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E-Book

Am Tor zur Hölle

Der Weg eines Soldaten zum Zen-Mönch

AutorClaude AnShin Thomas
VerlagTheseus Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783899018011
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe von 'Krieg beenden - Frieden leben'. Mit einem Vorwort von Robert Atzorn und zwölf Abbildungen. 'Dieses Buch ist mehr als ein biografi sches Dokument, es ist ein Lehrbuch über verrohende Zusammenhänge und Tendenzen in unserer Gesellschaft, die wir nicht wahrhaben wollen. Es ist auch eine Pflichtlektüre für alle jungen Menschen, die sich ihre Zeit mit Kriegsspielen am Computer vertreiben. Gleichzeitig ist es ein Buch über die Verarbeitung und Transformation solcher Gewalt-Traumata. Für mich ist es eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe, und es ist eine Ehre für mich, Claude AnShin Thomas persönlich zu kennen, einen Mann, der mir aus dem Herzen spricht, wenn er sagt, dass Gewaltlosigkeit die einzige Überlebenschance für unseren Planeten ist.' Robert Atzorn

Claude Anshin Thomas, in einer Kleinstadt in Pennsylvania geboren, meldete sich nach der High-School freiwillig zum Militärdienst in Vietnam. Nach seiner Rückkehr litt er viele Jahre unter den Folgen des Krieges. 1991 traf er Thich Nhat Hanh. 1995 ordinierte ihn Bernard Glassman zum buddhistischen Mönch in der Soto-Zen-Tradition. Er ist Gründer der Zaltho Foundation, die Gewaltlosigkeit und Frieden fördernde Aktivitäten initiiert und unterstützt.

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Leseprobe

Kapitel 1


Die Saat des Krieges


Bitte stellen Sie sich vor, es regnet. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie, welche Gefühle, Gedanken und Empfindungen sich einstellen, wenn Sie an Regen denken.

Ich bin jedes Mal im Krieg, wenn es regnet, berühre wieder den Krieg. Zwei Regenzeiten hindurch habe ich schwerste Kämpfe durchlebt. Während der Monsune in Vietnam hinterlassen die gewaltigen Wassermassen alles nass durchtränkt und schlammig. Wenn es heute regnet, gehe ich noch immer über Schlachtfelder voller junger Männer, die schreien und sterben. Ich sehe noch immer Baumreihen vor mir, die vom Napalm zersetzt werden. Ich höre noch immer siebzehnjährige Jungen nach ihren Müttern und Vätern und Freundinnen rufen. Erst danach gelange ich an den Ort, an dem es einfach nur regnet.

In Ermangelung eines besseren Wortes schlage ich vor, diese Erfahrungen »Erinnerungsblitze« zu nennen. Es handelt sich dabei um das Wiedererleben von Erfahrungen, die ich noch nicht verarbeitet habe. Es kann passieren, dass ich in einem Lebensmittelladen eine Dose Gemüse aus dem Regal nehmen will und plötzlich von der Angst überwältigt werde, dass die Dose eine getarnte Sprengstoffladung enthält. Verstandesmäßig weiß ich, dass das nicht so ist, aber ich habe ein Jahr lang in einer Umgebung gelebt, in der es so war – und bis zum heutigen Tag bin ich nicht in der Lage, diese Erfahrung in ihrer ganzen Tiefe wirklich zu verarbeiten.

Dies ist nicht nur meine Geschichte. Sie wiederholt sich jeden Tag überall auf der Welt. Jeden Tag durchleben Menschen ihre Kriegserlebnisse und ihre Kindheitstraumata aufs Neue.

Bevor wir an einen Ort des Friedens gelangen, müssen wir mit unserem Leiden in Berührung kommen – wir müssen es umarmen und halten. Das habe ich in den letzten Jahren gelernt. Während der langen Jahre davor habe ich einzig gelernt, wie man Krieg führt.

Lernen, Krieg zu führen

Während der ersten siebzehn Jahre meines Lebens habe ich die Saat der Gewalt in mir gewässert. Nichts, was ich erlebte, sagte mir, dass Krieg nicht in Ordnung sei. Krieg war überall. Ich wuchs in einer Kleinstadt in Pennsylvania auf. Mein Vater hatte wie die meisten Männer im Ort am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Wenn die Männer über den Krieg sprachen, sagten sie nicht die Wahrheit. Weil sie nicht in der Lage waren, die Saat des Leidens zu berühren, die der Krieg tief in sie hineingelegt hatte, sprachen sie über ihn wie über ein großartiges Abenteuer. So wurde es an mich weitergegeben.

Als ich siebzehn wurde und mein Vater mir vorschlug, Soldat zu werden, hinterfragte ich dieses Ansinnen nicht. Ich wusste auch nicht viel über Politik; Politik spielte keine Rolle in meinem Leben. Heute weiß ich, warum politisches Interesse wichtig ist: Wir müssen wissen, was in der Welt vorgeht, denn was immer geschieht, hat seine Auswirkungen auf jeden von uns.

Mein Vater und die Männer und Frauen seiner Generation waren von Illusion und Verleugnung erfüllt; sie waren nicht in der Lage, Zugang zu der Wirklichkeit ihrer Erfahrungen zu finden. Das wurde weder bei ihnen noch bei mir auf irgendeine Weise gefördert. Doch während des Krieges in Vietnam geschah etwas Ungewöhnliches, etwas, das es vielen von uns unmöglich machte, die Kriegsrealität zu verleugnen.

Ich habe mich freiwillig für den Einsatz in Vietnam gemeldet, weil ich es für richtig hielt. Ich wusste nichts von der Natur des Krieges oder der Natur der Gewalt. Drei Tage nach meiner Ankunft in Vietnam begann ich zu begreifen. Es war irrsinnig. Ich kann es nicht genau beschreiben. Ich konnte und kann es schmecken und riechen und die Leere in den Augen aller um mich herum sehen. Es war, als befände ich mich in einem surrealistischen Horrorfilm. Während ich auf den Befehl wartete, der mich einer Einheit zuweisen würde, verbrachte ich meine ersten drei Tage in Vietnam damit, Tausende von verdorbenen Schokoriegeln in einem Vorratslager zu vernichten. Außerdem konfiszierte ich – das ist der militärische Ausdruck für stehlen – mit Unterstützung des diensthabenden Unteroffiziers eine Halskette aus gezüchteten Mikimoto-Perlen – eine Anschaffung, die meine finanziellen Mittel bei weitem überstiegen hätte. Zwei Tage später brachte ich die Kette zurück, denn ich wusste, dass es unrecht war, zu stehlen.

Während der Grundausbildung lehrte man mich zu hassen. Auf dem Schießstand schossen wir auf Zielscheiben, die Menschen darstellten. Wir lernten, MENSCHEN zu töten. Das ist die Aufgabe des Militärs. Nach den Schießübungen waren wir angehalten, unsere Waffen einzusammeln und zu einer Pyramide aufzustellen. Als ich mich anschickte, mein Gewehr dazuzustellen, ließ ich es fallen. Der Ausbilder, ein Oberfeldwebel, brüllte los, dass ich schlampig mit meinem Gewehr umgehe und dass mein Gewehr das Allerwichtigste in meinem Leben sei, denn von ihm hänge ab, ob ich überlebte oder starb.

Der Typ war einsfünfundneunzig groß, ich hingegen bin nur gut einssiebzig. Er baute sich vor mir auf, seine Brust wölbte sich vor meinem Gesicht, und er erdolchte mich fast mit dem Finger. Dann holte er seinen Penis heraus und pinkelte mich an, vor aller Augen. Ich durfte mich zwei Tage lang nicht waschen. Ich war so tief beschämt, dass ich an das Ausmaß meiner Gefühle nicht im Entferntesten zu rühren vermochte. Ich verspürte nichts als Zorn. Ich konnte es dem Oberfeldwebel nicht heimzahlen, denn dann hätte man mich in den Bau geschickt. Also habe ich meinen Zorn auf DEN FEIND gerichtet. Der Feind war jeder, der anders war als ich, jeder, der kein amerikanischer Soldat war. Diese Konditionierung, diese Entmenschlichung, ist notwendig, um ein guter Soldat zu werden. Ein guter Soldat kann sich dem Feind nicht verbunden fühlen. Soldaten werden darauf getrimmt, alles andere und jeden anderen als bedrohlich, gefährlich und potenziell tödlich wahrzunehmen. Du entmenschlichst den Feind. Du entmenschlichst dich selbst. Von diesem Zeitpunkt an ging eine Veränderung mit mir vor, die schlimme Konsequenzen haben sollte.

Meine Militärausbildung lehrte mich, ein ganzes Volk zu entmenschlichen. Es wurde nicht unterschieden zwischen dem Vietkong, der regulären vietnamesischen Armee und der allgemeinen vietnamesischen Bevölkerung. Doch wäre ich durch mein früheres Leben nicht auf die Militärausbildung vorbereitet gewesen, dann hätte diese Art Unterweisung nicht funktioniert. Als junger Mann wurde ich ermutigt, zu kämpfen, voller Voreingenommenheit zu sein und nationalistisch zu denken. Ich lernte, dass man Probleme durch Gewaltanwendung löst. Im Falle eines Konflikts gewinnt der Stärkere. So lernte ich es von meiner Mutter, von meinem Vater, von meinen Lehrerinnen und Lehrern und von meinen Freunden.

Als ich sechs Jahre alt war, lebte ich mit meinen Eltern in einem Apartment in einer ganz gewöhnlichen amerikanischen Gemeinde im nordwestlichen Pennsylvania. Mein Vater war Lehrer, und meine Mutter machte anderer Leute Wäsche, ging putzen und jobbte manchmal als Kellnerin oder Barfrau, um Geld dazuzuverdienen. Eines Tages wollte ich Fahrrad fahren, aber meine Mutter erlaubte es mir nicht. Ich fing an zu quengeln. Daraufhin gab mir meine Mutter einen Schubs, und ich flog mitsamt meinem Fahrrad die Treppe hinunter – zwanzig Stufen. Ich habe keine Ahnung, wieso ich mir keine ernsthaften Verletzungen zuzog. Vielleicht weil Kinder geschmeidig sind. Aber sie lernen auch entsprechend ihrer Umgebung.

Meine Mutter hat oft Gewalt angewendet. Einmal hat sie mir die Hand in den Nacken gelegt, mich herumgerissen und mein Gesicht an die Wand gedrückt – ohne ersichtlichen Grund. Anschließend hat sie mir gesagt, wenn ich ein besserer Mensch wäre, müsste sie mich nicht so behandeln. Ich lernte, keinen Schmerz zu empfinden und niemandem zu trauen, besonders Autoritätspersonen nicht.

In der Stadt, in der ich lebte, gab es einen See, und im Frühjahr stieg der Wasserpegel wegen der Schneeschmelze ziemlich an. Als ich etwa acht Jahre alt war, ging ich eines Tages hinaus, um zu spielen. Ich hatte ein Paar neue Turnschuhe bekommen, die noch ein sehr sauberes, klares Profil besaßen, und ich sollte spätestens um vier Uhr wieder zu Hause sein. Doch was weiß ein Kind schon von der Zeit? Als ich um vier Uhr nicht zu Hause war, geriet mein Vater in Sorge und machte sich auf die Suche nach mir. Er ging zum See hinunter und fand kleine Fußspuren, die zum Wasser führten, aber nicht mehr zurück. Die Fußspuren wiesen ein Profil auf wie das meiner neuen Turnschuhe. Mein Vater dachte, ich sei in den See gefallen, und der Gedanke, ich könne ertrunken sein, erfüllte ihn mit großer Furcht. Er eilte nach Hause, und als er ankam, war ich bereits dort.

Seine Reaktion auf seine Angst bestand darin, sie auf mich zu übertragen. Mein Vater konnte seine Angst nicht zulassen, er konnte das Gefühl seiner Machtlosigkeit nicht ertragen, also drückte er seine Angst durch das einzige Gefühl aus, zu dem er Zugang hatte: seine Wut. Er zerrte mich ins Badezimmer,...

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