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E-Book

Annas Spuren

Ein Opfer der NS-'Euthanasie'

AutorSigrid Falkenstein
VerlagHerbig
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783776681505
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Per Zufall stößt sie auf ein Familiengeheimnis: Anna war geistig behindert; die Nazis vollstreckten an ihr 1940 den 'Gnadentod' in der Gaskammer von Grafeneck. Als Sigrid Falkenstein den Namen ihrer Tante auf einer Tötungsliste im Internet findet, Beginnt sie zu recherchieren: Aus dem Familiengedächtnis, mithilfe alter Fotos und durch das Studium von Patientenakten rekonstruiert sie Annas tragische Lebensgeschichte, um sie gemeinsam mit dem Psychiater Frank Schneider in einen größeren Kontext zu stellen. Annas Tod steht für den Massenmord an etwa 300 000 psychisch kranken, geistig und körperlich behinderten Menschen, die im Sinne der Rassen- und Erbhygiene vernichtet wurden. Ein anrührendes Buch und zugleich eine eindringliche Mahnung.

Sigrid Falkenstein, Jahrgang 1946, wuchs im Ruhrgebiet auf und lebt seit 1971 in Berlin, wo sie als Lehrerin arbeitete. Mit großem Engagement setzt sie sich u.a. in Zusammenarbeit mit der Stiftung Topographie des Terrors für das Gedenken der Opfer der NS-'Euthanasie' ein. Prof. Dr. med. Dr. rer. soc. Frank Schneider, Jahrgang 1958, war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde und arbeitet als Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Aachen. Die Aufarbeitung der Geschichte seines ei- genen Berufsstandes ist ihm ein großes Anliegen.

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Leseprobe

Der Wahn der Rassenhygiene

Die letzten Jahre in Oberhausen

Liebe Anna, eines der schönsten Fotos von dir entsteht im Sommer 1932. Du bist nun knapp 17 Jahre alt und sitzt mit deiner Freundin Hedwig auf einer Bank im Hof deines Elternhauses. Noch liegt das Leben mit all seinen Jungmädchenträumen vor euch. Es ist herzerwärmend, wie fröhlich und unbeschwert du in die Kamera lachst. Vielleicht hast du gerade mit Hedwig über die Liebe getuschelt – ein schöner Gedanke, dass du vielleicht sogar verliebt bist. Das Foto strahlt nichts von der zunehmenden Gewalt aus, die sich außerhalb eures geschützten Gartens zusammenbraut. Wie gut, dass du an diesem Tag nicht ahnst, wie sehr dein Leben bedroht ist.

14 Die 17-jährige Anna mit ihrer Freundin Hedwig, 1932

Als du 1932 aus der Bonner Anstalt nach Hause zurückkehrst, stehen die Zeichen auf Sturm. In deiner Krankenakte ist am Tag der Entlassung vermerkt, dass die Mutter ihre schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse erwähnt. Kein Wunder, dass ihre Lage ökonomisch immer prekärer wird, denn infolge der verheerenden Weltwirtschaftskrise ist zu dieser Zeit bereits mehr als ein Drittel der Oberhausener Erwerbstätigen arbeitslos. Das soziale Elend ist überall spürbar. Wieder einmal muss die Bevölkerung im Ruhrgebiet hungern und frieren. Für die meisten reicht es knapp zum Überleben und auch das nicht immer. »Die Sterbestatistiken belegen die Folgen von Unterernährung und Entkräftung.«[1] Auch in deinem Elternhaus zeigt sich die Armut immer deutlicher. Das Haus gehört längst der Bank, zeitweise wird der Strom abgeschaltet, und die Brauereien geben keinen Kredit mehr. So kann es vorkommen, dass deine jüngeren Brüder mit einer großen Glasflasche quer durch die Stadt laufen, um bei einem befreundeten Gastwirt Schnaps zu holen, der später zu Hause mit Wasser verdünnt weiterverkauft wird. Es ist nachvollziehbar, dass die Streitigkeiten zwischen den Eltern in dieser problembeladenen Situation zunehmen.

Die wirtschaftliche Situation in Deutschland eskaliert und die Nationalsozialisten versuchen, daraus politisches Kapital zu schlagen. Über die politische Einstellung der Familie zu jener Zeit kann ich nur Mutmaßungen anstellen. Das katholische Zentrum, die stärkste Partei in der mehrheitlich katholischen Stadt Oberhausen, ist vermutlich keine Option für die überwiegend evangelische Familie. In der von Schwerindustrie und Industriearbeiterschaft geprägten Stadt Oberhausen dominieren die Anhänger der christlich, kommunistisch oder sozialdemokratisch ausgerichteten Arbeiterbewegungen[2], aus deren Reihen der einzig nennenswerte Widerstand gegen die NSDAP kommt. Es ist unwahrscheinlich, dass deine Angehörigen dazugehören. Vielmehr gelten ihre Sympathien wohl – wie bei weiten Teilen des bürgerlichen Mittelstandes – den Parteien des deutschnationalen Spektrums, die später zum Steigbügelhalter Hitlers werden.

In das Gedächtnis deiner Brüder haben sich die Bilder von Rotfront-Schalmeien-Zügen, Zusammenstößen mit den braunen Schlägertrupps der SA und vom Eingreifen der berittenen Polizei mit Gummiknüppeln unauslöschlich eingebrannt. Vermutlich hat das Geschehen auf der Straße bei dir – anders als bei deinen Brüdern – eher Ängste ausgelöst. Haben die Jungen dir erzählt, dass sie einmal zwischen die Fronten geraten sind und dein Bruder Fritz einen Schlag auf den Kopf abbekam? Für sie ähnelt das Ganze mehr einer spannenden »Kloppe« auf einem Abenteuerspielplatz. Was für die Jungen Spiel ist, bedeutet bitteren Ernst für viele andere. Nach der Übertragung der politischen Gewalt an die Nationalsozialisten und ihre rechtskonservativen Verbündeten 1933 werden politische Gegner, darunter vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, verfolgt, widerrechtlich inhaftiert und ermordet. Das alles geschieht in eurer unmittelbaren Nachbarschaft. Am 1. April 1933 marschieren SA-Truppen durch Oberhausen, postieren sich vor jüdischen Geschäften und drangsalieren die jüdischen Geschäftsleute.[3]

Ich bin sicher, dass ihr zu Hause darüber redet, denn die Geschäfte gehören seit vielen Jahren zu eurem Alltagsleben. Noch gibt es 105 jüdische Geschäfte in der Stadt, 1934 sind es nur noch 65. Einige Zeit nach dem Novemberpogrom 1938 wird kein einziges mehr existieren.[4]

Als deine Mutter Anfang des letzten Jahrhunderts Lehrmädchen im Kaufhaus Hirschland war, lebte sie einige Jahre im Haus der jüdischen Eigentümerfamilie Rosenthal und von daher kannte sie zweifellos deren Kinder Erich und Otto. Du teilst mit den beiden nicht nur den Geburtsort Sterkrade – viele Jahrzehnte später finde ich die Namen von Otto und Erich Rosenthal im Gedenkbuch für Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.[5] Beide wurden 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ein Jahr später im Namen derselben Ideologie vergast wie du. Und noch eine weitere unheilvolle Verbindung existiert zwischen euch. Dein Mörder, der »Euthanasie«-Arzt Horst Schumann, war ab 1942 als Lagerarzt in Auschwitz an medizinischen Experimenten und an der Selektion von Häftlingen beteiligt.[6] Er könnte dort auch Otto und Erich begegnet sein.

Du kannst nicht protestieren in jenen Anfangsjahren des Terrorregimes, als die unheilvollen Vorzeichen schon so deutlich zu erkennen sind. Aber was ist mit deiner Familie und den vielen anderen in eurer Nachbarschaft? Ich möchte so gerne glauben, dass deine Mutter weiterhin mit dir in den vertrauten jüdischen Geschäften einkauft und damit riskiert, dass man ihr Bild beim Verlassen eines Geschäftes in der Sterkrader Mitte öffentlich ausstellt. Doch es ist eher zu bezweifeln, dass ausgerechnet sie zu den wenigen gehört, die genug Zivilcourage aufbringen, um sich im Alltag dem System des NS-Staates zu verweigern oder gar zu widersetzen. Noch bei den Reichstagswahlen im November 1932 ist in Oberhausen die kommunistische Partei zweitstärkste politische Kraft hinter dem katholischen Zentrum. Bei der Volksabstimmung im August 1934, mit der sich Hitler als Führer und Reichstagskanzler bestätigen lässt, liegt die Stadt jedoch mit 98,5 Prozent Ja-Stimmen an der Spitze aller Großstädte im Reich.[7] Ihr ahnt noch nicht, auf welchen Abgrund euer Leben zutreibt.

Umzug nach Mülheim an der Ruhr (1934)

Liebe Anna, nicht nur die politischen Ereignisse überschlagen sich mit dramatischen Folgen, auch das private Leben eurer Familie erfährt im Herbst 1934 einschneidende Veränderungen. Die Ehe der Eltern ist unwiderruflich gescheitert. Zu den persönlichen Problemen kommt der endgültige wirtschaftliche Ruin. Deine Mutter verlässt mit dir und deinen beiden jüngeren Brüdern euer Elternhaus in Sterkrade und bezieht eine kleine Wohnung in der Nachbarstadt Mülheim an der Ruhr. Der damit verbundene, nach außen sichtbare soziale Abstieg belastet sie stark. In den darauffolgenden Jahren hält sie die kleine Familie notdürftig über Wasser. Mein Vater konnte sich noch gut an die Armut jener Jahre und das verzweifelte Bemühen eurer Mutter erinnern, den äußeren Schein zu wahren.

Was mag der Umzug für dich bedeutet haben? Du wirst aus deinem vertrauten heimatlichen Umfeld gerissen, deine Freundinnen aus der Gemeinde fehlen dir vermutlich sehr. In Sterkrade hast du dich sicher gefühlt und bist gerne alleine spazieren gegangen. Nun traust du dich wahrscheinlich nicht mehr aus dem Haus. Die neue Wohnung, das Haus, die Straßen und vor allem die Menschen sind dir völlig fremd. Da du ein ängstlicher und schüchterner Mensch bist, sitzt du bestimmt tagsüber meistens alleine in der kleinen Wohnung und weißt nicht viel mit dir anzufangen. Wie einsam magst du dich gefühlt haben? Schon in Bonn hat man festgestellt, dass du überaus »antriebsarm und passiv« bist. Du musst zu jeder Arbeit aufgefordert werden und beschäftigst dich nur selten spontan mit einer Sache. Damals schrieb man über dich: »A. ist ein sehr ruhiges Mädchen. Sie beteiligt sich fast nie beim Spiel der Kinder. Die meiste Zeit sitzt sie da und schaut nur so vor sich hin. Hat A. ein Buch, so blättert sie eine kurze Zeit darin herum und legt es wieder weg. In den ersten Tagen hat A. fast nichts gegessen, sie meinte dann schneller nach Hause zu kommen.« Überhaupt ist dein Essverhalten ein großes Problem, das auch bei deiner späteren Untersuchung 1936 angesprochen wird. Du isst schlecht und meist nur gezwungenermaßen. In Sterkrade war deine Mutter immer zu Hause und konnte auf dich achten. Es ist nachvollziehbar, dass sie sich nun große Sorgen um dich macht, wenn sie die Wohnung für viele Stunden verlässt, um zur Arbeit zu gehen.

Schule und Propaganda

Liebe Anna, beim Umzug nach Mülheim ist dein Bruder Fritz fast 14 Jahre alt. Im Gegensatz zu dir gewöhnt er sich ziemlich schnell an die neue Umgebung in dem beschaulichen Mülheimer Vorort Saarn und findet Freunde in der Nachbarschaft, im Sportverein und in der Schule. Er ist viel unterwegs und nicht mehr der kleine Bruder aus Kindertagen, mit dem du so gerne gespielt hast. Die Schule tut vielleicht ihr Übriges, um euch voneinander zu entfremden.

Während seiner Schulzeit wird der Unterricht nach und nach an die nationalsozialistische Denkweise angepasst. Man versucht, die Ideologie der »reinen arischen Rasse« und des »gesunden Volkskörpers« in die Köpfe der Kinder und Jugendlichen einzupfropfen. Typische Beispiele sind der NS-Propaganda entlehnte Rechenaufgaben wie diese: »Der jährliche Aufwand des Staates für einen Geisteskranken beträgt im Durchschnitt 766 RM, ein Tauber oder Blinder kostet 615 RM, ein Krüppel...

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