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Angekommen in Europa? Gesichter und Geschichten von jungen Migranten

Migrationspolitische Texte

AutorArian Fariborz, Petra Tabeling
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl104 Seiten
ISBN9783656592143
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Essay aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Medien / Kommunikation - Interkulturelle Kommunikation, , Sprache: Deutsch, Abstract: Wenn in diesen Tagen und Monaten Europas Politiker hitzige Debatten über neue, restriktive Einwanderungsbestimmungen führen, wird dabei meist die persönliche Lebensrealität vieler Zuwanderer und Flüchtlinge ausgeblendet. Und auch in der Öffentlichkeit werden Migranten häufig über negative Bilder und Schlagzeilen wahrgenommen, so zum Beispiel bei den Unruhen in französischen und schwedischen Vorstädten oder den Flüchtlingsströmen in Lampedusa und Mellila an den südlichen Außengrenzen der EU. Dabei wird allzu oft von gescheiterten Integrationskonzepten für die zweite und dritte Generation der in Europa lebenden Migranten auf eine neue Zuwanderungspolitik geschlossen, die nach Verschärfung und selektiver Einwanderung zugunsten hoch qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland verlangt. Doch sind die Beweggründe - vor allem junger Migranten - nach Europa zu kommen, genauso vielfältig wie ihre zukünftigen Lebensentwürfe. Und viele von ihnen beabsichtigen auch nicht, dauerhaft in den Ländern der Europäischen Union zu bleiben, wie diese migrationspolitischen Essays aufzeigen. Angekommen in Europa? erzählt die persönlichen Geschichten dieser oft namenlosen Gesichter, die sich in den Metropolen in der Mitte Europas ein neues Leben aufbauen. Der bebilderte Reportage- und Essayband zeigt auf, ob sich die Erwartungen und Hoffnungen der Migranten vom 'europäischen Traum' erfüllt haben. Welche praktischen Erfahrungen machen sie mit den Einwanderungsgesetzen der EU-Mitgliedsstaaten, in denen sie sich aufhalten? Wie erleben sie dort Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und wie gehen sie damit um? Und welche Ansichten haben junge Migranten, die nach Europa kommen, über die gegenwärtige Einwanderungsdiskussion in den EU-Staaten? Ihre Sicht der Dinge eröffnet gleichzeitig auch einen Einblick in den Umgang der europäischen Gesellschaften mit Einwanderern aus Schwellen- und Entwicklungsländern. Angekommen in Europa? porträtiert Menschen, die aus der Peripherie in die Zentren kommen und beleuchtet ihren Alltag sowie ihre Arbeitswelten in den europäischen Metropolen London, Berlin, Palermo, Dublin, Paris, Amsterdam, Barcelona und Södertälje bei Stockholm. Welche Meinung haben sie von der für sie anfänglich als fremd empfundenen Kultur? Fühlen sie sich als Zuwanderer in ihrer neuen Heimat gesellschaftlich akzeptiert und integriert? In welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen und 'Communities' erfahren sie sozialen Rückhalt?

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Leseprobe

1. Angekommen in Palermo: Othman aus dem Sudan


 

Erschöpft lässt sich Othman in einen der roten Plastikstühle fallen, die vor dem Straßencafé unweit des Teatro Massimos, des größten Opernhauses Italiens, stehen. Es ist ein heißer Sommernachmittag in Palermo. Scharen von Touristen steigen die Treppen des majestätischen, im Stil des Historismus gebauten Theaters aus dem 19. Jahrhundert herab, einige flanieren lärmend entlang der Piazza Verdi an dem Café vorbei, wo sich Othman gerade einen Espresso bestellt hat. Der Sudanese schenkt ihnen kaum Beachtung. Er sitzt ruhig da und lächelt müde. Die „Pasticceria del Massimo“ ist für ihn ein Ruhepol und eine Ausgangsbasis für seine abendlichen Exkursionen. Nach getaner Arbeit und wann immer sich sonst die Gelegenheit bietet, kommt er hier vorbei, um nach einer Tasse sizilianischen Espressos auf Streifzug durch das Gewirr der Altstadtgassen von Palermo zu gehen.

 

 

Es ist kein gewöhnlicher Stadtbummel, denn Othman macht grundsätzlich nur vor geschichtsträchtigen, monumentalen Bauwerken der sizilianischen Hafenmetropole Halt: die Kirchen San Domenico und San Giovanni degli Eremiti, der Normannenpalast, die Cappella Palatina, die Statuen der Piazza Pretoria. Die einmalige Mischung arabischer, byzantinischer und normannischer Architekturstile fasziniere ihn, sagt er. Und zu jedem dieser antiken und barocken Monumente weiß er auch sogleich eine kunsthistorische Erklärung abzuliefern.

 

Dabei lebt der 35jährige Afrikaner aus dem sudanesischen Darfur erst seit kurzem in Palermo. Seine strapazenreiche Odyssee über Libyen und über die Mittelmeerinsel Lampedusa nach Sizilien liegt nur wenige Jahre zurück. Sein Ziel nach Palermo zu kommen, um dort eine Arbeit zu finden, hat er erreicht. Vorerst zumindest. „Du weißt nie, wohin dich das Leben letztendlich verschlägt“, sagt er, nippt kurz an seinem Espresso, bevor er fortfährt: „Aber ich habe mir während meiner Flucht immer wieder geschworen, dass ich mir in Italien ein neues Leben aufbaue und nicht zurückkehren werde.“

 

Seitdem Othman im letzten Jahr eine feste Stelle als Kfz-Mechaniker in einer Autowerkstatt in einem südlichen Vorort von Palermo gefunden hat, schöpft er wieder Hoffnung. Lange Zeit plagten ihn Angst und Ungewissheit. Erst die dauerhafte Arbeitsgenehmigung, die ihm die Einwanderungsbehörde in Palermo nach Rücksprache mit seinem Arbeitgeber ausstellte, bedeutete einen Lichtblick für den Sudanesen. Denn in Sizilien musste er jedes Jahr seine Duldung aus humanitären Gründen prüfen und um ein weiteres Jahr verlängern lassen.

 

Hätte sich die politische und wirtschaftliche Lage in der Krisenregion Darfur schlagartig gebessert, wäre er sicher zur Ausreise aufgefordert worden. Und dieses Risiko wollte er in jedem Fall vermeiden. Vor einer drohenden Abschiebung ist er dank festem Arbeitsplatz und Wohnsitz im Moment zumindest sicher – auch wenn Othman keine Chance hat, eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Denn erst nach zehnjährigem, legalen Aufenthalt mit festem Wohnsitz in Italien könnte er eingebürgert werden, vorausgesetzt er gibt seine sudanesische Staatsbürgerschaft ab. Außerdem muss Othman in dieser langjährigen Warteschleife über ein dauerhaftes und ausreichendes Einkommen verfügen, so schreibt es der Gesetzgeber vor.

 

Eine Anerkennung als politischer Flüchtling hätte die Probleme des jungen Sudanesen sicher mit einem Schlag gelöst. Doch er weiß, dass nur die wenigsten wirklich eine Chance haben, den begehrten Status eines anerkannten Flüchtlings zu erlangen, da sie sehr genau nachweisen müssen, dass sie aus politischen Gründen persönlich verfolgt werden. Die Verfahren für ein solches Asylbegehren werden in Italien nach wie vor sehr strikt gehandhabt.

 

 

Die Flucht ins europäische Ausland trieb den jungen Sudanesen allerdings auch mehr aus wirtschaftlichen Gründen an. „In unserem Dorf gab es keine Arbeit und keine Perspektive“, berichtet Othman. „Wie sollte ich denn meine Familie, meine Frau und meine drei Kinder ernähren? Jeder weiß, dass es im Sudan viel Elend und Gewalt gibt. Man wird geradezu gezwungen, ins Ausland zu gehen!“ Mit dem Mut des Verzweifelten machte er sich schließlich Anfang 2000 zusammen mit anderen Leidensgenossen aus seiner Heimat auf eine tausende Kilometer lange, gefährliche Reise nach Italien.

 

Für viele Bootsflüchtlinge aus den subsaharischen Ländern des afrikanischen Kontinents ist Italien noch immer die „Drehtür nach Europa“, ein Transitland für die Weiterfahrt in die nordeuropäischen Zielländer. Die Abschaffung der Passkontrollen an den Binnengrenzen im Rahmen des Schengen-Abkommens, dem Italien 1997 beitrat, bedeutet für die Flüchtlinge, dass sie nicht nur in Italien, sondern zugleich auch in Europa angekommen sind, wenn es ihnen gelingt die äußerste EU-Außengrenze zu passieren.

 

Doch die Außengrenze scheint sich nunmehr immer weiter gen Süden zu verschieben, seitdem die ehemalige rechtskonservative Berlusconi-Regierung mit harter Hand gegen „illegale Einwanderer“ vorging: die Kontrollen der italienischen Küstenwache wurden verschärft, Rücknahmeabkommen von Flüchtlingen mit mehreren nordafrikanischen Staaten geschlossen, unter anderem mit Libyen, dem neuen Vorposten der EU: Bereits 2007 stellte Italien sechs Küstenwachschiffe für gemeinsame Patrouillen an der libyschen Küste zur Verfügung, um angeblich „kriminelle Organisationen, die Menschenhandel betreiben und von der illegalen Einwanderung profitieren” zu zerschlagen, hieß es aus dem Innenministerium in Rom. Im August 2008 besiegelten der im Zuge des Arabischen Frühlings gestürzte libysche Diktator Muammar al-Gaddafi und Silvio Berlusconi einen Freundschaftsvertrag, worin sich Libyen von der italienischen Regierung rund fünf Milliarden US-Dollar für seine umfassende Kooperation bei der Flüchtlingsabwehr in den nächsten 20 Jahren zahlen lässt.

 

Ungeachtet der Proteste von EU-Politikern, den Vereinten Nationen sowie Flüchtlingsorganisationen scheute die damalige Berlusconi-Regierung auch nicht davor zurück, illegale Einwanderer wiederholt nach Libyen abzuschieben. So geschehen im Mai 2009 als allein an einem Wochenende 240 Bootsflüchtlinge auf offener See aufgegriffen und postwendend nach Libyen zurückgeschickt wurden. Italiens früherer Innenminister Roberto Maroni feierte die Abschiebung als „historisches Ereignis“. Die Asylsuchenden hätten nunmehr die Möglichkeit, ihren Asylantrag von Libyen aus zu stellen, wobei er beflissentlich die unmenschlichen Bedingungen für Flüchtlinge in den libyschen Abschiebelagern verschwieg.

 

Tatsächlich hat sich das einstige Auswanderungsland Italien inzwischen zu einem Einwanderungsland gewandelt. Allein 2008 beantragten rund 31.000 Menschen bei den Behörden in Rom Asyl – doppelt so viele wie noch ein Jahr zuvor. Doch entgegen allen Kassandrarufen der rechtskonservativen Regierung ist die Zahl der aus Afrika an Italiens Küsten gespülten „clandestini“, der „Heimlichen“, wie die illegalen Immigranten von der italienischen Bevölkerung auch genannt werden, seit Jahren rückläufig. Und dennoch: „Ihre Ankunft inszeniert Italien gern als ‚emergenza’, als Notstand, der jeden Sommer wieder auf der Insel Lampedusa ausbricht, wenn ein paar hundert Bootsflüchtlinge binnen weniger Tage eintreffen“, schreibt der Italienkorrespondent der Berliner „Tageszeitung“, Michael Braun. „Gut 20.000 sind es übers Jahr, die mit Booten anlanden, höchstens 15 Prozent derer, die nach Italien gelangen – an die 70 Prozent nämlich reisen einfach mit dem Touristenvisum ein. Dennoch konzentriert die italienische Regierung ihre Flüchtlingsabwehr an der Seegrenze.“

 

Auch Ende Juli 2008 war der Aufschrei wieder groß, als ein neuer Flüchtlingsstrom aus Afrika die italienische Küste erreichte. Damals rief die Berlusconi-Regierung den landesweiten Notstand aus und verkündete drakonische Maßnahmen zur „Bekämpfung der illegalen Einwanderung“: Demnach sollte künftig die illegale Einreise nach Italien mit sechs Monaten bis zu vier Jahren Haft geahndet werden. Außerdem sah das „Sicherheitspaket“ eine Erleichterung von Ausweisungen sowie eine Verlängerung der maximalen Aufenthaltsdauer von Flüchtlingen in Auffanglagern von zwei auf 18 Monate vor. Für Aufenthaltsgenehmigungen werden künftig sogar Gebühren erhoben. Auch soll die Registrierung von Fingerabdrücken nicht nur bei illegalen Zuwanderern, sondern auch auf Roma-Kinder ausgeweitet werden.

 

Voraus eilte dieser „Law-and-order“-Politik ein Klima der Angst in der italienischen Bevölkerung, das durch die alljährlichen spektakulären Bilder der Medien über das Flüchtlingselend und das Drama an Italiens Küsten angeheizt wird, wie zuletzt im Oktober 2013, als vor der Mittelmeer-Insel Lampedusa mindestens 114 Menschen ertranken. Doch kaschieren diese dramatischen Zerrbilder der Medien oft genug die Realität: Tatsächlich gelingt es aber, wegen der technisch immer versierteren Überwachung der Küsten durch die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ (Frontex) und durch die verbesserte Kooperation mit den Sicherheitsbehörden der südlichen Mittelmeeranrainerstaaten, immer weniger afrikanischen...

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