Im Rahmen dieses Kapitels werden die sich aus den drei Säulen des Solvency II Ansatzes (siehe Abb. 4) ergebenden Anforderungen an VU beschrieben. Insbesondere wird dabei dargestellt, welche organisatorischen und prozessualen Anpassungen und damit verbundenen Fähigkeiten unter Solvency II notwendig werden.
Abbildung 4: Die drei Säulen von Solvency II
Quelle: Eigene Darstellung.
Die erste Säule umfasst die quantitativen Anforderungen und enthält Vorgaben zur risikoadäquaten Kapitalausstattung, zur Bildung versicherungstechnischer Rückstellungen sowie zu Kapitalanlagen. Grundsätzlich soll sichergestellt werden, dass VU jederzeit über adäquates Eigenkapital verfügen. Um dies zu gewährleisten, wurden im Rahmen der ersten Säule des Solvency II Regelwerks Eigenmittelquoten definiert, deren Einhaltung sichern soll, dass VU auch bei Eintreten unvorhersehbarer Verluste die nächsten 12 Monate ihren Verpflichtungen nachkommen können (FMA, 2016a; Graf, 2008, S. 18f). Entsprechend zieht deren Unterschreiten unmittelbare Konsequenzen nach sich, wie im Folgenden näher beschrieben wird.
Im Folgenden werden die beiden unter Säule 1 definierten Eigenmittelquoten SCR und MCR betrachtet.
Wie bereits eingangs beschrieben, bildet das Solvency Capital Requirement (SCR) eine Art risikoorientiertes Zielkapital, dessen Vorhandensein das Risiko verringert, dass bei unvorhersehbaren Ereignissen VU gegenüber Verbrauchern zahlungsunfähig werden. Um gegenüber derartigen Schadensereignissen möglichst resilient zu sein, sind VU unter Solvency II dazu angehalten, eine adäquate Höhe an Eigenmitteln zu hinterlegen, sodass sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,5% über ausreichend Kapital für die nächsten 12 Monate verfügen. Unterschreitet ein VU diesen Wert, so muss es der Aufsichtsbehörde einen Plan zur entsprechenden Aufstockung des Eigenkapitals vorlegen (Buckham, Rose, & Wahl, 2011, S. 78f; Rittmann, 2010, S. 38-40).
Das dem SCR zugrundeliegende Risikomodell berücksichtigt alle Formen von quantifizierbaren Risiken sowie entsprechende Rückversicherungen und andere risikomitigierende Maßnahmen. Die Risiken werden dabei nicht isoliert betrachtet, sondern auf aggregierter und konsolidierter Ebene, um etwaige Interdependenzen zu berücksichtigen (Buckham, Rose, & Wahl, 2011, S. 78f; Rittmann, 2010, S. 38-40).
Die Solvenzkapitalquoten lassen sich entweder durch von der Aufsicht vorgegebene Standardmodelle berechnen oder alternativ durch individuelle interne Modelle. Standardmodelle bieten insbesondere für kleinere VU Chancen, da sie oft nicht über die nötigen Ressourcen verfügen, um eigene Modelle zu entwickeln. Bei den internen Modellen haben VU die Möglichkeit, die Berechnung der Solvenzkapitalquoten abweichend vom Standardmodell mittels eigener Kalkulationsverfahren zu berechnen. Hierdurch können Kalkulationen stärker auf die individuellen Besonderheiten des jeweiligen VU ausgerichtet werden, was zu geringeren Eigenmittelanforderungen führen kann. Eigens entwickelte interne Modelle sowie Weiterentwicklungen der Standardmodelle sind jedoch vorab von der Finanzaufsicht zu zertifizieren (Buckham, Rose, & Wahl, 2011, S. 78f; Rittmann, 2010, S. 38-40; Graf, 2008, S. 19-21).
Abbildung 5: SCR und MCR
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an (Graf, 2008, S. 19; Mock, 2010, S. 3; Solvency II Kompakt, 2016a)
Grundsätzlich sind sowohl SCR als auch MCR als Zuschlag auf die vorhandenen passivseitigen versicherungstechnischen Rückstellungen zu verstehen (siehe Abb. 5). Diese Rückstellungen lassen sich weiters in solche mit existentem Marktwert (hedgebare Rückstellungen) und solche, für die es keinen Marktwert gibt (nicht-hedgebare Rückstellungen) unterscheiden. Letztere müssen statistisch über Erwartungswerte (Best Estimate) geschätzt und mit einer entsprechenden Risikomarge versehen werden (Mock, 2010, S. 3; Solvency II Kompakt, 2016a).
Das Minimum Capital Requirement (MCR) bildet das von einem VU nach §193 Abs. 1 VAG zu haltende Mindestkapitalniveau und fungiert als eine Art „Sicherheitsnetz“. Unterschreitet ein VU diesen Wert, so erfolgt eine Intervention durch die Finanzaufsicht und in letzter Instanz der Entzug der Konzession nach §8 Abs. 2 Z. 3 VAG, da die vorhandenen Eigenmittel nicht ausreichend wären, um der Risikoexponierung weiterhin standzuhalten (Rittmann, 2010, S. 39, 40). Die Berechnung des Mindestkapitalniveaus orientiert sich an absoluten, in §193 Abs. 2 VAG definierten Werten und ist bewusst relativ simpel und objektiv gehalten, um etwaige Interpretationsspielräume auszuräumen. Die Berechnung ist seitens der VU lt. §193 Abs. 3 VAG quartalsweise durchzuführen und an die FMA zu kommunizieren.
„Capital will never cover up for the lack of proper governance!“ (Bernardino, 2015a, S. 5)
Mit dieser Aussage verdeutlicht Gabriel Bernardino, Vorsitzender der EIOPA, die Gefahr der Vernachlässigung der weichen, qualitativen Faktoren zu Gunsten der quantitativen Faktoren.
Während die erste Säule sich der Fragestellung widmet, wie ein VU seine versicherungstechnischen Rückstellungen mit einer adäquaten Menge an Eigenmitteln hinterlegen kann, um letztlich die fortlaufende Zahlungsfähigkeit zum Schutz des Verbrauchers zu gewährleisten, widmet sich die zweite Säule den qualitativen Aspekten. Ziel der zweiten Säule ist die Implementierung und Verantwortung eines effektiven Governance-Systems durch das Management (Buckham, Rose, & Wahl, 2011, S. 80).
Das Management trägt lt. §106 VAG in letzter Instanz die Verantwortung für das Governance-System und ist lt. §107 VAG dazu verpflichtet „ein wirksames Governance-System einzurichten, das eine solide und vorsichtige Unternehmensleitung gewährleistet und das der Wesensart, dem Umfang und der Komplexität der Geschäftstätigkeit angemessen ist.“.
Welche Änderungen im Rahmen von Solvency II im Rahmen der Aufbau- und Ablauforganisation nötig sind und wie diese auf die jeweilige Geschäftsstrategie auszurichten sind, wird im Folgenden dargestellt.
Im Folgenden werden die vier gemäß §108 Abs. 1 VAG im Zuge von Solvency II einzuführenden Schlüsselfunktionen näher betrachtet. Zwar sind die Rollen für sich genommen nicht neu – die meisten Versicherer hatten bereits vor Solvency II einen designierten Risikomanager, Compliance-Officer, Aktuar oder eine Interne Revision. Neu sind allerdings zum Teil die Aufgaben und Anforderungen an die jeweiligen Funktionen, die bewusste Ausgestaltung und Nutzung von Schnittstellen zwischen den Funktionen ohne dabei Interessenskonflikte hervorzurufen sowie die Dokumentationserfordernisse (Boetius, 2014, S. 15).
5.2.1.1 Risikomanagement-Funktion
Gemäß §108 Abs. 1 VAG haben VU die Risikomanagement-Funktion, als eine der vier Schlüsselfunktionen, einzurichten.
Die Funktion des Risikomanagements (RM) ist grundsätzlich nichts Neues für die Versicherungsbranche. Die Anfänge des systematischen RM stammen aus dem Bereich der Versicherungswirtschaft. Bereits 1955 erklärte Wayne Snider von der Temple University „You are not simply buying insurance or managing insurance, you are managing risks.” (Kleffner, Lee, & Nielson, 2005, S. 208). Einerseits spielte das RM in der Assekuranz schon immer eine wichtige Rolle aufgrund des Geschäftsmodells der Versicherer. Risiken wurden seit jeher mittels statistischer Schätzung von Eintrittswahrscheinlichkeit und Ausmaß quantifiziert und den Versicherten gegen eine entsprechende Prämie abgenommen. Andererseits wurde aufgrund der Menge an sensiblen Daten und den von den Bürgerinnen und Bürgern anvertrauten Geldern stets von regulatorischer Seite ein entsprechender Druck zur Wachsamkeit ausgeübt (Buehler, Freeman, & Hulme, 2008, S. 10).
Allerdings führten diese Betrachtungsweise der Risiken sowie die Neigung zur Quantifizierung zu zwei Entwicklungen, die vielen Versicherern heute vorgeworfen werden. Zum einen entstand durch die isolierte Betrachtungsweise der Einzelrisiken eine Art Silodenken in Bezug auf das RM in VU. Anstatt Risiken übergreifend auf aggregierter Basis zu betrachten und deren Interdependenzen zu berücksichtigen, begegnete man Risiken sehr abteilungsspezifisch. Als Resultat fehlte eine holistische Betrachtungsweise, eine abteilungsübergreifende Kommunikation und damit auch in letzter Instanz ein Risikobewusstsein bei strategischen Entscheidungen (Acharyya & Johnson, 2006, S. 58; Casualty Actuarial Society, 2003, S. 34; Zeier-Röschmann, 2014, S. 6). Zum anderen wurden Risiken, die nicht oder nur bedingt...