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Angststörungen: Agoraphobie, Panikstörung, spezifische Phobien

Ein kognitiv-verhaltenstherapeutischer Leitfaden für Therapeuten

AutorEberhard Okon, Rolf Meermann
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783170265837
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
In diesem Therapiemanual werden nach einer Einführung in die wichtigsten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsstrategien sowie der Darstellung diagnostischer und differentialdiagnostischer Überlegungen insgesamt elf Behandlungsmodule zur ambulanten oder stationären Behandlung der beschriebenen Störungsbilder vorgestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf praxisorientierten Anleitungen zur Durchführung einer Verhaltenstherapie, in der sich die jahrelange wissenschaftliche und klinische Erfahrung der Autoren widerspiegelt.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Rolf Meermann, Hochschullehrer für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und Chefarzt der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont (Akademisches Lehrkrankenhaus der MHH). Dipl.-Psych. Eberhard Okon, Leitender Psychologe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont sowie Ausbilder und Supervisor für Verhaltenstherapie. Beide Autoren sind im Vorstand des Fortbildungsinstitutes für Klinische Verhaltenstherapie (FIKV) e. V.

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Leseprobe

A Theoretische Grundlagen des Therapieprogramms


1 Diagnostik und klinisches Erscheinungsbild


Auf der CD vorhandene Arbeitsmaterialien

  • Diagnostische Kriterien der Agoraphobie (ICD-10 F40.0) (Buchseite 17)
  • Diagnostische Kriterien der spezifischen (isolierten) Phobien (ICD-10 F40.2) (Buchseite 18)
  • Diagnostische Kriterien der Panikstörung (ICD-10 F41.0) (Buchseite 20)

»Ein starker Schall war mir zuwider, krankhafte Gegenstände erregten mir Ekel und Abscheu. Besonders aber ängstigte mich ein Schwindel, der mich jedesmal befiel, wenn ich von einer Höhe herunterblickte. Allen diesen Mängeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weise. Abends beim Zapfenstreich ging ich neben der Menge Trommeln her, deren gewaltsame Wirbel und Schläge das Herz im Busen hätten zersprengen mögen. Ich erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterturms und saß in dem sogenannten Hals, wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte, wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man auf einer Platte, die kaum eine Elle im Gevierte haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu können, stehend das unendliche Land vor sich sieht, in dessen die nächsten Umgebungen und Zierraten, die Kirche und alles, worauf und worüber man steht, verbergen. Es ist völlig, als ob man sich auf einer Mongolfiere in die Luft erhöhen sähe. Der gleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig war, und ich habe nachher bei Bergreisen und geologischen Studien, bei großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette über die frei liegenden Balken und die Gesimse der Gebäude herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen Wagstücke ausüben muss, um bedeutende Kunstwerke näher zu sehen, von jenen Vorübungen großen Vorteil gezogen. Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt wert, weil sie mich den widerwärtigen Anblick ertragen lehrte, in dem sie meine Wißbegierde befriedigte. Und so besuchte ich das Klinikum des alten Doktor Ehrmann sowie die Lektionen der Entbindungskunst seines Sohnes, in der doppelten Absicht, alle Zustände kennenzulernen und mich von allen Apprehensionen gegen widerwärtige Dinge zu befreien. Ich habe es darin auch wirklich soweit gebracht, daß nicht dergleichen mich jeweils wieder außer Fassung setzen konnte.«

So beschreibt Johann Wolfgang von Goethe in »Dichtung und Wahrheit« (zitiert aus der digitalen Bibliothek »Meisterwerke deutscher Dichter und Denker«, ausgewählt von Mathias Bertram, Digitale Bibliothek Sonderband Directmedia, Berlin 2000) seine Ängste und seine Art des Umganges damit. Goethe war dabei nicht der einzige Prominente, der in seinem Leben an Angststörungen litt, Ängste sind bekannt bei zeitgenössischen Künstlern wie Barbara Streisand, Sally Field, Woody Allen, aber auch bei Charles Darwin und natürlich Sigmund Freud.

Eine der ersten in einer medizinischen Fachzeitschrift veröffentlichten Kasuistiken aus dem Jahre 1872 stammt vom deutschen Nervenarzt C. Westphal (zitiert nach Meermann, 1988), der die auch heute noch typischen Merkmale einer Agoraphobie beschreibt.

»Er beklagt sich, dass es ihm unmöglich sei, über freie Plätze zu gehen. Es überfällt ihn bei dem Versuch dazu sofort ein Angstgefühl, dessen Sitz er auf Befragen mehr im Kopfe als in der Herzgegend angibt, indes ist auch oft Herzklopfen dabei. In Berlin ist ihm der Dönhofsplatz mit am unangenehmsten; versucht er, denselben zu überschreiten, so hat er das Gefühl, als ob die Entfernung sehr groß, meilenweit sei, er nie hinüber kommen könne, und damit verbindet sich das erwähnte, oft von allgemeinem Zittern begleitete Angstgefühl; je mehr er sich, nach den seitlichen Begrenzungen des Platzes zu abweichend, den Häusern nähert, desto mehr schwindet das Angstgefühl. Geht er mit einem anderen Arm in Arm oder im Gespräch über den Platz, so ist das Angstgefühl viel geringer; ein Stock oder Schirm in der Hand gibt ihm keine Sicherheit.

Dasselbe Angstgefühl überfällt ihn, wenn er genötigt ist, an Mauern und langgestreckten Gebäuden entlang oder durch Straßen zu gehen, wenn die Verkaufsläden – wie an Sonn- und Feiertragen oder in später Abend- und Nachtstunde – geschlossen sind. In später Abendstunde – er ißt gewöhnlich abends in Restaurationen – hilft er sich in Berlin in eigentümlicher Weise; entweder wartet er, bis er eine andere Person die Richtung nach seiner Wohnung zu einschlagen sieht und folgt dicht hinter derselben, oder er macht sich an eine Dame der demimonde, lässt sich in ein Gespräch mit ihr ein und nimmt sie so eine Strecke mit, bis er eine andere ähnliche Gelegenheit findet und so allmählich seine Wohnung erreicht«.

Heute gehören die verschiedenen Angsterkrankungen zu den häufigen psychischen Störungen. Dabei lassen sie sich nach situations- oder auslöserbezogenen Ängsten (Agoraphobie, soziale Phobie, spezifische Phobien) und Ängsten, die nicht auf bestimmte Umgebungssituationen begrenzt sind (Panikstörung, generalisierte Angststörung), unterscheiden. Im Folgenden wird mehr auf die diagnostischen Kriterien der Agoraphobie und der spezifischen Phobie eingegangen, die den Schwerpunkt dieses Manuals darstellen. Zwar gehört die Panikstörung eigentlich zu den nicht situationsabhängigen Ängsten, da diese jedoch häufig in Zusammenhang mit der Agoraphobie (Agoraphobie mit Panikstörung) auftritt, soll diese dennoch dem therapeutischen Schwerpunkt zugehörig betrachtet werden.

1.1 Diagnostische Kriterien der Agoraphobie (ICD-10 F40.0)


Nach der ICD-10 wird unter dem Begriff Agoraphobie eine Angst verstanden, die eine deutliche Furcht vor oder Vermeidung von folgenden Situationen beinhaltet: Menschenmengen, öffentliche Plätze, alleine reisen, etwa in Zügen, Bussen, Pkw’s oder auch Reisen mit weiterer Entfernung von zu Hause. Dabei ist eines der Hauptmerkmale der Agoraphobie die Sorge, sich in den genannten Orten im Falle des Auftretens einer Panikattacke oder panikartiger Symptome nicht rechtzeitig durch Flucht entziehen zu können oder keine Hilfe zu finden. Der Patient reagiert mit vegetativen Symptomen, Symptomen im Bereich des Thorax und Abdomens sowie typischen psychischen Symptomen wie Schwindel, Unsicherheit, Schwäche, Derealisations- oder Depersonalisationserleben sowie Angst vor Kontrollverlust. Häufig finden sich auch Hitzewallungen und Kälteschauer. Im Allgemeinen führen die Symptome der Agoraphobie dazu, dass viele Situationen, die die entsprechenden Angstreaktionen hervorrufen können, vermieden werden. Werden solche Situationen aus verschiedenen Gründen doch aufgesucht, findet eine Bewältigung in der Regel nur unter großer ängstlich getönter Belastung statt. In gravierenden Fällen kann das Vermeidungsverhalten zu massiven Beeinträchtigungen in der Alltagsbewältigung (z. B. Aufsuchen der Arbeitsstelle, einkaufen gehen, Arztgänge) führen. Die Agoraphobie kann eine sehr beeinträchtigende Störung sein, die ohne adäquate Behandlung einen chronischen Verlauf nimmt und die betroffenen Patienten häufig in der Teilnahme an einem sinnvollen sozialen Leben behindert.

Diagnostische Kriterien der Agoraphobie (ICD-10 F40.0)

  1. Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei der folgenden Situationen:
    1. Menschenmengen
    2. öffentliche Plätze
    3. allein reisen
    4. Reisen mit weiter Entfernung von zu Hause
  2. Wenigstens einmal nach Auftreten der Störung müssen in den gefürchteten Situationen mindestens zwei Angstsymptome aus der unten angegebenen Liste (eins der Symptome muß eines der Items 1. bis 4. sein) wenigstens zu einem Zeitpunkt gemeinsam vorhanden gewesen sein:

      Vegetative Symptome:

    1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
    2. Schweißausbrüche
    3. fein- oder grobschlägiger Tremor
    4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose)

      Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:

    5. Atembeschwerden
    6. Beklemmungsgefühl
    7. Thoraxschmerzen oder -missempfindungen
    8. Nausea oder abdominelle Missempfindungen (z. B. Unruhegefühl im Magen)

      Psychische Symptome:

    9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
    10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder »nicht wirklich hier« (Depersonalisation)
    11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder »auszuflippen«
    12. Angst zu sterben

      Allgemeine Symptome:

    13. Hitzewallungen oder Kälteschauer
    14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle
  3. Deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die...

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