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ANKLAENGE 2017. 'Be/Spiegelungen'.

Die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien als kulturvermittelnde bzw. -schaffende Institution im Kontext der Sozial- und Kulturgeschichte

VerlagHollitzer Wissenschaftsverlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl196 Seiten
ISBN9783990124772
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis32,99 EUR
Das 200-jährige Bestehen der als 'Conservatorium der Gesellschaft für Musikfreunde' gegründeten Institution ist ein Anlass, sich ihrer Geschichte mit kritischem Blick zu nähern: Welche Bilder und Images wurden und werden vermittelt und wie stellt sich dies im Gedächtnis der daran beteiligten Akteurinnen und Akteure dar? Der Band enthält einige Fallstudien aus dem Forschungsprojekt 'Changing mdw'; das Ergebnis war eine Vielzahl von Erzählungen, deren analytische Auswertung interessante Einblicke in die Konstruktion von Identitäten und Traditionen sowie in die Manifestation von kulturellen Idealvorstellungen ergaben. Ergänzende historische Exkurse betten die aktuellen Narrative in die Institutionsgeschichte seit der Gründung ein. Mit Beiträgen von Thomas Asanger, Lena Dra?i?, Alexander Flor, Juri Giannini, Wei-Ya Lin, Severin Matiasovits, Rainer Prokop, Rosa Reitsamer, Erwin Strouhal.

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Leseprobe

Lena Dražić


„[…] DEN GUTEN, GELÄUTERTEN MUSIKALISCHEN GESCHMACK IN DER BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT ZU VERBREITEN […]“.
DAS KONZEPT MUSIKALISCHER BILDUNG IN DEN EGO-DOKUMENTEN DES KONSERVATORIUMS DER GESELLSCHAFT DER MUSIKFREUNDE IN WIEN


Am 27. Mai 1808 erschien in den Vaterländischen Blättern des österreichischen Kaiserstaats ein Bericht, der sich detailliert mit dem aktuellen Musikleben in Wien auseinandersetzte. Sein Autor, Heinrich Ignaz Franz von Mosel (1772–1844), findet darin lobende Worte für die vorbildliche Hausmusikpflege der Wiener Bürgerfamilien und zeichnet ein beinahe paradiesisches Bild der Musikkultur in der Reichshauptstadt, in dem sich bereits der wirkmächtige ,Musikstadt‘-Topos ankündigt:

[…] nirgends wird man unter den Liebhabern (Dilettanten) auf fast allen Instrumenten so viele vollendete Ausübende finden, deren manche sich den Professoren dieser Kunst an die Seite setzen dürfen, ja wohl einige sie sogar noch übertreffen.1

Die Musizierpraxis von Dilettant*innen schildert Mosel als unverzichtbares kulturelles Kapital des aufstrebenden Bürgertums:

Ausübung der Tonkunst ist hier zu einem stehenden und unentbehrlichen Artikel in der Reihe der Kenntnisse geworden, welche nur einigermassen vermögliche Eltern ihren Kindern lehren lassen. Man würde ersteren das Gegentheil als eine unverzeihliche Vernachlässigung in der Erziehung ihrer Familie anrechnen, und wirklich ist es eine Art von Seltenheit geworden, einen Jüngling oder ein Mädchen aus einem Hause des gebildeten Mittelstandes zu sehen, welchem diese Kunst fremd geblieben wäre.2

Trotz allen Lobs sind für Mosel am Musikleben der Reichshauptstadt auch Mängel zu bemerken – so etwa der Umstand,

[…] daß, ungeachtet die Musik hier eine so außerordentlich große Anzahl von Kennern und Freunden, und unter diesen so viele Große, Mächtige, und Reiche zählt, dennoch bisher kein öffentliches, bloß dieser Kunst, ihrer Lehre, Ausübung und Vervollkommnung gewidmetes Institut, keine musikalische Akademie, kein Conservatoire, oder wie man es nennen wollte, zu Stande gekommen ist, […].3

Eindrücklich beschwört der Autor die wünschenswerten Effekte einer solchen Bildungseinrichtung:

Welch einen günstigen Einfluß solch eine öffentliche Anstalt, außer der Bildung vorzüglicher Sänger und Instrumentisten, auch auf die Emporbringung der Composition durch jährliche Preisaufgaben von Opern, Simfonien [sic], Cantaten u. s. f. nehmen könnte, wie manches schlummernde, zu bescheidene, oder durch Cabale unterdrückte Talent dadurch geweckt oder gehoben werden würde, fällt von selbst in die Augen.4

Die Ego-Dokumente einer Institution als „Modelle kollektiver Identitätsfindung“


Ignaz Franz von Mosel äußerte hier erstmals ein Desiderat, das er wenige Jahre später zu einem ausführlichen Plan ausarbeiten sollte. Dessen Umsetzung, an der Mosel maßgeblich beteiligt war, führte 1817 zur Gründung des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde – der Vorgängerinstitution der heutigen Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Mosel, der als Kind eine musikalische Ausbildung erhalten hatte, partizipierte durch seine Kompositionen und musikgeschichtlichen Beiträgen, vor allem aber durch zahlreiche Bearbeitungen älterer Werke auf mannigfaltige Weise am Musikleben Wiens. Neben seiner Tätigkeit im Obersthofmeisteramt prägte er als Vizedirektor des Hoftheaters und Mitglied des leitenden Ausschusses der Gesellschaft der Musikfreunde nachdrücklich das kulturelle Geschehen der Kaiserstadt.5

1818 als „Edler von“ in den Adelsstand erhoben, war Mosel ein Vertreter jener ,zweiten Gesellschaft‘, die sich aus Juristen im Staatsdienst, Bankiers und Wirtschaftsbürgern mit Adelstiteln zusammensetzte. Diese „bürgerliche Aristokratie“6 habsburgischer Ausprägung entwickelte sich im frühen 19. Jahrhundert zur kulturellen Führungsschicht innerhalb des Bürgertums, deren Interessen sich auch in der Gründung des Konservatoriums niederschlugen. Das Selbstverständnis dieser Personengruppe war nicht allein durch ihren materiellen Status determiniert – sie manifestierte sich in einer symbolischen Dimension, die sich annäherungsweise mit der Chiffre ,bürgerliche Kultur‘ bezeichnen lässt und in Institutionen, Praktiken und Diskursen ihren Niederschlag fand. Ulrike Döcker schreibt in Bezug auf die ,Manierenbücher‘ des 19. Jahrhunderts: „Sie können als Diskurse über die Praktiken und Ideale zwischenmenschlicher Beziehungen gelesen werden.“7 In ähnlicher Weise lassen sich auch die schriftlichen Äußerungen der an der Konservatoriumsgründung beteiligten Männer als Diskurs auffassen, in dem grundlegende Werte und Normen seiner Trägerschicht zum Ausdruck kommen. Bei ihrer Analyse soll es nicht darum gehen, was in der Gründungs- und Frühzeit des Konservatoriums, die hier auf den Vormärz beschränkt wird, wirklich geschah; auch stehen die (männlichen) Verfasser nicht als Individuen im Zentrum des Interesses. Vielmehr sollen die Texte – um einen Begriff aus der Oral History zu entlehnen – als „Ego-Dokumente“ der Institution, als „Modelle kollektiver Identitätsfindung und kultureller Selbstbehauptung gelesen werden“8.

Bevor das in den Quellen präsente Bildungsverständnis einer Analyse unterzogen wird, sollen hier kurz die historischen Bedingungen skizziert werden, unter denen das Konservatorium entstand: Durch den Niedergang der Adelskapellen ab dem späten 18. Jahrhundert hatte das professionelle Orchesterwesen in der Monarchie eine Ausdünnung erfahren. Zugleich manifestierte sich in der Gründung von Laienorchestern eine florierende dilettantische Musikkultur, in der das Bürgertum in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine führende Rolle einnahm.9 Dieses Milieu bildete auch den Nährboden für die 1812 gegründete Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaats – Eduard Hanslick sprach in diesem Zusammenhang ein halbes Jahrhundert später von der „ersten und wichtigsten Gestaltung der Assiciation der Dilettanten oder des organisirten Dilettantismus in Wien“10. Eine zentrale Zielsetzung der Vereinigung war die Errichtung einer musikalischen Lehranstalt – in den Statuten von 1814 firmiert sie als primäres Mittel zur Verwirklichung des Hauptzwecks, nämlich der „Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen“11. 1817 erhielt das Konservatorium mit der Gründung einer Singschule seine provisorische Gestalt. Dieses Ereignis war Teil einer Welle europäischer Konservatoriumsgründungen, die 1795 mit dem Pariser Conservatoire ihren Anfang genommen hatte. Die französische Lehranstalt wirkte als Vorbild – nicht nur in Bezug auf den organisatorischen Aufbau, sondern auch als Ausdruck eines erstarkten bürgerlichen Selbstbewusstseins.

Auch in der Errichtung des Wiener Konservatoriums präsentierte sich das Bürgertum als soziale Formation mit gesellschaftlichem Führungsanspruch – ein Anspruch, der auf politischer Ebene freilich erst rund hundert Jahre später verwirklicht werden sollte. In Zusammenhang mit diesem staatsbürgerlichen Selbstverständnis steht die Vorstellung eines moralisch-politischen Charakters der Musik, der diese zu einer öffentlichen Angelegenheit macht. So ist in den Quellen oft von einem „vaterländischen“12 Konservatorium die Rede und es ist nur folgerichtig, dass Mosel in seiner Skizze versucht, als Träger für die Musiklehranstalt den österreichischen Staat in die Pflicht zu nehmen – ein Ansinnen, dem jedoch erst im 20. Jahrhundert Erfolg beschieden ist. Als Legitimation des bürgerlichen Hegemonialanspruchs diente eben jener emphatische Bildungsbegriff, der auch in den Ego-Dokumenten des Konservatoriums eine tragende Rolle spielt.

Bildung: ein bürgerliches Schlüsselkonzept


Die konkreten Zielsetzungen der Wiener Lehranstalt formulierte Mosel erstmals in seiner „Skizze einer musikalischen Bildungsanstalt für die Haupt- und Residenzstadt des österreichischen Kaiserstaats“, die drei Jahre nach der eingangs zitierten „Uebersicht“ ebenfalls in den Vaterländischen Blättern erschien:

Eine öffentliche, vom Staate feyerlich instituirte, und geleitete Anstalt, in welcher die Musik, sowohl ihrer Theorie, und Ästhetik, als ihrer Ausübung nach, von erprobten, mit der Achtung und dem Vertrauen der musikalischen Welt bekleideten Männern gründlich gelehrt, der sich durch Anlagen und Fleiß unterscheidende Zögling ausgezeichnet, und dem angehenden Talente Gelegenheit gegeben würde, sich der Welt auf eine vortheilhafte Weise bekannt zu geben, und, durch Beyfall aufgemuntert, sich des Beyfalls dereinst würdig zu machen; eine solche Anstalt, in welcher schlummernde Anlagen geweckt, dem Eifer für die Kunst eine zweckmäßige Richtung gegeben, aus hoffnungsvollen Zöglingen durch Wetteifer große Männer gebildet würden, könnte nicht nur die Kunst selbst zu wahrer, gediegener Größe erheben, sondern würde auch die dermahl von den verschiedenen Lehrmeistern angewendeten verschiedenen, nicht immer lobenswerthen Lehrmethoden in ein übereinstimmendes System bringen, für die Verbreitung des richtigen Geschmacks in der Musik wohlthätig wirken, unsere Opern-Theater mit trefflichen einheimischen Werken, mit Sängern, geeignet, selbe vorzutragen, und mit Instrumenten, werth, klassisch vorgetragene klassische Werke zu begleiten, bereichern, und noch viele andere glückliche Resultate...

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