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Als Flüchtlingskind in Harpstedt

Ein Erlebnisbericht über die Jahre 1945 bis 1952

AutorHorst Klein
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl278 Seiten
ISBN9783656298403
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Fachbuch aus dem Jahr 2012 im Fachbereich Geschichte Europa - and. Länder - Neueste Geschichte, Europäische Einigung, , Sprache: Deutsch, Abstract: Nein, leicht waren sie nicht, die ersten Nachkriegsjahre, vor allem nicht für unsere Mutter, aber auch nicht für uns sieben Kinder. In Ostpreußen hatten wir zwar keines der sprichwörtlichen Rittergüter besessen - wie ein Großteil unserer Landsleute - aber doch einen kleinen Hof und eine Schmiede / Landmaschinenschlosserei, die der Familie zu einem guten Auskommen und einem bescheidenen Wohlstand verholfen hatte. Mit alledem war es schlagartig vorbei, als die Rote Armee in unser kleines Grenzdorf eindrang. Wir konnten für die Flucht in den Westen, die in der Nacht davor begann, nur das Allernötigste auf unseren Planwagen laden. Nach gut zwei Monaten 'unterwegs' fanden wir in Harpstedt, einem Marktflecken südlich von Bremen, in einem Behelfsheim, einer großen Doppelbaracke mit zweimal sechzehn Familien, für die nächsten sieben Jahre eine Bleibe. Ich beschreibe in meinem Bericht, wie wir die Endphase des Krieges und die Kapitulation in Harpstedt miterlebten, welche Anstrengungen meine Mutter unternehmen musste, um die sieben Kinder durch die mageren Jahre zu bringen und wie wir Kinder bei diesen Arbeiten im Wald und auf den Äckern der Bauern eingespannt wurden. Die nicht immer spannungsfreien Beziehungen zwischen den Einheimischen und den vielen zwangseinquartierten Flüchtlingen werden ebenso thematisiert wie das Zusammenleben der sehr vielen unterschiedlichen Familien auf dem engen Raum der Baracken. Aber auch die angenehmen Seiten der Kindheit werden gewürdigt, die typischen Spiele der Nachkriegszeit - ohne gekauftes Spielzeug, ohne Telefon, Fernsehen, Computer - und das Problem der Schul- und der Berufs-Ausbildung. Es gibt einige Rückblicke in die Vergangenheit - Ostpreußen und Flucht - und einige Ausblicke in spätere Zeiten, geprägt von den Erfahrungen in der Baracke.

Ich wurde am 14. August 1941 in dem kleinen Dorf Groß Lensk im Süden Ostpreußens, im deutsch-polnischen Grenzland, geboren. Der Bezirk Soldau, in dem der Ort liegt, war 1920 den Polen übergeben worden, 1939 hatte Hitler ihn wieder dem Deutschen Reich eingegliedert. Ich erblickte also - anders als meine älteren Geschwister - in 'Deutschland' das Licht der Welt. Im Januar 1945 ging die Familie auf die Flucht, im März 1945 kamen sie mit ihrem Pferdewagen in Harpstedt, Kreis Grafschaft Hoya, an. Sieben Jahre lebten sie in der großen Baracke am Ortsrand, zogen dann in das benachbarte Dörfchen Dünsen in ein kleines Holzhaus, von da nach Bremen, wo ich mein Abitur machte. Nach einem Studium der Geschichte und der Germanistik in Kiel wurde ich dort Gymnasial-Lehrer, heiratete Hella Feder und bekam mit ihr zwei Töchter, Katja und Anja. 1982 ging die kleine Familie nach Spanien, wo meine Frau und ich in Valencia an der Deutschen Schule als Lehrer arbeiteten und die Töchter ihre Schulausbildung abschlossen. Ein zweiter Auslandsaufenthalt führte Hella und mich in den Süden Spaniens, nach Marbella, ein dritter in den Norden Mexikos, wo wir an der Einführung des Deutschen Sprachdiploms bei den Mennoniten mitarbeiteten. Nach schwerer Erkrankung (erst Hella mit einem Schlaganfall, dann ich mit einer Herzoperation) mussten wir den Schuldienst vorzeitig beenden. Wir zogen zurück nach Marbella, wo wir nun in einer schönen Siedlung vor der Stadt ein Haus mit Garten und kleinem Pool bewohnen.

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Leseprobe

2. Wenn Du im Herzen Frieden hast, wird Dir die Hütte zum Palast


 

Der Umzug


 

Im Oktober 1945 – gerade noch rechtzeitig zu Beginn der gefürchteten kalten Jahreszeit – wurde uns mitgeteilt, wir könnten endlich umziehen in die Baracke am Logeweg. Dort sammelte man die Ostpreußen, die mit uns zusammen nach Harpstedt gekommen waren, aber auch einige uns gänzlich fremde Flüchtlinge waren dort untergebracht, zum Teil aus Schlesien oder anderen Ostgebieten.

 

Also wurde noch einmal unser Fluchtwagen aus der Remise gezogen, noch einmal  wurden die beiden Pferde, die ja bei Wittgräfes arbeiteten und die das Wagenziehen gewöhnt waren, vorgespannt, noch einmal wurden die wenigen Habseligkeiten, die wir aus Ostpreußen mitgebracht hatten, aufgeladen (die Möbel des Roten Kreuzes blieben in der Funkerbaracke zurück, man hatte uns gesagt, die neue Wohnung in der großen Baracke sei möbliert), ein paar Säcke mit Kartoffeln und Holz kamen dazu und auch einer mit Steckrüben. Noch einmal versammelte sich die ganze Familie auf dem Wagen wie auf der Flucht. Nur Olla fehlte. Herr Wulferding saß neben Mutti auf dem Kutschbock und hielt die Zügel. Ein Stück weit knirschten die eisenbeschlagenen Räder durch den Weg zwischen den Gärten, es ging vorbei am Hof der Wittgräfes. Die ganze Familie stand draußen, um den Auszug mitzuerleben.

 

„Wir sagen gar nicht groß auf Wiedersehen“, rief ihnen Mutti im Vorbeifahren zu, „wir kommen ja oft wieder, die Kinder zum Spielen, ich zum Arbeiten.“

 

„Dennoch: Wir wünschen euch viel Glück in der neuen Bleibe – und wenn euch etwas fehlt, kommt einfach zu uns, vielleicht können wir ja helfen.“

 

„Danke, danke für alles, was ihr für uns getan habt und auch für die guten Wünsche.“

 

Im Sommer 2006 hatte unsere Tochter Katja  ein Familientreffen organisiert – es fand diesmal nicht in Bremen statt, sondern in Dünsen, in „unserem“ Hotel Waldfrieden, neben dem wir nach unserem Auszug aus Harpstedt einige Jahre gewohnt hatten, bevor wir nach Bremen gezogen waren. Meine Frau  Hella und ich hatten dort im Hotel  schlafen wollen, aber man hatte Irmgard, die für uns telefonierte, gesagt, es sei kein Zimmer frei, und so hatte sie uns eine Übernachtung in Harpstedt in der renovierten Wasserburg gebucht.

 

 

(21) Die Wassermühle nach dem Bombenangriff  

 

 

(22) Hotel und Gasthof „Wasserburg“ heute

 

Von dort aus lief ich abends allein durch den Flecken und kam auch beim Hof  Wulferding vorbei, besah mir die Stallungen etc. und ging dann zu dem Seiteneingang, an dem ich eine Klingel sah. Es stand tatsächlich noch „Wulferding“ auf dem Klingelschild - und so nahm ich mir denn ein Herz und drückte auf den Klingelknopf. Es dauerte eine Weile, dann ging Licht an und die Tür wurde geöffnet. Ein Mann um die sechzig, bekleidet mit einem grünen Overall, öffnete mir die Tür. Ich stellte mich vor: „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich hier so einfach klingele, aber wir haben hier nach dem Krieg einige Zeit gewohnt. Mein Name ist Klein, Horst Klein.“ Er bat mich freundlichst herein, wir gingen durch einen Flur, in dem es sehr streng nach Schwein roch, und dann öffnete er die Tür zu dem Wohnzimmer. Der Fernseher lief, in der Ecke saß eine deutlich sichtbar kranke Frau in einem Sessel, die Füße hochgelegt, kaum Haare auf dem Kopf. Mir wurde ein Stuhl angeboten, er aß zu Ende (ich hatte ihn beim Abendessen gestört), schob den Teller weg und dann plauschten wir eine gute Viertelstunde. Es war Heinz Wulferding, der kleine „Heinzi“, wie wir ihn alle genannt hatten. Knapp zwei Jahre war er alt gewesen, als wir nach Harpstedt kamen… Wir frischten Vergangenheit auf, mit der Wesner-Tochter habe er jahrelang gespielt, an unsere goldbraune kräftige Stute, den „Litauer“, erinnerte er sich gut. Man  erkannte sie vor allem an der langen Narbe am Hals, die ihr beim Versuch, sie von der Weide zu stehlen, von einem der Diebe beigebracht worden war. Er war sehr an unserer Familie interessiert, was denn aus allen geworden sei, wollte er wissen. Ich machte mehrfach Anstalten zu gehen, weil ich wusste,  dass Hella wartete, weil wir natürlich gemeinsam zu Abend essen wollten, aber er drängte mich mit einer solchen Herzlichkeit, dass ich sitzen blieb.

 

Ja, seine beiden Schwestern, Wendel und Annemarie, wohnten ganz in der Nähe, die Mutter sei natürlich schon tot. Er betreibe nun allein den Hof, habe die allgemeine Bauernwirtschaft weitgehend aufgegeben und züchte Ferkel – er zeigte mir stolz die Zuchtsauen und die etwa vierzig Ferkel, die auf der Diele hinter Strohballen untergebracht waren und den oben angedeuteten Duft im ganzen Haus verbreiteten. Nein, reich werden könne man damit nicht – die Ausstattung des Hauses bewies das – aber man könne davon leben. Ihre Ansprüche seien bescheiden und sie seien zufrieden. Ich erzählte ihm von der Familienchronik, die ich im letzten Jahr abgeschlossen hatte und erwähnte auch, dass ich dort einen Dank an Wittgräfe/Wulferding formuliert habe, den ich ja jetzt doch noch direkt und mündlich überbringen könne, wenn auch leider nicht mehr an unsere damaligen Wohltäter…

 

Als ich in die Wasserburg zurückkam, schaute Hella mich ein wenig vorwurfsvoll fragend an, war dann aber ganz verständnisvoll, als ich ihr von meinem Gespräch mit „Heinzi“ erzählte. Sie hatte es sich mit einem  Gläschen Sekt gut gehen lassen – und wir bestellten dann ein  Abendessen.                                                    

 

Am nächsten Morgen besuchte ich die Harpstedter Kirche, fand im Eingang auch den Namen unseres Vaters als Gefallenen der Gemeinde, dann besuchten wir eine Reihe alter Plätze in den Wäldern um Harpstedt und Dünsen und Ippener, wo wir – die Kleins -  Bombensplitter gesammelt und Hunderte von Stunden beim Blaubeerpflücken verbracht hatten…Nostalgie pur.

 

 

(23)  a. Der Wulferding-Hof; Seitenansicht mit Eingang,

 

b. Stallungen und Nebengebäude: Hier war der Luftschutzkeller untergebracht

 

Der Wagen bog in die Mullstraße ein, die Räder polterten nun über das Kopfsteinpflaster wie vor einem halben Jahr, als wir hier in umgekehrter Richtung unterwegs gewesen waren. Durch die Lange Straße führte nun der Weg, vorbei an den schon wieder kahlen Linden auf dem Marktplatz vor der Kirche. „Wisst Ihr noch…“, fragte Mutti, „wie verzweifelt wir waren, damals…“ Oh ja, alle erinnerten sich gut, sechs Monate sind keine Zeit, um so ein Erlebnis zu vergessen.

 

Am Ende der Langen Straße ging es am Trafo-Haus nach links weiter in die Schulstraße, vorbei an dem hohen Schornstein und an der Sägerei Gröper. Hier lenkte Herr Wulferding den Wagen nach links über eine große leere Fläche, die zum Teil mit schwarzem Schotter bedeckt war, zum Teil aus Grasland bestand.  Am Rande dieser kahlen Fläche standen zwei lange, braune, zweistöckige Baracken – unsere Bleibe für die nächsten sieben Jahre.

 

Die Baracken lagen am südlichen Rand von Harpstedt, ganz dicht bei der RAD-Baracke, die demnächst die Schule beherbergen sollte. Gegenüber gab es noch einen Bauernhof der Familie Horstmann, ansonsten dehnten sich hinter der Baracke die Felder bis hin zum Schwarzen Berg, der wilden Müllkippe des Ortes. Ringsherum gab es Bauernland, ein Stück weiter Wiesen, Wiesen, die bis an die Delme reichten.

 

Die Nazi-Organisation Todt hatte die beiden Baracken 1943 erbaut, und zwar als Ausweichquartier für die Harpstedter, die nach dem halbstündigen Bombardement am 21. Februar 1943 ihre zerstörten Häuser nicht mehr bewohnen konnten. Sie wurden von diesen Ausgebombten jedoch nur kurz benutzt: Trotz des kriegsbedingten Materialmangels gelang es ihnen sehr schnell, ihre Häuser wieder bewohnbar zu machen. Nach unserem Einzug wohnten nur noch die Harpstedter Familien Witte und Windels dort. Vorübergehend benutzen dann Ausgebombte aus dem Ruhrgebiet diese Notunterkünfte. Als sie  nach Kriegsende eine Wohnung nach der anderen räumten und in ihre Heimatstädte zurückkehrten, wurden dort Flüchtlinge aus Schlesien und wir Ostpreußen  eingewiesen.

 

Da Mutti nicht wusste, wo wir untergebracht werden sollten, lenkte Herr Wulferding unseren Wagen  zwischen die beiden Gebäude und hielt neben dem Löschteich. Ein Angestellter der Gemeindeverwaltung, der auf uns gewartet hatte, kam an den Wagen heran.

 

„Sie sind die Familie Klein?“

 

„Ja, wir wollen hier einziehen.“

 

„Kommen Sie,...

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