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E-Book

Annäherung an Helmut Kohl

AutorRalf Georg Reuth
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783492975902
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Wer war dieser Mann, an dem sich die Geister schieden? In diesem Buch wird das Wichtigste über den Menschen und Politiker Helmut Kohl in sechs Kapiteln thematisiert: von seinen Prägungen, seinem Verständnis von Macht über seine Rolle während des Einigungsprozesses und bei der Integration Europas bis hin zur Parteispendenaffäre und seiner familiären Tragödie. Der Leser erhält dadurch nicht nur ein schärfer konturiertes Bild des sechsten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Er erhält auch neue Einblicke in Kohls Leben und Wirken, denn Ralf Georg Reuth begleitete Helmut Kohl jahrelang als Journalist und stützt sich bei seinen Analysen nicht zuletzt auf die zahlreichen Gespräche, die er mit ihm über Politik und Zeitgeschichte führte.

Ralf Georg Reuth ist Historiker und Autor. Er war lange Zeit als Berlin-Korrespondent für die Frankfurter Allgemeine Zeitung tätig und arbeitete danach für verschiedene Blätter des Axel Springer Verlags. Reuth hat zahlreiche Bücher zur Zeitgeschichte vorgelegt. Unter anderem porträtierte er Erwin Rommel, schrieb über Hitlers Judenhass und verfasste das Standardwerk zu Joseph Goebbels. Zuletzt erschien bei Piper 1923 - Kampf um die Republik.

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Leseprobe

Prägung


Helmut Kohl war Pfälzer. Er bekannte sich zu seiner Herkunft, ja, er war etwas stolz darauf. In seiner Doktorarbeit über die Anfänge der CDU in der Pfalz charakterisierte er den dort lebenden Menschenschlag und damit wohl auch ein wenig sich selbst, wenn er von fröhlichen und weltoffenen Leuten schrieb. Sie hätten viel Sinn für gesellschaftliches Zusammenleben und seien dogmatischem Denken abgeneigt. »Neben einem ausgeprägten Sinn für Toleranz besteht jedoch häufig ein allzu starkes und unangenehmes Selbstgefühl. In diesem ›lautstarken‹ Auftreten hat auch der ›Pfälzer Krischer‹ seinen Ursprung. Bei aller Aufgeschlossenheit und praktischen Intelligenz haben die Pfälzer keine ausgeprägte musische Veranlagung«, meinte Helmut Kohl. Später, nachdem sie ihn zum Provinzler gemacht hatten, legte er Wert darauf, es nicht unerwähnt zu lassen, dass er als Pfälzer vom Rhein komme. In seinen Erinnerungen zitiert er den von ihm verehrten Carl Zuckmayer, der in seinem Drama Des Teufels General von dem Strom als der »großen Völkermühle« schreibt, der »Kelter Europas«, aus der ein »natürlicher Adel« hervorgegangen sei, »weil sich die Völker vermischt haben«.

Geprägt wurde Helmut Kohl natürlich weniger durch seine geografische Herkunft als durch seine konkreten Lebensbedingungen. Und die waren schlecht, als er am 3. April 1930 geboren wurde. Deutschland stand damals noch ganz unter dem Eindruck der Folgen des Ersten Weltkriegs, unter denen der Westen des Landes und damit auch die zum Freistaat Bayern gehörende Rheinpfalz besonders schwer zu leiden gehabt hatte. Paris, das die Auffassung vertrat, die natürliche Grenze zwischen Franzosen und Deutschen sei der Rhein, hatte das gesamte linksrheinische Gebiet abgetrennt und ein rigoroses Besatzungsregime eingerichtet, das erst im Juni 1930 endete. Gleichzeitig hatte man alte Ressentiments gegen die deutsche Zentralmacht Preußen genutzt und separatistische Bewegungen geschürt. Ein paar Monate lang hatte es – von Frankreich gefördert – sogar unter dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten, dem Sozialdemokraten Johannes Hoffmann, eine von Bayern unabhängige Pfalz als autonomen Staat innerhalb des Deutschen Reiches gegeben. Die Folge von all dem war, dass in der seit jeher mehrheitlich nationalliberal und großdeutsch orientierten Pfalz Chauvinismus und Nationalismus wuchsen – eine Entwicklung, die sich am Ende der 20er-Jahre fortsetzte, als die Weltwirtschaftskrise die Not im »Grenzland« ins Unerträgliche steigerte. Es war also keine gute Zeit, in die Helmut Kohl hineingeboren wurde.

Seine Eltern gehörten dem katholischen Kleinbürgertum an. Vater Hans stammte von Bauern aus der Gegend von Würzburg ab. Er war Berufssoldat gewesen. Am Ende des Ersten Weltkriegs hatte er es zum Oberleutnant und Chef einer Transportkompanie gebracht, was im königlich-bayerischen Heer bei entsprechender Befähigung auch ohne die schulischen Voraussetzungen möglich war. Gerne wäre Hans Kohl Offizier geblieben, berichtete Helmut Kohls Schwester Hildegard später einmal einer Illustrierten. Doch im auf hunderttausend Mann reduzierten Heer, wie es dem Land im Versailler Frieden diktiert worden war, gab es keine Verwendung mehr für ihn. Immerhin war ihm eine Stelle als bayerischer Staatsdiener im Mittleren Dienst sicher, was in den schlechten Zeiten gar nicht hoch genug zu schätzen war. Hans Kohl kam in die Finanzverwaltung nach Ludwigshafen.

Als Soldat hatte er vor dem Ersten Weltkrieg im pfälzischen Landau, wo er stationiert war, Cäcilie Schnur kennengelernt, die einer katholischen Lehrerfamilie entstammte. 1920 hatten beide geheiratet. Sie lebten zunächst im Mainfränkischen und bezogen dann das Haus, das der Vater von Cäcilie in Friesenheim, damals noch nicht zu Ludwigshafen gehörend, gebaut hatte. Zehn Jahre nach der Eheschließung kam nach Hildegard und Walter noch Helmut. Er sei ein Nachkömmling gewesen, mit dem niemand mehr gerechnet habe. »Es waren damals schwere Zeiten (…). In dieser Situation ist ein weiteres Kind nicht das, was sich Eltern am sehnlichsten wünschen«, erzählt Schwester Hildegard. Bemerkenswert ist ihre Beschreibung des Jungen, zeigt sich darin doch schon der spätere Helmut Kohl: Er sei ein außergewöhnlich kräftiges Kind gewesen, bei der Geburt habe er bereits mehr als neun Pfund gewogen. Im Gegensatz zu seinem eher schüchternen größeren Bruder Walter sei er geradeheraus gewesen. Die Schwester vergaß dabei nicht, darauf hinzuweisen, dass ihr Bruder doch einen »sehr weichen Kern« habe, was in einem schroffen Gegensatz zur Gesamterscheinung stand.

Ansonsten ist nicht viel über die Kindheit von Helmut Kohl zu berichten. Er war ein ganz normaler Junge, der in behüteten Verhältnissen aufwuchs. Und die Kohls waren für die damalige Zeit eben eine ganz normale Familie: Der Vater, der als Sekretär, dann als Steuerobersekretär pflichtbewusst seinen Dienst im Finanzamt versah, war die Autorität, das Familienoberhaupt, wie es damals üblich war. Er konnte aufbrausend und auch grob sein, wie es Franken mitunter sind, dann aber wieder herzensgut. Helmut Kohl hob später dessen Pflichtbewusstsein und Pflichttreue als besondere Charakterzüge hervor. Von seiner Mutter sagte er, dass ihn ihre mütterliche Fürsorge, ihr Denken an andere und ihre Offenheit, auf andere zuzugehen, geprägt hätten – Äußerungen, die viele über ihre Mutter machen könnten. Bei Helmut Kohl schwang aber immer ein besonderes Maß an Respekt und Dankbarkeit mit, wenn er von seinen Eltern sprach.

Sicherlich hat dies auch damit zu tun, dass Helmut Kohl davon überzeugt war, dass ihm von zu Hause ein gutes Rüstzeug für das Leben mitgegeben worden war. Orientierung und damit Halt gab es in der Tat für die Kinder reichlich. Bei den Kohls hatten die Dinge ihren festen, unverrückbaren Platz. Anders als in intellektuellen Milieus war in der Familie des Finanzbeamten aus dem Mittleren Dienst nämlich gut gut und böse böse. Vorgelebt wurden den Kindern die Tugenden, mit denen schon Eltern und Großeltern aufgewachsen waren: Pflichtbewusstsein, Fleiß, Bescheidenheit, Treue und natürlich Vaterlandsliebe sowie der katholische Glaube – kurzum all das, was aus einem Kind einen »anständigen Menschen« machen würde.

Vieles von dem, was ihm vom Elternhaus vermittelt wurde, ist beim Blick auf den Politiker und Staatsmann Kohl wiederzufinden, so etwa seine Bescheidenheit, seine Vorliebe für das Einfache. Luxus oder gar Verschwendung waren ihm ebenso fremd wie Arroganz oder Allüren der Macht. Selbst als Inhaber höchster Ämter fremdelte er mit den damit verbundenen Formen und Insignien. Er war getragen von einem ausgeprägten Pragmatismus und neigte zu klaren Zuordnungen. Er war alles andere als der intellektuelle Zauderer. Er lebte vielmehr mit einem hohen Maß an Gewissheiten. Helmut Kohl stand auf einem tragfähigen Fundament, das ihm – verstärkt durch seine Erscheinung – früh ein Stück Unerschütterlichkeit verlieh und ihn mehr Selbstvertrauen ausstrahlen ließ, als er vielleicht hatte.

Eine seiner wichtigsten Gewissheiten war zweifellos sein Glaube. In seinen Erinnerungen schreibt er, dass »die Gemeinschaft der römisch-katholischen Kirche« für seine Eltern »die schützende und schöpferische Mitte« dargestellt habe. Vor allem für seine Mutter sei der Glaube der »Mittelpunkt ihres Daseins« gewesen. Sie habe sich in der Bibel ausgekannt und im Leben der Heiligen, »die sie je nach Bedarf und Zuständigkeit anrief«. »Sogar den normalen Kalender berechnete sie nach dem der Heiligen.« Helmut Kohl bekannte sich zeit seines Lebens ganz offen zu seinem Glauben. Es störte ihn später nicht, in der säkularisierten modernen Welt von manchen belächelt zu werden, wenn er als Kanzler etwa der Bild-Zeitung sagte, dass er täglich bete oder dass er an das Leben nach dem Tode glaube. Und hinzufügte, für ihn sei der Glaube an Gott und seine religiöse Überzeugung eine »entscheidende Grundlage« seines Lebens.

Helmut Kohl lebte diesen Glauben, indem er seit frühen Kindertagen die Messe besuchte. Als Bundeskanzler ließ er sich gelegentlich mit seiner Entourage im Hubschrauber zur Abendandacht nach Maria Laach fliegen, um sich in der Abtei bei Orgelmusik zu sammeln. »Dann gingen wir zum alten Abt, mit dem wir die Welt bekakelten und ob der Glaube noch stark ist. Die hatten wunderbaren Wein, und wir tranken meistens zwei, drei Flaschen Trierer Auslese.« Und sie machten dort natürlich Brotzeit, wobei Helmut Kohl – wenn er den Laib anschnitt – das Kreuzeszeichen darauf schlug, wie es schon seine Mutter getan hatte. Dem Verfasser bot der Altkanzler – in Unkenntnis, dass dieser Protestant ist – einmal im Verlaufe eines Besuches in seinem Berliner Büro völlig unvermittelt an, mit ihm die Absolution zu empfangen, denn gleich kämen die Bischöfe. (Er meinte damit den Mainzer Bischof und Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz Kardinal Lehmann samt Anhang, der im Anmarsch war.) Mit Lehmann verband Kohl eine freundschaftliche Beziehung, ähnelten sie doch in gewisser Hinsicht einander, nicht nur in der Physiognomie: Lehmann, der Nichtdogmatiker, und Kohl, dessen Verhältnis zu den Dingen des Glaubens nie ein nur transzendentes war.

Wie er es in seinem Elternhaus erfahren hatte, war der Glaube für Helmut Kohl stets auch ein Stück Tradition, ein Stück Brauchtum, in dem sich nicht zuletzt seine Verbundenheit mit seiner pfälzischen Heimat ausdrückte: Ob es die Sternsinger waren, die mit Kreide über die Eingänge zu den Häusern das »C+M+B« schrieben, das ja gar nicht für Caspar, Melchior, Balthasar stehe, wie er einmal – schon im Rollstuhl sitzend und mit Mühe sprechend – an der Tür seines Ludwigshafener...

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