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Anklage: Sterbehilfe

Machen unsere Gesetze Angehörige zu Straftätern?

AutorMartina Rosenberg
VerlagBlanvalet
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641155797
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Leben um jeden Preis?
Juni 2012. Das Gericht verurteilt einen 26-jährigen Mann zu drei Jahren Gefängnis. Er tötete seine Mutter, die seit sieben Jahren im Wachkoma in einem Pflegeheim lag. Ein Drama, das so nicht hätte passieren dürfen. Im Stich gelassen von der Gesellschaft und von der Politik, traf der Sohn eine unwiderrufliche Entscheidung. Wie konnte es dazu kommen?

Martina Rosenberg erzählt die authentische Geschichte eines Sohnes, der dem Leiden seiner Mutter nicht mehr tatenlos zusehen konnte - und sie stellt die Frage: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, die mitfühlende Angehörige zu Straftätern macht?

Martina Rosenberg wurde 1963 am Ammersee geboren als jüngstes von drei Kindern und einzige Tochter. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt kehrte sie mit ihrer Familie nach Deutschland und in ihr Elternhaus zurück. Sie absolvierte ein BWL-Studium mit Fachrichtung Marketing und arbeitete über sieben Jahre lang als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit für das Rote Kreuz. In dieser Zeit schloss sie ein Fernstudium als Journalistin ab. Martina Rosenberg lebt mit ihrem Mann, der gemeinsamen Tochter und ihrem Hund südlich von München.

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Leseprobe

1.

Langsam, sehr langsam fährt der ICE in den Bahnhof ein. Ich stehe an der Tür und schaue in ein wildes Schneetreiben. Obwohl es schon Mitte März ist, will der Winter nicht enden. »Trostlos« ist das Wort, das mir durch den Kopf schießt. Wie ist es, wenn man nicht durch ein Zugfenster sieht, sondern durch vergitterte Fenster?

Meine Gedanken wandern zu dem geplanten Besuch in der Justizvollzugsanstalt. Gleich werde ich durch eine schwere Eisentür gehen und mich einem Sicherheitscheck unterwerfen müssen. Wie sich das wohl anfühlt? Wird bestimmt nicht so schlimm werden, denke ich mir.

Die Bremsen quietschen. Mit einem Ruck kommt der Zug zum Stehen. Ich packe meinen Koffer und öffne beherzt die Tür. Zielstrebig folge ich den Schildern zum Hauptausgang des Bahnhofs und laufe zum Taxistand.

»Sie wissen, wie’s zur JVA geht?«, frage ich einen Taxifahrer.

»Ja, glaub schon«, antwortet er mürrisch. »Oft war ich da aber noch nicht.«

Beinahe hätte ich ihm geantwortet: Ich noch gar nicht. Aber ich ignoriere seinen fragenden Blick und hieve meinen Koffer in sein Auto. Geht ihn ja auch nichts an, was ich da mache.

Ich steige ein, und der Wagen fährt los. Ich verspüre wenig Lust, mich zu unterhalten, und checke meine Mails auf dem Smartphone. Im Auto herrscht Stille.

Es dauert nicht lange, da hält der Fahrer es nicht mehr aus. »Besuchen Sie jemanden?«, fragt er betont locker.

»Ja!«, antworte ich einsilbig und tippe weiter auf meinem Handy herum.

Mehr muss er nun wirklich nicht wissen. Obwohl ich ihn nicht ansehe, nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, dass er mich immer wieder verstohlen anstarrt.

Seit Wochen fiebere ich auf diesen Besuch hin, um endlich zu erfahren, wer der junge Mann ist, der seine Mutter aus Liebe getötet hat. Sie war mehr als sieben Jahre zuvor durch einen Reitunfall so stark verletzt worden, dass sie ins künstliche Koma versetzt wurde, später lag sie dann im Wachkoma. Der Sohn konnte laut Zeitungsberichten ihr Leiden nicht mehr ertragen und erlöste sie seinen eigenen Worten nach davon.

Wie geht es dem jungen Mann heute? Jetzt, da er seine Strafe absitzen muss. Sein Anwalt spricht von einem in sich gekehrten Menschen, der keinen Kontakt zu anderen sucht. Werde ich ihn erreichen? Wird er mit mir sprechen wollen? Wenn ja, was hat er zu sagen?

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als ich im Radio vom Urteilsspruch der Richter erfuhr. Drei Jahre wegen Totschlags – ein Urteil, das Signalwirkung haben sollte. Es ging mir einfach nicht aus dem Kopf, wie es zu einem solchen Strafmaß kommen konnte. Seit diesem Tag beschäftigt mich die Frage, wieso die Gesellschaft einen Menschen, dem ein derartiges Unrecht widerfährt, im Stich lässt. Was läuft da schief? Man muss die Geschichte öffentlich machen.

Diese Gedanken habe ich dem jungen Mann in einem Brief übermittelt und auf einen Besuchstermin gehofft. Bisher hat er alle Journalistenbesuche abgelehnt. Ich war unglaublich gespannt, wie er reagieren würde. Und tatsächlich erreichte mich vor vier Wochen eine Antwort. Er ist nicht abgeneigt, mich zu treffen.

Ich denke an meine eigene Geschichte – ich habe meine Eltern über Jahre zu Hause gepflegt. Ich weiß, wie stark der Druck für Angehörige werden kann, wenn sie das Leiden Tag für Tag ansehen und nichts tun können. So stark, dass sie den Tod als gnädig empfinden.

War das in diesem Fall ebenso?

»Sie sind wohl nicht aus dieser Gegend?« Der Taxifahrer reißt mich aus meinen Gedanken.

»Nein«, antworte ich kurz angebunden.

Ich mag mich jetzt nicht unterhalten. Stattdessen lasse ich meinen Blick nach draußen wandern. Wir entfernen uns vom Zentrum der Stadt. Man sieht kaum noch Häuser, schließlich nur noch Felder und Wiesen rechts und links der Schnellstraße. Dann endlich wird die Haftanstalt sichtbar. Mir jagt es einen Schauer über den Rücken. Hinter hohen Mauern und Zäunen ragen mehrere schmucklose rote Ziegelsteingebäude auf. Wie viele Menschen hier wohl eingesperrt sind?

Schnell zahle ich den Taxifahrer. Ich steige aus, nehme mein Gepäck aus dem Kofferraum und eile zum Eingang der JVA. Mir wurde mitgeteilt, dass ich mich eine halbe Stunde vor der Besuchszeit einzufinden habe. Nur nichts falsch machen. Wer weiß, was sonst passiert? Nicht auszudenken, wenn ich den ganzen Weg umsonst gemacht hätte.

Eine schwere Eisentür wird geöffnet, kurze Zeit später stehe ich auch schon am Besucherempfang. Eine überraschend freundliche Justizbeamtin erklärt mir den Ablauf.

»Waren Sie schon einmal bei uns?«, fragt sie.

»Nein«, antworte ich.

Ein wenig zu schnell kommt die Antwort, wie ich selbst bemerke. So als ob ich klarstellen wollte, dass ich noch nie mit einem Straftäter in Berührung gekommen bin.

Wieso ist mir das eigentlich so wichtig?

»Sie dürfen nichts mitnehmen in den Besucherraum«, erklärt die Beamtin trocken. »Nur ein wenig Kleingeld, um am Automaten Getränke, Süßigkeiten oder Tabakwaren zu kaufen.«

Jetzt erst wird mir bewusst, wie sehr die Menschen hier isoliert sind. Von wegen einen selbst gebackenen Kuchen mitbringen, wie ich mir das überlegt hatte! Nichts, aber auch gar nichts darf von draußen hier hineingebracht werden.

Es ist wie am Flughafen. Jeder Besucher der Vollzugsanstalt hat sich einer Personenkontrolle zu unterziehen, die in der Regel mittels Detektor, Handsonde und Abtasten durchgeführt wird. Meine Schuhe werden auf einem Fließband durchleuchtet, die Habseligkeiten und das Gepäck in einen Spint geschlossen.

Mit mir sind noch andere Besucher hier, die auf ihre Freunde oder Angehörigen warten. Aber ich bin so mit mir beschäftigt, dass ich sie jetzt erst richtig wahrnehme. Ein gut angezogener junger Mann wird gerade kontrolliert. Er macht einen sehr gepflegten Eindruck. Ob er Anwalt ist?

Nachdem ich meine Schuhe wieder anziehen darf, gehe ich beherzt zur nächsten Tür, die laut Schild zum Besucherraum führt. Ein kurzer Ruck, und mir wird klar, dass auch diese verschlossen ist. Ich drehe mich um und blicke in grinsende Gesichter.

»Tut mir leid«, versuche ich die peinliche Situation zu retten. »Da habe ich mich mal wieder selbst überholt.«

»Immer mit der Ruhe«, meint ein Beamter gelassen und drückt lässig auf einen Knopf.

»Das ist eine Schleuse«, erklärt mir eine nette Frau, vermutlich ebenfalls eine Besucherin. »Die geht erst auf, wenn die Tür hinter uns verschlossen ist.«

»Aha«, erwidere ich dümmlich grinsend.

Was für ein Aufwand!, denke ich, wage aber nicht, die Frage zu stellen, warum das eigentlich nötig ist. Mittlerweile hat sowieso schon jeder mitbekommen, dass ich noch nie hier war.

Als sich die Tür öffnet, sehe ich dann den Besucherraum, in dem ich schon erwartet werde. Ein junger Mann steht an einem Tisch und blickt in meine Richtung. Als er mich entdeckt, kommt er mir entgegen und gibt mir dann höflich die Hand. Das muss Jan sein.

»Hallo«, sagt er und lächelt mich an.

»Hallo«, erwidere ich. »Schön, dass wir uns kennenlernen.«

Nachdem wir uns bekannt gemacht haben, setzen wir uns an einen Tisch. Um uns herum sitzen einige Leute an Tischen und unterhalten sich leise flüsternd miteinander. Ich schaue verstohlen herum und mustere die anderen Häftlinge. Was ist wohl passiert, dass sie hier eingesperrt sind?, geht mir durch den Kopf. Was haben sie für eine Lebensgeschichte? An einem Tisch sitzen ganz offensichtlich Eltern, die ihren Sohn besuchen. Es sind vorwiegend Frauen, vermutlich Freundinnen oder Ehefrauen, die hier mit den Inhaftierten reden. Die Atmosphäre in diesem Raum ist bedrückend.

Ich reiße mich von dem Anblick los und wende mich Jan zu.

Mir sitzt ein höflicher, zurückhaltender junger Mann mit blonden Haaren gegenüber. Es ist nicht schwer, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er wirkt aufgeräumt und überlegt genau, bevor er etwas sagt. Ich spüre schon nach kurzer Zeit, dass er eigentlich nicht hierhergehört.

Das erste Treffen soll ein gegenseitiges Kennenlernen sein. Im Laufe der Unterhaltung stelle ich Jan meine Idee vor. Ich bin so betroffen von seiner Geschichte, dass ich ein Buch darüber schreiben möchte. Jan reagiert positiv auf meinen Vorschlag. Er kennt mein vorheriges Buch und weiß, wer vor ihm sitzt. Vielleicht fühlt er sich ja ein wenig mehr von mir verstanden. Ich frage, ob ich ein Aufzeichnungsgerät benutzen darf. Das würde es für mich etwas einfacher machen. Jan ist einverstanden.

Als wir uns verabschieden, sagt Jan: »Wenn ich mit der Veröffentlichung meiner Geschichte etwas bewirken kann, will ich das tun.«

»Ob wir das schaffen, weiß ich nicht«, entgegne ich, »aber wir werden es versuchen.«

Ich fahre nachdenklich ins Hotel, zufrieden damit, wie unser erstes Treffen gelaufen ist, und erleichtert, wie...

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