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E-Book

Allein unter Amerikanern

Eine Entdeckungsreise

AutorTuvia Tenenbom
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl450 Seiten
ISBN9783518748343
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Seit über drei Jahrzehnten lebt Tuvia Tenenbom in New York. Als er sich 2015 für seine neue Großreportage erstmals auf eine Reise quer durch die USA begab, ahnte er nicht, was ihn erwarten würde: »Ich hätte nie gedacht, dass die Vereinigten Staaten so völlig anders sind, als ich immer angenommen hatte. Lange Jahre war ich überzeugt, dass ich sie ziemlich gut kennen würde. Aber ich bin mir da nicht mehr so sicher. Erst jetzt entdecke ich so nach und nach das wahre Amerika, Stück für Stück, Mensch für Mensch, Staat für Staat.«
Tenenbom reiste von Florida bis nach Alaska, von Alabama bis nach Hawaii, vom Deep South und Bible Belt bis an die Großen Seen und die Westküste, sprach mit Politikern und Predigern, mit Evangelikalen, Mormonen und Quäkern, mit Rednecks und Waff ennarren, Kriminellen und Gefängnisinsassen, mit Indianern und Countrymusikern, Antisemiten und Zionisten, mit Obdachlosen und Superreichen und vielen, vielen mehr.
Die USA rühmen sich, »das Land der Freien und die Heimat der Tapferen« zu sein. Das wahre Amerika jedoch, so Tenenboms bestürzende Erkenntnis, ist weder frei noch tapfer, sondern ängstlich darauf bedacht, alle Freiheiten einzuschränken. Es ist in sich zutiefst gespalten, rassistisch und hasserfüllt. »Kann sich die Menschheit auf die USA verlassen? Ich würde es nicht tun.«

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<p>Tuvia Tenenbom, 1957 in Tel Aviv geboren, stammt aus einer deutsch-j&uuml;disch-polnischen Familie und lebt seit 1981 in New York. Er studierte u. a. englische Literatur, angewandte Theaterwissenschaften, Mathematik und Computerwissenschaften sowie rabbinische Studien und Islamwissenschaften. Er arbeitet als Journalist, Essayist und Dramatiker und schreibt f&uuml;r zahlreiche Zeitungen in den USA, Europa und Israel, darunter f&uuml;r <em>Die Zeit</em>. 1994 gr&uuml;ndete er das Jewish Theater of New York.</p>

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Leseprobe

1. ETAPPE Auf der 1000 Menschen zusammenkommen, um Ich liebe dich zu sagen


5 597 551 Kunden zählt die New Yorker U-Bahn an einem durchschnittlichen Werktag laut Metropolitan Transportation Authority.

Die eins da am Ende, das bin ich.

Ich nehme die U-Bahn zur Penn Station.

Wenn ich U-Bahn fahre, pflege ich etwas zu tun, was ein New Yorker im Traum nicht täte: Ich betrachte die Leute um mich herum. New Yorker tun das nicht. Wo auch immer ihre Körper sich begegnen – im Aufzug, im Zug, im Café oder bei Macy’s –, ihre Blicke tun es nicht. Die eiserne Regel lautet: Wenn man sein Gegenüber nicht kennt, denkt man nicht einmal daran, ihm ins Auge zu schauen.

Ich halte mich nicht an diese Regel.

Ich kam vor 35 Jahren von Israel nach New York und benehme mich immer noch wie ein ahnungsloser Ausländer.

Um ehrlich zu sein, habe ich vor Jahren versucht, mich zumindest ansatzweise an diese Regel zu halten. Ich schaute Frauen an, vor allem wenn sie attraktiv waren, nicht aber Männer. Sozusagen wie ein Halbahnungsloser. Aber die Zeiten haben sich geändert. Wenn man heute eine Frau anblickt, ob attraktiv oder nicht, könnten die Gesetzeshüter darin eine sexuelle Belästigung erkennen und einen in null Komma nichts ins Gefängnis stecken. Um für diesen Fall eine Art Alibi zu haben, mustere ich auch die Männer.

Schließlich erreicht die Bahn die Penn Station, einen großen Verkehrsknotenpunkt. Draußen sehe ich einen Mann, der, aus welchem Grund auch immer, einen BH anhat und diesen hochintelligenten Spruch von sich gibt: »Beweg deinen verdammten Nuttenarsch hier raus.« Er ruft das zu jemandem oder etwas, das ist nicht wirklich klar, aber niemand beachtet ihn.

Und das ist die zweite Regel in New York: Du mischst dich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute ein. Wenn jemand vor dir auf den Boden pinkelt und eine unangenehme Pfütze deinen Weg kreuzt, dann hast du es nicht gesehen.

In deine Richtung zu pinkeln ist okay, dich anzuschauen nicht.

So ist das Leben nach New Yorker Art.

Mit dem Einbruch der Nacht zieht es die Obdachlosen zur Penn Station. Sie bevölkern die Bürgersteige der umliegenden Straßen. Sie schlafen auf den Gehwegen dieser Stadt, die niemals schläft. Manche bringen Kartons mit und basteln sich eine Pseudobehausung, während andere nur Plastiktüten haben, um sich vor Ratten, Straßenlampen und dem Wind zu schützen.

In Israel sah ich streunende Katzen auf den Bürgersteigen, hier sind es Menschen.

Ich kenne die Gegend. Mein Büro ist gleich da über die Straße.

Ich mag New York. Vor allem mag ich es wegen der Berechenbarkeit seiner Bewohner. Hier leben Millionen von Menschen, von denen einige Schwarze sind, einige Spanier, einige Weiße, einige Asiaten, einige Juden, einige Russen, und ein paar Mormonen gibt es auch. Mit wem auch immer man es zu tun bekommt, man kann sicher sein, dass er, egal was man zu ihm sagt, mit einer der folgenden Formeln reagieren wird: »That’s awesome!« »Oh, my God!« »Really?« »Great!« »Oy!« »Yo, man!« »Cool!« »Absolutely!« »Love it!« sowie »What a fucking fuck motherfucker!«

Berechenbarkeit.

Natürlich darf man nicht »Schwarze«, »Spanier«, »Juden«, »Asiaten« oder »Araber« sagen, weil diese Wörter nicht PC sind, nicht politisch korrekt. Selbst »Obdachlose« kann man nicht mehr sagen. Man muss Afroamerikaner, Hispanics, amerikanische Juden, Amerikaner asiatischer Abstammung, amerikanische Muslime und »anders Ausgestattete« sagen, womit die Obdachlosen gemeint sind. »Weiße« kann für sich stehen, weil sie sich immerhin diese Regel ausgedacht haben, und »Mormonen« kann auch für sich stehen, weil Mormonen unter PC-Gesichtspunkten derzeit nicht zählen. Warum nicht? Darum nicht.

Politisch superkorrekte Leute sprechen übrigens von »Kaukasiern«, wenn sie Weiße meinen; sie wünschen an Weihnachten jedermann Happy Kwanzaa (lange Geschichte) und würden mir niemals direkt ins Gesicht sagen, dass ich dick bin, obwohl ich es nun einmal bin.

In politisch superkorrekter Sprache können Sie mich gerne als »anders Dünnen« bezeichnen, wenn Sie sich dadurch besser fühlen.

Hoppla, beinahe hätte ich eine andere wichtige Gruppe vergessen, die Gays & Friends, zu denen auch Lesben, Bisexuelle und Transgender gehören. Diese Gruppe, auch unter den Kürzeln LGBT oder LGBTQ (das Q steht für Queer oder für Questioning) bekannt, ist eine der heiligsten auf Erden. Wenn man sich über sie lustig macht, wird man geächtet, verliert seine Arbeit und seinen Ehepartner.

Warum? Darum.

Es gibt auch asexuelle Menschen in New York, aber die zählen nicht.

Darum.

Diese Regeln, die nur ein Auszug aus einer langen Liste weiterer Regeln sind, verleihen New York seinen ganz besonderen Kitzel und erklären auch, warum ein Apartment von der Größe eines kleinen Klos 5000 Dollar im Monat kostet.

Die New Yorker sind darüber hinaus für ihre Geschäftigkeit bekannt. Tatsächlich ist jeder New Yorker und jede New Yorkerin, die ich kenne, extrem beschäftigt, selbst wenn er oder sie nichts zu tun hat und seit fünf Jahren arbeitslos ist.

Sollte ich mich nicht auch beschäftigen?

Vielleicht, sage ich mir, sollte ich ein paar Leute in dieser Stadt interviewen, bevor ich mich auf meine lange Reise begebe. So zum Warmwerden.

Nun, warum nicht?

Gegenüber meinem Büro befindet sich ein Irish Pub, den ich jetzt betrete, um mir meinen ersten Interviewpartner zu suchen.

Ich finde ihn in einem Bild von einem Luftwaffenoffizier, einem gutaussehenden jungen Schwarzen, der sich prächtig mit einer Schönen zu amüsieren scheint und fröhlich Bier trinkt, während er sich über eine Portion Fish and Chips hermacht.

Ich spreche ihn an.

Die amerikanische Nationalhymne, sage ich zu ihm, bezeichnet Amerika als Heimat der Tapferen. Was bedeutet das?

»Wir treten jeden in den Hintern.«

Warum?

»Weil wir es können.«

Damit das klar ist: Er ist nüchtern. Gott weiß, was er erst von sich geben wird, wenn der Alkohol ihm zu Kopf steigt.

Ich kehre in mein Büro zurück. Es ist nicht schön, eine Reise in diesem Ton zu beginnen.

Brandy, eine kluge Frau, die davon träumt, Schriftstellerin zu werden, besucht mich in meinem Büro, und ich bitte sie, mich an ihrer Weisheit teilhaben zu lassen und mir ein oder zwei Fragen zu beantworten.

Freudige Zustimmung.

Warum ist Amerika 2003 in den Irak einmarschiert?, frage ich sie.

»In Amerika stellt niemand solche Fragen! Du verstehst Amerika nicht. Nach dem Warum zu fragen ist so unamerikanisch!«

Aber warum ist Amerika in den Irak einmarschiert? Ich meine, was glaubst du?

»Das willst du wirklich wissen? Gut. Es gab da einen Schurken, wie hieß er nochmal, und wir gingen da hin, um ihn zu bekämpfen, und als wir da waren, kamen weitere Gründe hinzu, warum wir da waren, und das war’s.«

Brandy ist eine Amerikanerin, hier geboren und aufgewachsen, und so sieht sie sich selbst: »Ich mag die schlechten Seiten an Amerika. Die Gier, die großen Autos, die Empörung, wenn Bedürfnisse nicht unmittelbar befriedigt werden. Und dafür ziehen wir in den Krieg.«

Ich muss mir mehr Mühe geben, sage ich mir, und mir Menschen suchen, die Positives über dieses Land zu sagen haben. Wenigstens für den Anfang!

Um dieses noble Ziel zu erreichen, werde ich wohl oder übel meinen dicken Hintern bewegen, mein Büro verlassen und über meine Komfortzone an der Penn Station hinausgehen müssen.

Nur wohin?

Nun, warum nicht auf eine Pressekonferenz?

New York ist der Ort, an dem Dinge bewegt werden: in Privatclubs, in denen sich die Reichen treffen, um zu entscheiden, welches Projekt sie als Nächstes finanzieren werden. Auf Geschäftsessen, bei denen sich die Superreichen mit den von ihnen bezahlten Politikern treffen. Und dann gibt es da noch diese Pressekonferenzen, die Journalisten dazu verleiten sollen, wohlwollend über dieses oder jenes Thema zu schreiben.

Ich bin unzählige Male bei solchen Geschäftsessen von Entscheidern und Veranstaltungen in Reichenclubs gewesen, von denen die meisten inoffiziell waren. Über Pressekonferenzen aber kann man berichten. Und so gehe ich auf die Pressekonferenz einer PR-Firma, deren einziger Existenzzweck darin besteht, Journalisten Zuneigung für Homosexuelle einzuflößen.

Schon lustig, wie die Dinge funktionieren.

Einer der Journalisten auf der Pressekonferenz, ein ausländischer, hat folgende Frage: Erst vor wenigen Tagen habe der Moskauer Oberrabbiner kundgetan, er würde zwar keine Schwulen töten, ihre Tötung aber billigen. Wird diese PR-Firma, wüsste er gerne, etwas in dieser Angelegenheit unternehmen?

Merkwürdige Geschichte. Wenn sie stimmt, möchte ich nach Moskau fliegen und diesen Rabbiner interviewen. Das klingt reichlich bizarr. Aber stimmt es auch?

Um das herauszufinden, besuche ich den einen Mann in New York, der es mit größter Wahrscheinlichkeit wissen müsste. Abe Foxman, den Vorsitzenden der Anti-Defamation League (ADL), kenne ich zufälligerweise persönlich.

Abe hat keinen Schimmer, wovon ich spreche. Er hat noch nie etwas von dieser Geschichte gehört und weiß nicht, warum jemand so etwas erzählen sollte.

Vielleicht, sage ich...

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