliche, einander ergänzende, harmonische Gemeinschaft, eine Übereinstimmung bilden. Wie jede Rasse ihrer Landschaft, ihrem Klima angepasst ist! Wir gestalten unsere Landschaft, und diese formt wieder unsere Gesichtszüge. Der weiße Mensch ist unter diesen Palmen, diesen Lianen, in diesem Busch und Dschungel ein seltsamer, auffallender Eindringling. Bleich, schwach, das Hemd verschwitzt, die Haare verklebt, ständig von Durst geplagt, vom Gefühl der Kraftlosigkeit, der Trübsal. Dauernd hat er Angst, fürchtet Moskitos, Amöben, Skorpione, Schlangen – alles, was sich bewegt, erfüllt ihn mit Furcht, Schrecken, Panik.

Ganz anders die Eingeborenen: Sie bewegen sich mit Kraft, Anmut und Ausdauer ganz natürlich und frei, in einem von Klima und Tradition diktierten Tempo, einem etwas langsameren, bedächtigen Tempo, weil man im Leben ohnehin nicht alles erreichen kann, was würde denn sonst für die anderen bleiben?

Ich bin seit einer Woche hier. Ich versuche Accra kennenzulernen. Es wirkt wie eine vervielfältigte, vergrößerte Kleinstadt, die aus dem Busch, aus dem Dschungel gekrochen ist und am Ufer des Golfs von Guinea haltgemacht hat. Accra ist flach, ebenerdig, elend, doch es gibt auch Häuser, die ein oder mehrere Stockwerke besitzen. Keine raffinierte Architektur, keinerlei Aufwand, kein Pomp. Der Verputz ist einfach, die Wände sind pastellfarben, hellgelb, hellgrün. Und überall Wasserflecken. Unmittelbar nach der Regenzeit noch frisch, bilden sie zahllose Konstellationen und Collagen von Flecken, Mosaike, fantastische Landkarten, Arabesken. Die Innenstadt ist eng verbaut. Dichter, lärmender Verkehr, alles spielt sich auf der Straße ab. Die Straße besteht aus der Fahrbahn, die der offene Rinnstein vom Randstreifen trennt. Es gibt keine Gehsteige. Auf der Straße mischen sich Autos mit Menschen. Alles bewegt sich gleichzeitig dahin. Fußgänger, Autos, Fahrräder, Träger mit ihren Handwagen, Kühe und Ziegen. Am Rand, hinter dem Rinnstein, spielt sich auf der ganzen Länge der Straße das häusliche Leben und das Geschäftsleben ab. Frauen stampfen Maniok, rösten über Kohlen Taro-Knollen, bereiten irgendwelche Gerichte zu, handeln mit Kaugummi, Keksen und Aspirin, waschen und trocknen ihre Wäsche. Alles sichtbar, als gelte hier die Vorschrift, dass alle um acht Uhr morgens das Haus verlassen und sich auf der Straße aufhalten müssen. In Wahrheit ist der Grund ein anderer: Die Wohnungen sind klein, eng und ärmlich. Sie sind dumpf, es gibt keine Ventilation, es stinkt, man bekommt kaum Luft. Außerdem kann man, wenn man sich auf der Straße aufhält, am sozialen Leben teilnehmen. Die Frauen unterhalten sich die ganze Zeit über, sie schreien und gestikulieren, dann lachen sie wieder. Während sie sich über ihre Töpfe oder Schüsseln beugen, haben sie alles im Blick. Sie können die Nachbarn beobachten, die Passanten, die Straße, sie können Streitigkeiten und Tratsch belauschen, Unfälle verfolgen. Der Mensch ist den ganzen Tag über unter Menschen, in Bewegung und an der frischen Luft.

Durch diese Straßen fährt ein roter Ford mit einem Lautsprecher auf dem Dach. Eine heisere, weit hallende Stimme lädt ein, zu einer Versammlung zu kommen. Attraktion der Versammlung wird Kwame Nkrumah Osagyefo sein, Premierminister und Führer von Ghana, Führer von ganz Afrika, aller unterdrückten Völker. Nkrumahs Fotografien sieht man überall – in den Zeitungen (täglich), auf Plakaten, auf Fähnchen, auf den bis zu den Knöcheln reichenden Kattunkleidern. Das energische Gesicht eines Mannes mittleren Alters, lächelnd oder auch ernst, mit einem Ausdruck, der suggerieren soll, dass der Führer in die Zukunft schaut.

»Nkrumah ist der Erlöser!«, sagt der junge Lehrer Joe Yambo mit Begeisterung in der Stimme zu mir. »Hast du gehört, wie er spricht? Wie ein Prophet!«

Ja, ich habe ihn gehört. Er kam zu einer Versammlung, die hier im Stadion abgehalten wurde. Mit ihm kamen seine Minister – jung und rührig, machten sie den Eindruck von Menschen, die sich gut amüsierten, die Freude empfanden. Die Veranstaltung begann damit, dass Priester mit Ginflaschen in der Hand das Podium mit Alkohol besprühten – das war ein Opfer für die Geister, der Versuch, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, ihr Wohlwollen, ihre Gunst zu erlangen. Natürlich kommen vor allem Erwachsene zu diesen Versammlungen, aber es gibt auch viele Kinder – von Säuglingen angefangen, die von den Müttern auf dem Rücken getragen werden, über solche, die gerade krabbeln können, bis zu Kleinen und Schulkindern. Um die Jüngsten kümmern sich die Älteren, und um diese Älteren – noch Ältere. Diese Hierarchie des Alters wird streng eingehalten, der Gehorsam ist absolut. Ein Vierjähriger hat die volle Gewalt über einen Zweijährigen, ein Sechsjähriger über den Vierjährigen. Dadurch, dass Kinder von Kindern beaufsichtigt werden, die Älteren für die Jüngeren verantwortlich sind, können sich die Erwachsenen ihren eigenen Angelegenheiten widmen, zum Beispiel aufmerksam Nkrumah zuhören.

Der Osagyefo sprach kurz. Er sagte, das Wichtigste sei es, die Unabhängigkeit zu erringen – alles Übrige komme dann schon irgendwie von alleine, alles Wohlergehen resultiere eben aus dieser Unabhängigkeit.

Er war stattlich, mit energischen Bewegungen, gut geformten, ausdrucksvollen Gesichtszügen und großen, lebhaften Augen, die aufmerksam über das Meer der schwarzen Köpfe schweiften, als wollte er alle genau zählen.

Nach der Versammlung mischten sich die Leute vom Podium unter die Menge, es entstand ein Gedränge, man konnte keine Bedeckung, keine Leibwächter, keine Polizisten ausmachen. Joe kämpfte sich zu einem...

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