II. Alternative Heilmethoden beurteilen
Angebote der Komplementärmedizin sind sinnvolle und notwendige Ergänzungen der überwiegend materialistisch ausgerichteten Universitätsmedizin. Allerdings sind nicht alle Angebote alternativer Heilmethoden wirklich empfehlenswert. Keine neutrale Prüfungsinstanz informiert über Relevanz und Zuverlässigkeit alternativer Therapien. Wer keine gesundheitlichen oder geistlichen Risiken eingehen möchte, wer nicht irgendeinem Gesundheitsscharlatan auf den Leim gehen oder sich quasi nebenbei einer neuen Religionsgemeinschaft anschließen will, muss sich deshalb selber kundig machen. Dabei sollten weder alle unbekannten Heilmethoden pauschal abgelehnt noch alle Heilungsversprechen pauschal geglaubt werden. Über Probleme, Nebenwirkungen oder religiöse Voraussetzungen des fraglichen Angebots informieren deren Vertreter zumeist nicht. Doch wer sich einem Therapeuten anvertraut, sollte Zeit und Mühe nicht scheuen, zuerst gründlich zu überprüfen, ob das Vertrauen wirklich angebracht ist.
Eine Liste aller akzeptablen alternativen Heilkonzepte endgültig zusammenzustellen ist nicht möglich, weil a. ständig neue Methoden erfunden, entdeckt und verändert werden, b. Therapien zum Teil nach einigen Jahren die Namen wechseln, c. die anerkannte Wissenschaft ständig Fortschritte auf den Gebieten der Biochemie, Psychologie, Pharmazeutik, klinischen Forschung usw. macht, teilweise auch alte Ergebnisse revidiert und oft durch wissenschaftliche Schulen geprägt ist, d. wenig neutrales Material über alternative Heilmethoden vorliegt, sodass zuverlässige, dauerhafte Beurteilungen in den meisten Fällen nicht getroffen werden können.
Bei der Prüfung alternativer Heilmethoden sollten folgende erkenntnistheoretische Denkvoraussetzungen berücksichtigt werden:
1. Die Welt beschränkt sich nicht nur auf das Sichtbare, rein Materielle, sondern umfasst auch eine, nur bedingt zugängliche Dimension übernatürlicher Kräfte und Mächte, die mit Menschen in Kontakt treten und ihr irdisches Leben beeinflussen kann. Diese geistliche Dimension entspringt nicht menschlichem Willen oder menschlicher Vorstellung, sie lässt sich nicht von Menschen steuern oder kontrollieren.
2. Eigene oder fremde individuelle Erfahrungen (Heilungen, Empfindungen, Ahnungen usw.) sind in der Bewertung alternativer Heilmethoden nur eingeschränkt verwertbar, solange sie nicht aus plausiblen Gründen verallgemeinert werden können und solange sie sich nicht im Einklang mit eindeutigen statistischen, naturwissenschaftlichen und geistlichen Beobachtungen befinden. Individuelle Erfahrungen sind immer interpretationsbedürftig.
3. Es ist sinnvoll, für den Verstand logische und dem Rahmen dieser realen Welt entsprechende Aussagen zu machen. Das, was den Prinzipien der Logik grundsätzlich widerspricht, ist im höchsten Grade unwahrscheinlich und muss verworfen werden.
4. Plausibel begründete wissenschaftliche Ergebnisse werden als in einem hohen Grad wahrscheinlich akzeptiert und in die Beurteilung alternativer Heilmethoden miteinbezogen.
Bei der konkreten Entscheidungsfindung bezüglich der Anwendung alternativer Heilmethoden können folgende Prüfungskriterien eine erste Hilfe bieten:
1. Das Phänomen feststellen
Aufgrund der verfügbaren Fakten muss festgestellt werden, ob es eine aussagekräftige Zahl von Heilungen gegeben hat, da sich sonst jede weitere Beschäftigung mit der Methode erübrigt. Die Wahrhaftigkeit möglicher Heilungen lässt sich natürlich nicht aus den Werbeschriften der alternativen Medizinvertreter oder aus anekdotischen Einzelerfahrungen ableiten.
Der Nachweis der Wirksamkeit muss klar und eindeutig erbracht werden. Die Wirksamkeit eines Heilverfahrens kann mit folgenden Fakten nachvollziehbar belegt werden:
• Eine Krankheit ist eindeutig diagnostiziert worden.
• Der Patient hat nicht mehrere medizinische Therapien gleichzeitig angewandt.
• Die Heilung vollzieht sich in zeitlicher Nähe zur Behandlung.
• Die positive Veränderung ist neutral nachweisbar (z. B. das Geschwür ist verschwunden, die Medikamente können abgesetzt werden).
• Die Besserung ist dauerhaft und entspringt nicht nur einem kurzzeitigen emotionalen Erlebnis. Die Beschwerden der betreffenden Krankheit sind auch nach längerer Zeit noch verschwunden. Der Patient lebt länger oder hat deutlich weniger Beschwerden als ohne Anwendung der fraglichen Heilmethode.
• Heilungen sind bei einer größeren Zahl von Patienten belegbar – mehr als bei Placebo-Behandlungen (bis ca. 50 Prozent). Einzelheilungen müssen in keinem wirklichen Zusammenhang mit der beworbenen Therapie stehen.
2. Die Glaubwürdigkeit von Therapieentwicklern und Anwendern
Grundsätzliche Informationen über den Entdecker oder Verbreiter der entsprechenden Methode helfen bei einer ersten Einordnung. Dabei geht es nicht darum, die Heilmethode sofort, bei dem leisesten Zweifel an der Integrität ihres Erfinders zu verwerfen. Aber man sollte die betreffende Methode desto kritischer untersuchen, wenn sich erweisen sollte, dass der Heilkundige ein Leben als Betrüger führte oder fachlich vollkommen inkompetent war. Bedenken sind auch berechtigt, wenn der Entdecker oder Betreiber einer Komplementärmedizin seine eigenen Einstellungen besonders häufig verändert, wenn er seine akademischen Titel auf obskurem Weg erhalten hat, wenn er Kontakte zu kriminellen Kreisen unterhält oder eine offensichtliche Sympathie zu eindeutig okkulten Methoden zeigt.
Oft erkennt man problematische Verfahren im Alltag auch an folgenden Eigenschaften:5
1. Emotionaler oder magischer Appell: die meisten Verfahren versprechen Wirkung, aber keine Nebenwirkungen, sind also »sanft und natürlich«, »biologisch«, »ganzheitlich«, »alternativ« etc.
2. Entdeckungen werden im Alleingang gemacht, durch einen ominösen Erfinder.
3. Die Bekanntmachung der Entdeckung erfolgt in den Medien und nicht über die üblichen Kanäle der wissenschaftlichen Mitteilung.
4. Informationen über die Methode werden vor allem durch Mund-zu-Mund-Propaganda und Empfehlungsschreiben geheilter Patienten verbreitet.
5. Keine unabhängigen Bestätigungen der neuen Therapie liegen vor.
6. Die Medizin-Produkte sind häufig biologisch oder chemisch schlecht definiert.
7. Die Verfahren haben vorgeblich keine Kontraindikationen (Gegenanzeigen), sondern sollen für jeden Patienten in fast jeder Lebenssituation anwendbar sein. Die Methode soll bei vielen oder allen Krankheiten und in allen Krankheitsstadien wirken.
8. Die Verfahren sind in der Regel oberflächlich einleuchtend: eine Ursache – eine Heilmethode. Man will z. B. den Krebs aushungern, den Tumor von innen heraus verbrennen (Ganzkörperhyperthermie), negative Energien neutralisieren, Widerstandskräfte stärken, das psychische Gleichgewicht wieder herstellen etc.
9. Die Therapie wird als der große Durchbruch angekündigt (»Galilei-Trick«: Es sei eine neue, über die bisherige Wissenschaft hinausgehende Erkenntnis. Es handele sich um eine Verschwörung, deshalb sei sie bisher noch nicht bekannt. Die pharmazeutische Industrie versuche, die neue Therapie zu verhindern, etc.).
10. Die Methode wird laufend »angepasst« (Überprüfung unmöglich, Misserfolge werden so für den Patienten plausibel).
11. Therapeuten werben mit nicht belegbaren akademischen Scheintiteln oder undurchschaubaren wissenschaftlichen Instituten.
3. Die Erklärungen überprüfen
In einer nächsten Phase erscheint es sinnvoll, die angebotenen Erklärungen über die Krankheit und die angestrebte Heilung zu überprüfen: a. ob die Konzeption logisch möglich ist, b. ob sie sich selbst oder der täglichen Erfahrung in bestimmten Fällen widerspricht, c. ob sie wissenschaftlich bestätigt oder widerlegt werden kann.
Falls die zu überprüfende Heilmethode angibt, sich auf Naturgesetze und -kräfte zu beziehen, kann dieser Anspruch bestätigt oder widerlegt werden. Es gibt jedoch auch Therapien, wie einige schamanische Praktiken, die vorgeblich göttliche Kräfte nutzen, die sich in Pflanzenteilen oder Mineralien manifestieren sollen. Bei genauem Hinsehen jedoch sind es nicht die geheimnisvollen Beschwörungsrituale, die helfen, sondern die vom Heiler unbenannten chemischen Substanzen, die positiv auf den Körper wirken. Diese Methoden wirken auf wissenschaftlich belegbare Weise, ohne dass die entsprechenden Therapeuten davon wissen oder es den Patienten wissen lassen.
Die überwiegende Zahl der Heilmethoden aber...