5. Der Poet Veysel im Spiegel seiner Gedichte
Veysels Gedichte spiegeln zugleich auch seinen Lebenslauf und folglich seine persönliche innere Welt. Die mit Hilfe seines Baglamaspiels vorgetragenen Texte enthalten sein achtundsiebzigjähriges Leben in all seinen Facetten. Eines seiner bekanntesten Gedichte ist “Ich laufe auf einem schmalen langen Pfad“, “Uzun ince bir yoldayım“.
Veysel vergleicht das Leben in diesem Gedicht mit einem Haus mit zwei Türen, einer Eingangstür und einer Ausgangstür. Die erste Tür setzt er gleich mit der Geburt des Menschen und die zweite Tür daher mit dem Tod. Alles was dazwischen liegt, vergleicht er mit einem Traum. Der Weg von der ersten Tür bis zur zweiten ist in Wahrheit für ihn nur eine Minute lang. Jedoch ist diese Minute im Traum wie im realen Leben mit viel Tränen und Kummer besetzt. Das Ziel ist für Veysel letztendlich der Tod. Um das Ziel zu erreichen, muss er, sinnbildlich gesehen, Berge und Täler überwinden.
Die Liebe stellt Veysel besonders in den Gedichten “Deine Schönheit“, “Güzelliğin On Par Etmez“ dar. Er definiert sehr ansprechend in diesem Gedicht, dass die Liebe nur vom Herzen kommt und kommen muss und nicht gegenständlich sein kann. Veysel äußert in diesen Versen, dass sogar Schaf und Wolf zusammen kommen könnten, wenn da nicht die großen Unterschiede zwischen den beiden Tieren zu Differenzen führen würden. Wolf und Schaf will er auf die Menschen verstanden wissen. Hier nimmt er Bezug auf radikale politische Differenzen im Land. Schlüsselwörter bedeuten ihm Liebe und Versöhnung.
In dem Gedicht “Wärst du eine Gazelle und ich ein Jäger“, “Sen Bir Ceylan Olsan Bende Bir Avcı“, steht wieder die Liebe im Vordergrund. Die Geliebte ist in diesem Fall eine Gazelle, die er versucht mit seinen „Waffen“ zu erobern. Doch Veysels Waffen sind „Wort“ und “Bağlama“. Anderes hätte ein traditioneller Wandersänger auch nicht aufzubieten. Mit diesen bescheidenen Mitteln möchte er indirekt die Geliebte erobern, ihr seine Liebe gestehen. Unübertrefflich ist der Einsatz der Gazelle. Damit drückt Veysel zugleich aus, dass die gemeinte Geliebte ähnlich schön und grazil ist wie das Tier.
Während er an den Dorfinstituten als Musiklehrer tätig war, ergreift ihn die Sehnsucht zur Heimat und zur Geliebten, hier wohl in Gestalt seiner Ehefrau. Die Kollegen im Institut merken dies Veysel an, dessen tiefes Heimweh nicht zu übersehen ist. Die Diagnose konnte nur Sehnsucht umfassen. Veysel wusste zunächst nicht, wie er sich dem Institutsleiter offenbaren soll. Er meinte, dass er sein Heimweh nach seinem Dorf und die Sehnsucht nach der Geliebten als erwachsener Mann nicht so einfach ausdrücken könne. Die Kollegen haben eine geniale Idee und raten ihm ein Gedicht zu schreiben, aus dem der Institutsleiter Veysels innere Not, erkennen könne. Der Poet Veysel schrieb als Mittel zum Zweck das Gedicht „Ich habe einen neuen Brief erhalten von meiner schönen Geliebten“, „Yeni Mektup Aldım Gül Yüzlü Yardan“.
Das Gedicht ist aus der Perspektive der Geliebten geschrieben, die ihn ebenfalls vermisst, dass sie ihn rufe und die wundervolle Heimat auf ihn warte. Dorf und Umgebung werden in diesem „Brief“ einer bestimmten Jahreszeit ausgeschmückt zugeordnet.
Veysel krönt das Gedicht, mit den Worten: Die Tränen der Geliebten sind die Briefmarke des Briefes. Der Institutsleiter, der dieses Gedicht zu lesen bekommt, genehmigt Veysel den ersehnten Urlaub. In dem Gedicht “Habe ihr nicht gefallen“, “Beğenmedi“, sehen wir, wie Veysel bitter auf die Kritik, die seine Frau wohl äußerte, eingeht. Die Gedichte “Lebe wohl“, “Ayrılık günleri geldi dayandı“ sowie „Freunde sollen sich an mich erinnern“, “Dostlar Beni Hatırlasın“, sind die Gedichte, in denen Veysel seine letzte „Jahreszeit“, die Endphase seines Lebens beschreibt. Er weiß, dass das Leben und der Körper als Materie vergänglich sind, der Tod eine unumstößliche Wahrheit ist. Er drückt besonders in dem Gedicht “Freunde sollen sich an mich erinnern“ aus, dass er keine Angst vor dem Tod hat, sondern überwiegend dafür, er könne von Freunden oder Bekannten vergessen werden.
Er bittet die Gesellschaft, ihn nicht zu vergessen, sich seiner zu erinnern. Das meiner Meinung nach wohl traurigste Gedicht ist Veysels “Letztes Gedicht“, “Son Şiiri“, das er einige Stunden vor seinem Tode seinem Sohn Ahmet Şatıroğlu diktiert.
In diesem Gedicht grüßt er alle Hinterbliebenen und verabschiedet sich von der Verwandtschaft, von Freunden und von allen Lebenden in der Welt. Veysel, der als Wandersänger und Lehrer viele Winkel und Regionen der Türkei und deren Bewohner mit ihren Problemen kannte, setzte sich zwangsläufig mit sozialkritischen und politischen Themen auseinander. In dem Gedicht “Schließe deine Augen nicht wie ein Blinder“, “Yumma Gözün Kör Gibi“, führt er ein Streitgespräch mit dem „Erschaffer der Welt“, mit Gott. Er geht auf die ungerechte Verteilung von „Haben und Sein“ der Menschheit ein. Er als Gläubiger wirft dem Erschaffer der Welt vor, dass dieser mit dem Menschen „spiele“ und kein Auge für die Menschheit und ihre realen Bedürfnisse habe, sondern die Ungerechtigkeit dulde, wobei ER allein die Macht habe, Einseitigkeiten von vorneherein zu vermeiden, indem ER alle Menschen bevorzugter ausstatte, wenn ER dies nur wolle. Niemand könne sich dann ungerecht behandelt fühlen. Veysel spricht in seinen Gedichten ebenfalls den Status der Frau in der orthodox islamisch dominierten türkischen Gesellschaft an und stellt mögliche Korrekturen dar. Veysel findet es unerträglich, dass den Frauen und Müttern, über Jahrhunderte nicht den tatsächlichen Wert, nicht den gebührenden Respekt und nicht den Platz, den sie eigentlich verdient hätten, beigemessen worden wäre. In seinem Gedicht “An meine Mutter“, “Anam“, versucht er, für seine Zeit ungewöhnlich, einen auffallenden Beitrag zur Emanzipierung der Frau in der türkischen Gesellschaft, zu leisten.
Veysel ist ein Patriot, der sein Land liebt. Er liebt alle Menschen des Landes. Er ist gegen rassistische, religiöse sowie ethnische Ausgrenzungen und Auseinandersetzungen jeder Art im Land. Er macht deutlich, dass sie nur kommerziell bedingte künstliche Themen oder Debatten seien. Veysel nimmt die Rolle des Schlichters in dem Gedicht “Solidarität“, “Birlik“, ein. An dieser Stelle wäre erwähnenswert, wie sehr doch die heutigen Debatten in der Türkei denjenigen zur Zeit Veysels ähneln. Veysel, der den Niedergang des Osmanischen Reiches und die Gründung der laizistischen Republik Türkei miterlebte, war bewusst, wieviel er und die türkische Gesellschaft dem Reformer der Türkei, dem Staatsmann Mustafa Kemal Atatürk, zu verdanken hat. Aşık Veysel konnte aufgrund seines ehemaligen Status im Osmanischen Reich gut erkennen,
welche Chancen ihm und den Bürgern der Türkei dieser „Neue Staat“ anzubieten hat, in erster Linie die Anerkennung als Bürger. Dies schloss zugleich Freiheit und Demokratie mit ein. Deshalb liebte er Atatürk von Herzen, nicht jedoch aus Furcht vor der Obrigkeit, wie irgend jemand an dieser Stelle sagen könnte. Aşık Veysel hatte nun nichts mehr zu befürchten. Durch alles Schlimme, das er erlebt hatte, war er abgehärtet. Zukünftig konnte es nur besser werden. Die günstige Wende brachte Atatürk nicht nur für ihn. Aus diesem Grund schreibt er die Gedichte “Atatürk ist die Wiederbelebung der Türkei“, “Atatürk `tür Türkiye`nin Ihyası“ und das berühmte, ja man kann sagen, das mittlerweile zu Kult gewordene Klagelied: “Klagelied an Atatürk“, “Ağlayalım Atatürke“. Für Veysel entsteht und endet alles in der Natur. Er betrachtet den Menschen als einen Bestand der Natur. Daher ist ihm die Natur besonders ehrwürdig. Das Gedicht “Der Wald“, “Orman“, ist schlicht eine perfekt gediehene Naturanalyse. Er macht deutlich, wie wichtig der Wald in vielfacher Form ist. Die Aufgaben, seine Rolle im Leben eines jeden Menschen und der Umwelt stellt er in diesem Gedicht sehr großartig dar.
Deshalb ist auch das Gedicht “Schwarze Erde“, “Kara Toprak“, eine der wichtigsten und bekanntesten Dichtungen. Sie trug enorm dazu bei, dass aus Veysel Şatıroğlu „Aşık Veysel“ wurde. Die schwarze Erde ist ihm sein treuester Freund, der in schlechten und guten Zeiten immer zu ihm stand. Die Erde behandelt ihn gerecht, ist warmherzig, beklagt sich nicht für alles und ist außerdem großzügig. Er fügt hinzu, dass die Erde der Schatz des Erschaffers ist und Menschen und alle Lebewesen versorgt. In diesem Gedicht bittet und weist Veysel daraufhin, dass der Tag kommen wird und ihn eines Tages die schwarze Erde mit Herzen aufnehmen wird. Veysel verkennt nicht, dass alles Unerträgliche durch zu wenig Bildung entsteht, aus „Unbildung“. Als „Vorantreiber“ der Gesellschaft, fühlt er sich verantwortlich, seine Landsleute aufzuklären, welche verheerende Situationen ungebildete Menschen auslösen können, besonders dann, wenn sie Macht ausüben kraft ihres Amtes. Betroffen seien davon einzelne Personen, die Gemeinschaft, die Nation und schließlich die ganze Welt. Er spricht aus Erfahrung, so dass er so weit geht, den Ungebildeten als gefährlich...