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E-Book

Angststörungen

Klinik, Forschung, Therapie

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783170235656
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis43,99 EUR
Angsterkrankungen zählen zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. Sie werden oft erst spät erkannt, sind jedoch gut behandelbar. Dieses interdisziplinäre, praxisorientierte Werk vermittelt psychologische und neurobiologische Grundlagen von Angstverhalten und -erkrankungen. Es beschreibt spezielle Aspekte der Diagnose und Therapie und stellt zukunftsweisende Forschungsansätze sowie die Behandlung von Angststörungen durch verschiedene Verfahren umfassend dar. Themen sind u.a.: Diagnostik, Epidemiologie und Genetik von Angststörungen, human-elektrophysiologische Messmethoden der Angst, Veränderungsmechanismen von Angst- und Furchtnetzwerken, Pharmakotherapie, verhaltenstherapeutische, kognitive und psychodynamische Therapie, Therapie bei Kindern und Jugendlichen.

Prof. Dr. Rainer Rupprecht, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum, Max-Planck-Fellow am Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Leitung einer translational ausgerichteten Forschungsgruppe zur Neurobiologie von Depressionen und Angststörungen. Prof. Dr. Michael Kellner, Arbeitsbereichsleiter Angstspektrumsstörungen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Leitung einer Forschungsgruppe zur Neurobiologie und Therapie von Stress- und Angsterkrankungen.

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Leseprobe

2 Diagnostische Einteilung von Angststörungen


Andrea Dlugos, Peter Zwanzger

2.1 Einleitung


Angst zählt als sogenannte Basisemotion zu den Primäraffekten und ist als solche bereits zu Beginn der ontogenetischen Entwicklung vorhanden (Cyrulnik et al. 1998). Als biosoziales Signal trägt Angst zu einer risikobewussten Auseinandersetzung mit der Umwelt bei, und spielt darüber hinaus eine Rolle für die Modulation zwischenmenschlicher Beziehungen. Angst ist die Reaktion des Organismus auf eine tatsächliche oder auch vermeintliche Bedrohung durch eine spezifische Gefahr. Der differenzierte Umgang mit inneren und äußeren Gefahren wird dabei durch eine Vielzahl von Lernprozessen determiniert. Die individuelle Bewertung der jeweiligen, als gefährlich erlebten Situation beeinflusst das Ausmaß des tolerierten Angstgrads und prägt Verhaltensstile, die auf Herstellung von Sicherheit sowie Aktivierung von Schutzsystemen abzielen. Hierdurch stärkt Angst als normalpsychologisches Phänomen somatische und psychische Abwehrfunktionen und ist als adaptives, präattentives Alarmsystem evolutionsbiologisch wichtig für das Überleben (Hofer 1995). Von pathologischer Angst spricht man, wenn Angst – gemessen an der Auslösesituation – zu intensiv auftritt bzw. keine objektivierbare Gefahrensituation besteht.

Als einzelnes Symptom ist Angst zunächst nosologisch unspezifisch und kann integrales Symptom fast jeder psychischen Erkrankung sein. Neben anderen Symptomen findet sich Angst insbesondere bei Depressionen und Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, bei organisch psychischen Störungen, bei Suchterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen.

Bei der eigentlichen Angststörung ist Angst als zentrales und führendes Symptom repräsentiert und dabei durch ein überhöhtes, der Situation nicht angemessenes Ausmaß charakterisiert. Eine real existierende Gefahr ist dabei in der Regel nicht erkennbar. Symptomatisch betrifft Angst den gesamten Organismus und manifestiert sich sowohl auf psychischer als auch auf somatischer Ebene (Abb. 2.1).

Die subjektive Wahrnehmung von Angst ist vor allem durch ein unangenehmes Gefühl von Bedrohung und Besorgnis charakterisiert. Während auf psychischer Ebene vorwiegend kognitive Momente eine wichtige Rolle spielen, sind auf somatischer Ebene im Wesentlichen Aspekte motorischer Anspannung und anderer psychovegetativer Funktionen bedeutsam. Begrifflich unterschieden wird zwischen dem Gefühl allgemeiner Angst (»frei flottierend«), deren Inhalt in der Regel unfokussiert ist und deren Auslöser meist nicht oder nicht direkt benannt werden kann, und der objektspezifischen bzw. konkreten Furcht, die meist akut und situationsbezogen eintritt (Essau 2003; Stein 2005).

Abb. 2.1: Psychische und somatische Symptome der Angst

Angststörungen zählen mit einer Gesamtlebenszeitprävalenz von 25–30 % zu den häufigsten psychischen Erkrankungen (Kessler et al. 2005). Allerdings bleiben Angststörungen immer noch vielfach unerkannt. Unbehandelt verlaufen Angststörungen häufig chronisch. Antizipatorische Angst, die sogenannte »Angst vor der Angst« oder Erwartungsangst führt im Verlauf zu Vermeidungsverhalten bis zur vollständigen Isolation. Aufgrund des sich selbst verstärkenden Charakters der Erkrankung fällt es den einzelnen Patienten schwer, selbstständig und ohne professionelle Hilfe wieder aus ihrer Situation herauszufinden (Abb. 2.2). Eine sorgfältige und gezielte Diagnostik verbunden mit einer umfassenden Aufklärung der Betroffenen und Angehörigen ist daher der entscheidende erste Schritt vor Einleitung einer differenzierten störungsspezifischen Therapie.

Abb. 2.2: Kreislauf bei Angststörungen mit selbstverstärkenden Komponenten

2.2 Diagnostik


Zentral für die Diagnosestellung ist neben einer gründlichen Anamneseerhebung unter Einbeziehung krankheitsbezogener, biografischer, persönlichkeitsbezogener und somatischer Gesichtspunkte eine differenzierte psychopathologische Befunderhebung. Zudem muss gleichzeitig eine somatische Genese der Beschwerden sorgfältig ausgeschlossen werden. Zur differentialdiagnostischen Einordnung sind dabei je nach im Vordergrund stehenden Beschwerden kardiovaskuläre, pulmonale, endokrinologische, metabolische, gastrointestinale, neurologische und immunologische Erkrankungen auszuschließen (siehe Tab. 2.1). Hierzu sind zunächst eine sorgfältige körperlich-internistische Untersuchung sowie eine klinisch-neurologische Untersuchung notwendig. Im Anschluss daran sollte eine entsprechende weiterführende Routinediagnostik vorgenommen werden (Tab. 2.2). Eine umfassende Medikamenten- und Suchtanamnese ist ebenso notwendig, um eine substanzinduzierte Symptomatik auszuschließen (Tab. 2.3).

Tab. 2.1:

Somatische Differentialdiagnosen bei Angststörungen

Kardiovaskuläre Ursachen

Angina pectoris

Arryhthmie

Herzklappenfehler

Hypotonie

Myokardinfarkt

Orthostase

Pulmonale Ursachen

Asthma bronchiale

COPD

Lungenembolie

Pneumothorax

Endokrinologische Ursachen

Hyper-/Hypokalzämie

Hyperkortisolismus

Hyper-/Hypothyreoidismus

Phäochromozytom

Metabolische Ursachen

Hyperkaliämie

Hypoglykämie

Hyponatriämie

Hypoxie

Immunologische Ursachen

Anaphylaxie

Neurologische Ursachen

Chorea Huntington

Enzephalopathie

Epilepsie

Hirndruckerhöhung

Multiple Sklerose

Migräne

Postkontusionelles Syndrom

Schlaganfall

Temporallappenepilepsie

Vestibuläre Erkrankungen

Tab. 2.2: Somatische Untersuchungen bei der Diagnostik von Angststörungen

Laborchemisch

Funktional

Bildgebung

Konsiliarisch

Elektrolyte, Leberwerte, Retentionsparameter und Nierenwerte, Schilddrüsenparameter, Blutbild, Differentialblutbild, Gerinnungsparameter, Urinuntersuchungen

Vitalzeichen, EKG, EEG, ggf. 24h-EKG und -RR

CT oder MRT des Schädels

Abgestimmt auf die körperlichen Symptome. Häufig: Kardiologie, Pulmologie, Neurologie, HNO

Tab. 2.3: Ursachen substanz-induzierter Angststörungen

Medikamente

Alkohol

Amphetamin

Anästhetika und Analgetika

Antibiotika

Anticholinergika

Antidepressiva

Antihistaminika

Antihypertensiva

Bronchodilatoren

Cannabis

Digitalis

Halluzinogene

Insulin

Kalziumkanalblocker

Koffein

Kokain

Levodopa

Neuroleptika

Nichtsteroidale Antiphlogistika

Nikotin

Östrogen

Schilddrüsenhormone

Theophyllin

Entzug von

Alkohol

Anxiolytika

Cannabis

Opiaten

Nicht selten stellt es dabei für den behandelnden Arzt eine Herausforderung dar, dem Patienten einerseits den Sinn und die Notwendigkeit somatischer Diagnostik zu vermitteln ohne ihn unnötig zu verunsichern, den Patienten aber andererseits aus seiner meist fehlgeleiteten somatischen Fixierung zu lösen.

2.3 Diagnostische Einteilung und Klassifikationssysteme


Um eine standardisierte Klassifikation und Diagnostik von Angststörungen zu ermöglichen, werden die Klassifikationssysteme DSM-IV und ICD-10 zur Störungseinteilung am häufigsten angewandt. Beide Klassifikationssysteme orientieren sich in der Darstellung der Angststörungen an einem deskriptiven Ordnungsprinzip, welches die Symptomatologie, die Manifestationshäufigkeit, den Verlauf und den Schweregrad der Erkrankungen einschließt.

In der ICD-10 sind die...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Titel1
Inhalt6
Vorwort8
1Wie die Psychiatrie auszog, das Fürchten
10
2Diagnostische Einteilung von Angststörungen30
3Epidemiologie: Häufigkeit, Verlauf, Komorbidität65
4Angst und Furcht im Tiermodell92
5Genetik von Angststörungen119
6Von Gänsehaut und Zähneklappern –
140
7Humanexperimentelle Panikparadigmen160
8Mechanismen der Veränderung von Angst- und Furchtnetzwerken176
9Neue Ansätze in der pharmakologischen Angstbehandlung204
10Pharmakotherapie der Angststörungen220
11Verhaltenstherapeutische und kognitive Psychotherapie von Angststörungen234
12Psychodynamische Therapie von Angststörungen267
13Angststörungen – Therapie bei Kindern und Jugendlichen289
Autorinnen und Autoren314

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