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E-Book

Amerikanischer Realismus

AutorGerry Souter
VerlagParkstone-International
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl408 Seiten
ISBN9781783106660
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,95 EUR
Der Amerikanische Realismus ist weder eine Kunstbewegung noch eine Schule, vielmehr ist er ein durch eine außergewöhnliche Vielfalt gekennzeichnetes Phänomen, das nur schwer zu definieren ist. Er wird oft als der erste eigene Kunststil der USA betrachtet und zerfällt in eine Reihe von Kategorien, etwa den 'regionalen Realismus', den Genre-Realismus oder auch den Porträt-Realismus, je nach Ort, Sujet und Modell. So könnte sich ein Maler, der die indianischen Ureinwohner im Westen der USA oder die Seeleute an der Ostküste porträtiert, durchaus als Vertreter des Regionalen Porträt-Realismus bezeichnen. Eine einheitliche Auffassung des Amerikanischen Realismus ist daher kaum möglich. Doch unbesehen aller Unterschiede gibt es eine frappierende Gemeinsamkeit der ihm zugeordneten Künstler: ihr Anliegen, der typisch amerikanischen Lebensart (dem American Way of Life) sowie ihrem Verständnis von Freiheit Ausdruck zu verleihen. Natürlich hängt das Ergebnis der Bemühungen jedes Einzelnen von seinem subjektiven Empfinden, seiner individuellen Wahrnehmung, seinem Intellekt, seinem familiären Hintergrund, seiner Erziehung und Ausbildung ab und nicht zuletzt auch von regionalen und ethnischen Einflüssen. Das Spektrum dieser heterogenen Kunst reicht von Winslow Homers poetisch angehauchten Aquarellen aus den 1860er Jahren über die fast unheimlich und stark symbolträchtig wirkenden Bilder eines Andrew Wyeth bis hin zu den in melancholisches Licht getauchten Szenen eines Edward Hopper der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dieser Band präsentiert ein über hundert Jahre umfassendes Kaleidoskop des Amerikanischen Realismus. Den Anfang machen US-amerikanische Maler, die noch stark der Tradition der europäischen Kunst verpflichtet sind und sich allmählich von dieser lossagen; am Ende haben wir die Vertreter der modernen Generation, deren auf amerikanischem Boden gewachsene schöpferische und teilweise rebellische Ideen auch in Europa großes Aufsehen erregen und die ihre Eigenständigkeit als eine Art neue Pioniere beweisen.

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Leseprobe

 

Eastman Johnson, Preiselbeerpflücker, c. 1879.

Öl auf Pappe, 57,1 x 67,9 cm. Privatsammlung.

 

 

Johnsons Glück bestand nun darin, dass seine Schwester Sarah den William Henry Newton heiratete, der seiner Braut seine Immobilieninvestitionen im oberen Mittelwesten zeigte. Johnsons Bruder Reuben war ebenfalls in Richtung Norden nach Superior, Wisconsin, gezogen, wo er ein Sägewerk eröffnet hatte. Die Tatsache, dass in jenen entfernten Gegenden bereits Verwandte wohnten, motivierte Johnson, mit Hilfe seiner Einkünfte aus der Porträtmalerei und einer Anleihe bei seinem Vater in die Wildnis zu ziehen und dort in Land zu investieren. Er verbrachte die Sommer der Jahre 1856 und 1857 malend in der Gegend des Lake Superior und in einer Hütte, die er an der Pokegema Bay errichtete.

Er sicherte sich außerdem die Hilfe eines sowohl über afro-amerikanische als auch indianische Wurzeln des Stammes der Ojibwe verfügenden Führers namens Stephen Boonga und baute mit ihm ein Kanu, mit dem er zu vorgelagerten Inseln und zu den Städten Duluth und Superior paddelte. In Grand Portage machte Johnson Bekanntschaft mit den Ojibwe-Indianern und fertigte eine Reihe von Skizzen in Kohle und Öl an.[1]

Im Jahr 1859 bediente Johnson sich seiner in Düsseldorf erlernten Fähigkeiten und kreierte sein erstes amerikanisches Genrebild, Leben im Süden (auch: Alte Heimat Kentucky). Bei genauem Hinsehen war dieses Gemälde nicht allzu innovativ. Es besteht im Wesentlichen aus einer Ansammlung von Porträts, die in eine Geschichte andeutenden Gruppen um eine malerisch verfallene Scheune und Sklavenunterkunft angeordnet sind. Das Bild ist insgesamt ein wenig kitschig, aber die Abbildung des umeinander werbenden Paares, der Sklavenkinder und ihrer zahlreichen Familienmitglieder – und sogar der weißen Frau, die die Szene durch ein Loch im Zaun beobachtet – ist durch eine erdverbundene Aufrichtigkeit gekennzeichnet. Wieviel Süße dem Bild aber auch immer eigen ist, es gefiel den Südstaatlern, die es als eine idyllische Abbildung ihrer Welt deuteten, und gleichzeitig auch den Menschen im Norden, die das gesamte Übel der Sklaverei in das Gemälde hineinlasen. Auch wenn das Bild voller überzogener Emotionen war, so handelte es sich eindeutig um amerikanische Emotionen. Es war in jedem Falle gut genug, Johnson die Wahl in die National Design Academy von New York zu sichern.

Johnson ging mit seinem Skizzenheft auch in den Bürgerkrieg und folgte der Unionsarmee in einer an heutige Kriegsfotografen erinnernden Weise. Das bekannteste Ergebnis dieser fünf Jahre währenden Zeit war sein Ölgemälde Der verwundete Trommeljunge.

Während der folgenden 20 Jahre wurde Eastman Johnson zu einem regionalen realistischen Maler und beschränkte sich auf die Ostküste, wo er seine bedeutendsten Bilder schuf. Er pflegte eine gewisse Routine der Rückkehr in die Gegend seiner Kindheit in Fryeburg, Maine, und besuchte im Sommer regelmäßig Nantucket. Im Jahr 1869 heiratete er Elizabeth Buckley, 1870 wurde seine Tochter Ethel Eastman Johnson geboren. Viele seiner schönsten Bilder zeigen seine Frau und sein Kind in häuslicher Umgebung.

Johnson erkannte im Osten etwas, das ihn befriedigte, und so sind all seine Genrebilder dieser Zeit durch eine deutlich wahrnehmbare Zufriedenheit gekennzeichnet. Wenn er während der 1860er Jahre nicht gerade der Potomac-Armee auf dem Fuß folgte, reiste er nach Neuengland. Nachdem er die Zerstörungen durch den Krieg aus nächster Nähe gesehen hatte, muss der gemütliche altmodische Charakter seiner Heimat wie eine Art Erholung gewirkt haben. Da im Krieg so viele junge Männer Uniform trugen und viele aus den Schlachten nicht zurückkehrten, blieben ihm nur die Alten, die Frauen und junge Menschen als Thema. Wo in seinen Bildern keine Menschen zu sehen sind, weisen die von ihnen hinterlassenen Werkzeuge und Behausungen deutliche Spuren des Gebrauchs und eines gewissen Zerfalls auf. Den Häusern mangelt es an ein wenig Farbe, es fehlen ein paar Steine in der Wand, die Feuerstelle ist verrußt oder ein Korbstuhl benötigt eine Reparatur.

Eines seiner erfolgreichsten Genrebilder war das 1861 in der National Academy of Design in New York ausgestellte Maisschälen. Die Ausstellung eröffnete nur drei Wochen vor dem Bombardement von Fort Sumter und dem Beginn des Bürgerkrieges. Nicht weniger als 200 000 New Yorker kamen zum Union Square, um das Anliegen der Union zu unterstützen. Johnson bekannte sich in seinem Gemälde ebenfalls zur Union. Auf der Scheunentür sind die Worte „Lincoln and Hamlin” zu lesen, die auf Abraham Lincolns (1809 bis 1865) erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur und auf seinen Mitstreiter Hannibal Hamlin (1809 bis 1891) verweisen. Neuengland hatte sich in den Wahlen sehr deutlich für die Republikaner ausgesprochen, und Johnsons Bild war gleichzeitig ein subtiles politisches Plakat und ein Beispiel für gute Kunst.

Johnson sah niemals die Notwendigkeit, sich auf die historischen Puritaner in Kniehosen oder auf alte Kutschen auf der Straße zurückzuziehen. Außer im Fall seines Gemäldes Alte Postkutsche skizzierte er zunächst einzelne Bildteile, die er dann in seinem Atelier zusammenfügte. Dieses Bild zeigt das Wrack einer Postkutsche ohne Achsen und Räder, das gerade von der lokalen Vegetation und der Witterung zurückerobert wird. Aber selbst diese traurige Erinnerung an die Vergangenheit wird durch die Rufe und Schreie der spielenden Kinder gewissermaßen ins Leben zurückgeholt. Die einen Jungen traben und galoppieren auf der Stelle, während andere imaginäre Peitschen knallen lassen und die Mädchen aus den Fenstern heraus die Landschaft betrachten. All diese Geschehnisse am Straßenrand finden unter der Sonne des späten Nachmittags statt und wirken so ungezwungen und natürlich, dass es unvorstellbar ist, dass dieser eingefangene Augenblick im Atelier aus verschiedenen Bestandteilen in Johnsons Vorstellungskraft zusammengesetzt worden sein könnte.

All diese ländliche Romantik passte exakt zu dem wachsenden Bestreben der Menschen während und nach dem Bürgerkrieg, zu ihren Wurzeln zurückzukehren und die in der vagen Erinnerung so unkomplizierten alten Tage wieder zum Leben zu erwecken. Kunst, Bücher, Theaterstücke – überall wurde die „gute alte Zeit“ vor der Industriellen Revolution glorifiziert ohne überfüllte Städte, schwarzen Qualm ausstoßende Dampflokomotiven und mit dem Gestank von hunderten Plumpsklos an einem heißen Sommertag. Aber auch das in die Lampen zischende Kohlengas in den übervollen Wohnungen und der unleidige Geruch von Menschen, die nach viktorianischer Manier mehrere Kleiderschichten übereinander trugen und mit Düften den Geruch ihrer ungewaschenen Körper zu übertünchen versuchten, gehörten zu den Sehnsüchten. Die Bilder versprachen demgegenüber offene Landschaften, weite Räume, dichte Wälder und sich windende Bäche, den warmen, trockenen Geruch von Heu in einem Futtersilo und das plätschernde Rumpeln einer Wassermühle.

Johnson nutzte seine Studien von Rembrandts Umgang mit dem Licht in Stichen und Ölgemälden und machte seine Bilder, vor allem jenen von Innenräumen, zu fein herausgearbeiteten Ansichten. Er kreierte Stimmungen und hauchte den rauen Lebensweisen aller Bevölkerungsschichten der damaligen amerikanischen Gesellschaft Leben ein. Er verlieh dabei selbst den profansten Motiven Charme und Eleganz.

Buffalo Bill brachte seine Wild West-Schau auch in amerikanische Städte, nachdem er durch die Hauptstädte Europas getourt war und vor gekrönten Häuptern gespielt hatte. Seine Aufführung von Kämpfen zwischen Cowboys und Indianern und die Fähigkeiten seiner Reiter, Scharfschützen und Lassoschwinger verloren jedoch umso mehr an Relevanz, je mehr der alte Westen zu verschwinden begann. Das Land war zwar noch da, aber Eisenbahnen, der Telegraf und Unmengen Siedler hatten sein Gesicht verändert. Was früher Neuigkeiten gewesen waren, etwa Custers (1839 bis 1876) letzter Kampf, die Schlacht von Wounded Knee (1890) oder der Land- und Goldrausch, wurde nun zur bloßen Nostalgie.

Auch die Genremalerei büßte ihre Popularität ein. Johnson bestritt sein Einkommen wieder mit Porträts, aber er bediente sich, wie die alten Männer um den Ofen im Gemischtwarenladen, bei seinen Erinnerungen. Er wollte z. B. unbedingt in einem großen Gemälde die Produktion von Ahornzucker darstellen. Er fertigte im Verlauf der Jahre eine ganze Reihe von Studien dieser für die Ostküste typischen Szene an, vollendete das Bild jedoch nie, weil das Interesse an dieser Form der Nostalgie nachgelassen hatte. Sein ausgezeichneter Ruf als Porträtmaler blieb aber bestehen, und er konnte sich über einen Mangel an Aufträgen nicht beklagen. Er blieb bis in sein achtes Lebensjahrzehnt hinein aktiv und dokumentierte sowohl seine Zeit als auch die Bilder in seinem Gedächtnis.

Henry Theodore Tuckerman (1813 bis 1871), ein Kritiker aus Boston, hob Johnsons Fähigkeit hervor, „… das Maine der Vergangenheit […] seltenes Material, das immer seltener und weniger malerisch wird, während die Eisenbahn die Kleidung, die Sprache und sogar Gesichter auf eine monotone Einförmigkeit reduziert“ einzufangen.[2]

Um 1880 konzentrierte Johnson sich immer mehr auf die Porträtmalerei, während sich Amerika immer schneller veränderte und die Industrie sowie die neuen Transport- und Kommunikationsmittel seine krustigen und staubigen...

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