Einleitung • Essay
Amerika, hast du es besser?
Immer vorwärts: Mit Mut, Optimismus und Härte gegen sich und andere eroberten Einwanderer aus aller Welt den nordamerikanischen Kontinent. Bis heute ist der Pioniergeist in den USA ein lebendiger Mythos. Von Willi Winkler
All the past we leave behind, /
We debouch upon a newer mightier world, varied world, /
Fresh and strong the world we seize, world of labor and the march, /
Pioneers! O pioneers!
Walt Whitman, 1865
Das Ende kam 1979. Lange Schlangen bildeten sich an den Tankstellen, die nicht mehr genügend Nachschub bieten konnten. Die Abhängigkeit vom arabischen Öl rächte sich. Der Preis für eine Gallone Benzin übersprang die Marke von einem Dollar. Der Treibstoff wurde so knapp, dass einige Autofahrer anfingen, beim Warten aufeinander zu schießen. Harry Angstrom, der Held in John Updikes Roman „Bessere Verhältnisse“ (1981), beobachtet, was nicht mehr zu übersehen ist: „dass die große amerikanische Autofahrt zu Ende geht“.
Das Auto war nur das letzte Symbol für die gottesfürchtige Landnahme, die aus einer bescheidenen Siedlung frommer, aus Europa geflohener Ketzer einen Staatenbund werden ließ, der sich unaufhaltsam über Flüsse und Berge, über Wüsten und Prärien ausdehnte und schließlich – „from sea to shining sea“ – bis an den Pazifik reichte. Eine Nation nicht nur, sondern das mächtigste Land der Erde, und mit einem Mal versackt in tiefster Depression.
Trapper und Pelzhändler, Rinderzüchter und Viehdiebe, Soldaten, Marketender und Huren, Missionare und Wirtschaftsflüchtlinge, Goldgräber und ganz gewöhnliche Glücksritter waren die Pioniere, die das weite Land erobert hatten. Dass unterwegs fast alle Indianer umgebracht werden mussten, um den Siedlern, die Weideland brauchten, eine neue Heimat zu verschaffen, verzeichnet das Legendenbuch von der großen Wanderung westwärts bestenfalls als Kollateralschaden.
So wurde ein Mann wie Daniel Boone zum Helden der amerikanischen Folklore, weil er 1778 nicht bloß eine Zeit lang in der Wildnis lebte und sogar von Indianern adoptiert wurde, ehe er ihnen doch entkam und wieder Krieg gegen sie führte. In der Sage war Boone bald nicht mehr zu unterscheiden von dem „Lederstrumpf“, den James Fenimore Cooper einige Jahrzehnte später als ewigen Jäger in die Wälder schickte. Buffalo Bill war dafür keine Erfindung, sondern ein echter Schlächter: Der Scout William Cody bekam seinen Beinamen nicht umsonst, er hatte dafür Tausende Büffel abgeknallt, nur so zum Spaß, aus Rekordsucht, und weil aus dem Osten immer neue Siedler herandrängten, die den Weidegrund für sich beanspruchten. Noch erfolgreicher wurde Cody als Zirkusattraktion. Mit seiner Wildwestshow begeisterte er nicht nur seine Landsleute, sondern am Ende des 19. Jahrhunderts auch ganz Europa. Der Papst sogar empfing ihn, er trat vor Kaiser und Königen auf und prägte für immer das Bild des schießfreudigen Westerners – der Archetyp des Pioniers, der es mit den Indianern aufgenommen, die Wildnis urbar gemacht und dem Land die Zivilisation beigebracht hatte.
Bis heute liefert der Pionier als Wald- und Wiesenläufer das amerikanische Ideal. Wie lebendig der Mythos ist, zeigte sich noch 2004, als Präsident George W. Bush jene großherzigen Spender, die für seine Wiederwahlkampagne jeweils mindestens 100 000 Dollar einsammeln konnten, zu „Pionieren“ ernannte.
Der Pionier gehört zu Amerika, weil er die ewige Jugend verkörpert. Goethe kam natürlich nie bis Amerika, aber wie alle Europäer, die ehemaligen englischen Kolonialherren begreiflicherweise ausgenommen, bewunderte er das Neuland wegen dessen Jugendfrische. „Amerika, du hast es besser / Als unser Kontinent, das alte, / Hast keine verfallene Schlösser / Und keine Basalte“. Ein sagenhafter Reim. Auch der Dichter Walt Whitman wollte mit dem Alten, mit der ganzen Vergangenheit aufräumen, als er die Pioniere marschieren ließ.
An der Südspitze Manhattans, mitten im Börsenviertel der Wall Street, steht ein Denkmal für den Verleger Horace Greeley, der den amerikanischen Imperativ „Go West, young man!“ populär gemacht hat. Millionen sind dieser Aufforderung gefolgt, Millionen Einwanderer aus Europa, die ihr Heil im „Gelobten Land“ suchten, später weitere Millionen, die innerhalb des Landes weiterzogen, jeder einzelne ein Pionier.
Greeley meinte seinen Appell allerdings pädagogisch, zumal der bald um die Forderung ergänzt wurde „and grow up with the country“. Reifen sollte der junge Mann und wie das Land endlich erwachsen werden. Dass die beiden es geschafft hätten, der junge Mann und das Land, ist schon durch den Erfolg des entschlossen unreifen Donald Trump widerlegt. Dabei folgt auch Trump der amerikanischen Ideologie, die Herman Melville bereits 1850 formuliert hat. Der Schriftsteller wusste, dass Amerika seine Zukunft noch vor sich hatte und deshalb der „Nachwelt als Lehrer dienen und nicht Schüler vergangener Generationen“ sein sollte. Von Melville, der in „Moby Dick“ den epischen Kampf nicht mit einem weißen Wal, sondern mit dem Bösen persönlich schilderte, stammt auch die deutlichste Umschreibung des amerikanischen Exzeptionalismus: „Wir sind die Pioniere der Welt; die Vorhut, ausgesendet in die Wildnis, unversuchter Dinge, um einen neuen Pfad in die Neue Welt zu schlagen, die die unsere ist.“
1893, als die Eroberung des Kontinents abgeschlossen war, veröffentlichte der Historiker Frederick Jackson Turner seinen ersten Aufsatz über die frontier, die ebenso reale wie mythisch aufgeladene Grenze. In den folgenden Jahren entwickelte er daraus eine wirkmächtige Theorie, wonach Amerika als Nation und Kultur erst durch die Ausdehnung nach Westen entsteht und von dort aus, von der Wildnis, den bereits stabilisierten Osten neu formt. Diese Theorie ist vielfach bestätigt und noch öfter bezweifelt worden, aber Turner hat damit den Begriff gefunden, der das amerikanische Selbstverständnis bestimmt und verhindert, dass diese Nation altert. Die frontier muss dann, wie die Filme von John Ford beweisen, irgendwo vor dem Prospekt des Monument Valley gelegen sein, am besten ein weit vorgeschobenes Fort, draußen die Indianer, drinnen eine drohende Meuterei, Frauen, die vor einer schweren Geburt stehen, Männer, die versagen, andere, die über sich hinauswachsen und sich zu einem der Helden entwickeln, die das Land braucht.
Nicht erst Hollywood machte Kalifornien zum Fluchtpunkt aller Sehnsucht, auch die Okies, die Farmer im Mittleren Westen, die als Opfer von Misswirtschaft und Dürre in den Dreißigern nach Westen aufbrachen. Das Auto erhob jeden zum Pionier, der sich, inzwischen ohne Lebensgefahr, ins Unbekannte aufmachen konnte. Mehr als der unberechenbare Indianer, der einen jederzeit skalpieren konnte, war doch die unendliche Weite des Landes zu fürchten.
Noch bedrohlicher ist die Stagnation, von der die Nation in unregelmäßigen Abständen befallen wird. In den Fünfzigerjahren schien aus dem beständigen Unterwegssein plötzlich ein rasender Stillstand geworden zu sein, das Land drohte zu altern. Die Vereinigten Staaten hatten Hitler besiegt und den Krieg gewonnen, Großbritannien und Frankreich hatten ihr Kolonialreich aufgeben müssen, aber es waren weiter die alten Männer, die über die freie Welt regierten. Das Fernsehen kam auf und förderte die Familie, die Häuslichkeit, die Sesshaftigkeit. Doch so bleiern die Eisenhower-Jahre auch waren, die Sehnsucht nach einem Aufbruch war so wenig vergessen wie der Appell Greeleys, sich nach Westen aufzumachen.
In dieser Verlangweiligung der Verhältnisse feiert Jack Kerouac (der selber gar nicht Auto fahren konnte) in seinem eruptiven Buch „On The Road/Unterwegs“ (1957) den Rausch des Fahrens als Selbstzweck. Bobby Troups Hymne auf die Route 66 (1946) besteht fast nur in einer Aufzählung der Orte entlang dieser Straße, die von Chicago nach Los Angeles führt. Selbst der Lüstling Humbert Humbert in Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ (1958) muss den Blick von seiner Nymphe wenden, wenn er auf der Reise durch die Vereinigten Staaten die Merkwürdigkeiten entlang der Landstraße anstaunt.
Keiner hat diese Sehnsucht besser verstanden als John F. Kennedy, der millionenschwer geborene Nachfahre blutig armer irischer Einwanderer. Kennedy beschwört bei seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten eine „new frontier“ und erneuert damit das amerikanische Glaubensbekenntnis zum Pioniergeist. Mit dem Slogan „Let's get America moving again“ zieht Kennedy in den Wahlkampf. An der Schwelle der Sechzigerjahre schwärmt er (oder vielmehr sein genialer Redenschreiber Ted Sorensen) von den „unbekannten Möglichkeiten und Gefahren“, die die Pioniere in diesem Neu- und Grenzland erwarteten. Nicht von Alaska spricht er, das erst im Jahr zuvor als Bundesstaat in die Union aufgenommen worden ist, er meint die Zukunft. Kennedy fordert einen neuen Aufbruch, nicht nach Westen diesmal, sondern nach vorn, ins Ungewisse, ein Unternehmen, das an neue Grenzen führen muss. „Viel leichter wäre es, vor dieser Grenze zurückzuschrecken und sich mit der sicheren Mittelmäßigkeit der Vergangenheit zufriedenzugeben“, aber genau das soll das wieder erwachende Amerika nicht.
Amerika befindet sich im Kalten Krieg mit der Sowjetunion, und so vergisst Kennedy auch nicht, mit der Bedrohung durch den Kommunismus zu operieren. Aber noch besser ist er, wenn er mit biblischem...