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All meine Wege sind DIR vertraut

Von der Untergrundkirche ins Labyrinth der Freiheit

AutorProf. Tomás Halík
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783451813245
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Mit seiner Lebensgeschichte führt uns Tomá? Halík an viele ungewöhnliche Orte und in unterschiedliche Lebenslagen. Er schildert seine Kindheit im Stalinismus, seinen Übertritt zum Christentum, den 'Prager Frühling' und die sowjetische Besatzung im Jahr 1968, seine heimliche Priesterweihe sowie sein Wirken in der 'Untergrundkirche'. Er berichtet von seiner Beteiligung an der 'Samtenen Revolution' im Jahr 1989 und dem Wandel während des Demokratieaufbaus. Dabei dokumentiert er nicht nur seinen intellektuellen und geistigen Reifeprozess, sondern berichtet auch offen von seinen inneren Krisen und Konflikten. Tomá? Halík stellt sich damit in die Tradition des heiligen Augustinus, der mit seinen Bekenntnissen ein neues Genre schuf - die Verbindung der Autobiografie mit theologischen und philosophischen Betrachtungen.

Tomá? Halík, geb. 1948, wurde 1978 heimlich zum Priester geweiht und war enger Mitarbeiter von Kardinal Tomá?ek und Václav Havel. Er ist Professor für Soziologie und Pfarrer der Akademischen Gemeinde Prag. Benedikt XVI. verlieh ihm den Ehrentitel päpstlicher Prälat. 2010 erhielt er den Romano-Guardini-Preis. 2014 wurde er mit dem Templeton-Preis, der höher dotiert ist als die Nobelpreise, ausgezeichnet. Nina Trcka promoviert an der FU Berlin.

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Leseprobe

I. Am Anfang des Weges


Als Marie und Miroslav Halík ihren erstgeborenen Sohn aus der Prager Geburtsklinik nach Hause brachten, fühlten sie sich wie in einem Traum. Die Frau war nämlich annähernd fünfundvierzig Jahre alt und ihr Ehemann fast fünfzig; sie hatten sich damit abgefunden, dass sie kinderlos bleiben würden. Und jener Tag Anfang Juni 1948 währte noch eine Weile wie ein Traum: Eine knappe Stunde später, genau in dem Augenblick, als sie mit dem Kinderwagen durch das barocke Tor des Prager Vyšehrad1 fuhren, begannen in der ganzen Stadt die Glocken zu läuten, Kanonen feuerten feierliche Salven und in der Prager Kathedrale stimmte der Erzbischof das Te Deum an.

Hier aber endet das Märchen und an seine Stelle tritt die harte Realität: Der Glockenklang war das Sterbeläuten der Freiheit und Demokratie in der Tschechoslowakei. Er verkündete, dass soeben der Führer der Kommunistischen Partei, auf die Präsidenten Masaryk und Beneš2 folgend, den Präsidentensitz in der Prager Burg bezogen hatte. Der Putsch, der sich im Februar des Jahres abgespielt hatte, war nun endgültig vollzogen.

Der neue Präsident Gottwald hatte sich an jenem Tag beim Erzbischof Beran3 das Te Deum bestellt. Ein Jahr danach ließ er eben jenen Erzbischof, einen ehemaligen Häftling des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Dachau, für viele Jahre unter Hausarrest stellen. Im darauffolgenden Jahr wurden auf seinen Befehl hin die ersten politischen Gegner des Regimes hingerichtet und danach auch eine Reihe seiner Genossen, die ihm einst zur Macht verholfen hatten. Das Versprechen eines »demokratischen Weges zum Sozialismus«, mit welchem die Kommunisten in der Nachkriegseuphorie sowie nach der Enttäuschung über das Verhalten der westlichen Alliierten beim Münchner Abkommen die Wahlen gewonnen hatten, war gänzlich vergessen.

Aus dem Freundeskreis meiner Eltern begannen nach und nach viele Menschen zu verschwinden – einige ins Exil, andere ins Gefängnis. Hätten Marie und Miroslav nicht ein so kleines Kind gehabt, hätten vielleicht auch sie sich zu einer abenteuerlichen Flucht durch die Sümpfe des Böhmerwaldes entschlossen, hinter die Grenzen eines Landes, über das sich die Finsternis herabsenkte und in dem die eisige Zeit stalinistischen Terrors anbrach.

Drei Tage nach meiner Geburt, noch in der Kapelle der Geburtsklinik, die kurz darauf für dreiundvierzig Jahre geschlossen und in einen Lagerraum umgewandelt werden sollte, wurde ich getauft. Wenn ich die Fotografie dieses Ereignisses betrachte, sehe ich, wie sich vier Männer über mich beugen. Wo war damals der Glaube? Ich ahnte als Säugling nicht, was mit mir geschah. Mein Vater war mit achtzehn Jahren nach dem Fall der Habsburger Monarchie im Zuge der damaligen Kampagne »Weg von Wien – Weg von Rom« aus der katholischen Kirche ausgetreten. Meine beiden Paten, Onkel väterlicher- und mütterlicherseits, waren schon fast seit ihrer Gymnasialzeit nicht mehr in der Messe gewesen. Geradeheraus gesagt, nicht einmal für den Glauben des Priesters, der mich taufte (und der kurz darauf Funktionär einer Bewegung von Kollaborateuren, der »Friedenspriester«, wurde), würde ich es wagen, die Hand ins Feuer zu legen.

Der Samen der Taufe ward in ungepflügte Erde gesät. Die Religion unserer Familie bestand – wie es auch bei weiten Teilen der tschechischen Intelligenz war, die am Ende des Ersten Weltkriegs heranwuchs und dann ihr Leben mit Masaryks Demokratie der Zwischenkriegszeit verband – im Glauben an Humanität, an eine moralische Ordnung, an wissenschaftlichen Fortschritt und an Demokratie. Gewiss überlebte in dieser säkularen Kultur viel Christliches – aber ihr Christlichsein blieb eher »anonym«, durch eine hohe Mauer getrennt von allem, was im Raum der Kirche vor sich ging. Priester wurden von vielen Menschen dieser Generation schon nur noch zur Kindstaufe geladen; zur Hochzeit oder zur Beerdigung kaum noch. Und in den Jahren, die auf meine Geburt folgten, war es im Übrigen schon nicht mehr so einfach und auch nicht ohne Risiko, sich mit einem Priester zu treffen. In jenen Jahren begannen auch Priester zu verschwinden – in Gefängnisse, Arbeitslager, Uranbergwerke, einige ins Exil, andere auf den Hinrichtungsplatz. Die Verfolgung der Kirche und die allgegenwärtige brutale antikirchliche und antireligiöse Propaganda gewannen bei uns eine weitaus größere Intensität als in allen Nachbarländern des »sozialistischen Lagers«, die Sowjetunion mit eingerechnet.

***

Die Stalinisten hatten sich offenbar gerade die Tschechoslowakei für ihr Experiment einer totalen Atheisierung der Gesellschaft ausgesucht. Sie fanden hier für ihr Experiment in einem gewissen Sinne günstige Bedingungen vor. Die dramatische Religionsgeschichte – die Verbrennung des Jan Hus, fünf Kreuzzüge gegen die ketzerischen Tschechen, die gewaltsame Rekatholisierung im 17. Jahrhundert und die Verbindung der katholischen Kirche mit der Habsburger Monarchie – hatte ihre Spuren hinterlassen. Während in Polen die katholische Kirche als Hauptpfeiler der nationalen Identität aufgefasst wurde – gegen das orthodoxe Russland auf der einen und gegen das protestantische Deutschland auf der anderen Seite –, wurden in der Ideologie des modernen tschechischen Nationalismus, der im Zuge der Emanzipation der Tschechen von Wien an Bedeutung gewann, tschechische Identität und Katholizismus als schwer vereinbar wahrgenommen. In Tschechien gab es – im Gegensatz zur Slowakei – schon am Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie und besonders in der Zwischenkriegszeit eine entwickelte Industrie und ein qualitativ hochstehendes System der Allgemeinbildung; dieses Milieu begünstigte jedoch die Säkularisierung. Die traditionellen Dorfgemeinschaften – eine Biosphäre der Volkskirche und Volksfrömmigkeit – wichen der modernen städtischen Kultur und die katholische Kirche war nicht fähig, in diesem neuen Umfeld Wurzeln zu schlagen.

Zum wichtigsten Erzieher der Nation wurde für mindestens zwei Generationen Tomáš Garigue Masaryk, der spätere erste Präsident der Tschechoslowakischen Republik. Seine »Religion der Humanität« bewegte sich zwischen der Kantischen Ethik, dem Comte’schen Positivismus, Tocquevilles politischer Philosophie, dem liberalen Protestantismus, einer romantischen Interpretation des tschechischen Protestantismus und dem Unitarismus seiner amerikanischen Ehefrau. Masaryk war zweifellos ein zutiefst frommer Mensch; er war in seiner Jugend vom katholischen Modernismus beeinflusst gewesen und behauptete bis zum Ende seines Lebens, dass er ähnlich wie Goethes Faust »ein katholisches Herz und einen protestantischen Kopf« habe. Er war jedoch zutiefst enttäuscht von der katholischen Kirche seiner Zeit. Nach dem Fall der österreichischen Monarchie verlangte eine Delegation tschechischer Katholiken, die auch einen bedeutenden Teil des tschechischen katholischen Klerus repräsentierte, in Rom Reformen: die Demokratisierung der Kirche, die Einführung der Nationalsprache in die Liturgie, die Rehabilitation des Jan Hus und die Umwandlung des Zölibats in ein freiwilliges Gelübde. Die Antwort aus Rom war bestimmt und bestand aus einem einzigen Wort: Numquam! Niemals! Der Großteil der reformwilligen Priester nahm dies mit zusammengebissenen Zähnen entgegen; ein nicht geringer Prozentsatz von Priestern und Laien verließ damals jedoch die katholische Kirche. Die tschechischen Kommunisten bauten die älteren antiklerikalen Traditionen später in ihre Ideologie ein, radikalisierten sie und führten sie ad absurdum. Als die Kommunisten an die Realisierung ihres Plans gingen, die neue Gesellschaft als eine Stadt ohne Gott aufzubauen, erklärte der damalige kommunistische Kulturminister: »Wir werden die hussitischen Instinkte unseres Volkes wecken!«

Jahrelang suchte ich nach einer Antwort auf die Frage, warum ein Land, das in ferner Vergangenheit so vor religiöser Leidenschaft glühte, von dem aus Funken reformatorischer Ideen auf alle Weltteile übersprangen, heute – zusammen mit der ehemaligen DDR – zu den am stärksten atheistischen Gebieten Europas zählt, wenn nicht gar der ganzen Welt. Gewiss: Vieles legt ein Blick in die Tragödien der Geschichte nahe, vieles lässt sich als ein Ergebnis jenes Experiments des kommunistischen Regimes zur systematischen Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben wie auch aus Kopf und Herz zweier Generationen begreifen, einiges...

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