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E-Book

Anquetil

Mit Leib und Seele

AutorPaul Fournel
VerlagEgoth Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783902480125
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
'Maître Jacques', wie ihn das Fahrerfeld respektgebietend nannte, düste in 'Anquetil tout seul', dem Sportbuch des Jahres 2012 in Frankreich, durch die Kindheit seines Autors Paul Fournel wie eine majestätische Caravelle. Da dessen Bewunderung für ihn, dem fünfmaligen Tour-de-France-Sieger, nie erloschen war, kam er erst sehr viel später auf die Idee, ein Portrait von ihm zu schreiben. Nun ist dieses bemerkenswerte Portrait unter dem Titel 'Anquetil - Mit Leib und Seele' auf Deutsch erschienen (egoth Verlag, ISBN 978-3-902480-85-9). 'Sein Pedaltritt war zu schön, um wahr zu sein. Er gaukelte Leichtigkeit und Anmut, Höhenritt und Wiegetritt in einer überwiegenden Männerdomäne vor, die Holzfällern, Pedalrittern und Arbeitstieren vorbehalten war', schreibt Paul Fournel. Damals, in den Sechzigern, war die Grande Nation in zwei Lager gespalten: Poulidor, der ewige Zweite und 'Maître Jacques', der ungeliebte Stratege mit der Registrierkasse im Kopf - dazwischen gab es nichts. Anquetil ist nicht dem Fluch entkommen, der auf den Gelben Trikots der Tour lastet, die ihre Träger auf der Landstraße zwar unsterblich machen, aber nicht im wahren Leben. Er starb, wie viele andere, früh. Mit nur 53 Jahren. Er war jünger als Bobet, den der Tod mit 58 ereilte, aber älter als Fignon, der im Alter von 50 starb, während Coppi nur 41 Jahre alt wurde, Koblet gar nur 39. Als Anquetil in der Klinik Saint-Hilaire in Rouen den finalen Kampf seines Lebens führte, soll er Poulidor, so die Legende, zum Abschied völlig entkräftet ins Ohr gehaucht haben: 'Mein armer Raymond, ich werde als Erster die Reise ins Jenseits antreten. Du wirst Zweiter sein, wieder einmal!'

Paul Fournel wurde 1947 in Saint-Étienne als Sohn eines Buchhändlers geboren. Er studierte Literaturwissenschaft an der École normale supérieure in Saint-Cloud und hat seither zahlreiche Bücher veröffentlicht: Romane und Gedichtsbände, Essays und Erzählungen. Bereits mehrfach wurde er für seine Arbeiten mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der 'prix Goncourt de la nouvelle' für seinen Erzählungsband 'Les Athlètes dans leur tête' ('Wie Athleten ticken'). Paul Fournel lebt in Paris. Wenn er nicht gerade an einem Buch schreibt, dann fährt er Rad - seine zweite Leidenschaft.

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Leseprobe

Gegen sich selbst


Anquetil vollführt über der Badewanne, in die heißes Wasser einläuft, einen gewagten Balanceakt. Er ist nackt. Der Dampf steigt empor, umhüllt sein Genital, sein Gesäß, seine Beine: die Waden sind muskulös, die Oberschenkel millionenschwer. Der Dunst trifft seinen Kopf, der, wenn auch unfreiwillig, als Thermometer fungiert. Anquetil sieht an sich herunter, ohne seine Füße wahrzunehmen. Er nimmt die Hitze in sich auf, er versorgt damit seine Muskeln. Er denkt nicht an das Rennen, bei dem er gleich starten wird, auch geht er den Streckenverlauf im Kopf nicht mehr durch. Er ist ihm auf den Magen geschlagen; er findet den Parcours technisch anspruchsvoll, kompakt, selektiv, kurvenreich und er weiß, dass er nach dem Start locker treten und ihn zentimetergenau durchfahren wird – eine Straßenkarte könnte nicht präziser sein. Er hat Angst. Der Dampf lässt seine Quadrizepse anschwellen und lindert seine Qualen. Er hat einen festen Ablauf ritualisiert: Er war beim Friseur, die Spitzen seiner Kurzhaarfrisur wurden gestylt und die Ohren freigelegt, er sieht wie ein Raketengeschoss aus; er hat seinen Handaufleger aufgesucht, der ihm die Hände auf seinen chronisch empfindlichen Hals und auf alle Körperstellen auflegte, da, wo es ihm höllisch wehtun wird; am Freitag hat er auf dem 120-Kilometer-Ritt in Bouchers Windschatten, seinem Trainer-Guru und betagten Derny-Fahrer, mit aller Kraft in die Pedale getreten; am Samstag hat er den Parcours mit dem Rad Meter um Meter abgefahren; zudem hat er ihn anhand der Streckenkarte erkundet, nun wärmt er sich über der Badewanne.

Auf dem Stuhl direkt neben dem Waschbecken die Radhose, schwarz, die Socken, weiß, das Trikot, allesamt noch nicht getragen; auf dem Fußboden stehen schwarze Rennschuhe aus Leder, geputzt und vorsorglich getragen, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden, die Pedalplatten sind sorgfältig an den Sohlen befestigt.

ANQUETIL: Ich fahre in der Mitte der Passstraße, bergab schneide ich keine Kurven, dadurch erspare ich mir viele kurze Abfahrten und kleine Anstiege. Ich überlasse diese Linie den geringverdienenden Kollegen, den Erbsenzählern. Die Straßenführung des Ingenieurs lege ich neu fest, ich wähle den Streifen der Straße, den die Autos geglättet haben, wodurch ich die Straßenränder mit Splitt, Glassplittern und Staub meide. Die Route gleitet unter mir dahin. Ich habe sie unter die Räder genommen. So weiß ich, dass nach diesem Haus eine Linkskurve folgt und die Straße dann ansteigen wird, ich weiß, dass mich die Baumreihe am Wegesrand für einen Moment vor dem Wind schützen wird. Mir gehört die Route in ihrer ganzen Breite und ich wähle den kürzesten Weg. Ich gleite auf meinen 18 mm breiten Schlauchreifen, 8 Bar, wie auf einem Luftkissen.

Ich mag breite Landstraßen mit feinkörnigem Belag, die sich so schön dahinschlängeln, jene Straßen, auf denen man seine volle Kraft entfalten kann, ich mag langgezogene, ebene Kurven, leicht welliges Terrain, Anstiege, in die man seine Kraft hineinlegt, ohne wesentlich an Tempo einzubüßen, ich mag die Picardie, Châteaufort, die weiten Plateaus in den Kornfeldern der Chevreuse, durch die der Wind säuselt. Den Rumpf noch etwas tiefer beugen, den Kopf ganz wenig heben, um den Horizont mehr zu erahnen als zu sehen, dem Wind ein Schnippchen schlagen. 52 × 15, 52 × 14, 52 × 13.2 Wie ein schwarzes, endloses Asphaltband gleitet die Route unter mir dahin. Mein eigentliches Zuhause ist die Landstraße. Meine Häuser, meine Schlösser sind Zwischenstationen.

Der Wind ist eine Mauer, die ich durchbreche: den Rücken gekrümmt, die Nase an der Lenkerachse, die Arme eng am Körper. Ich personifiziere die eiförmige Haltung der Skirennfahrer, statt der Bretter habe ich eine Kurbel. Selbst in den schwersten Momenten, in denen die Verkrampfung am ganzen Körper unerträglich wird, bemühe ich mich, meine Haltung keinen Fingerbreit zu verändern. Mein Rücken brüllt vor Schmerzen und ich trete noch härter, um meine Pedale wieder nach oben zu ziehen. Den Kopf auch nur einen Moment lang heben, um meinen Nacken zu entspannen, würde mich wertvolle Sekunden kosten. Und nichts ist teurer als die (aerodynamische) Position zu verlassen. Das haben mir die alpinen Rennläufer gelehrt.

Allen Journalisten verrate und wiederhole ich mein Geheimnis: Ein Zeitfahren muss man schnell angehen, in der Schlussphase nochmals Gas geben, dazwischen den Atem zur Ruhe kommen lassen, sich verschnaufen. Der Druck lässt schon auf wenigen Kilometern nach, und die Kräfte regenerieren vor dem Schlussspurt. So weit, so theoretisch. Denn dieses Vorgehen halte ich natürlich nicht ein, aber allen, die es hören wollen, bestätige ich meinen Plan. Meine Gegner probieren ihn schließlich aus. »Vielleicht hat er recht. Vielleicht ist dies das Geheimnis seiner Kraft.« Sie lassen die Beine etwas baumeln und ich profitiere davon. Während sie das Tempo drosseln, bolze ich von Anfang bis Ende. Ich bin eine Maschine, ein Roboter auf der Flucht. Ich gehe zum Angriff über. Meine Arme sind Federgabeln, meine Oberschenkel Tretlager. Ich bin frei.

Ich habe Schmerzen: im Nacken, in den Schultern, im Rücken; das Gesäß und die Schenkel sind die reinste Hölle. Man muss die brennenden, stechenden Schmerzen ertragen, die jede Pedalumdrehung neu hervorruft, jenen Punkt herausfinden, an dem ein lähmender Krampf aufzutreten droht. Durchhalten, wenn während des Rennens etwa jede Viertelstunde die schon bleischweren Muskeln noch schwerer werden. Konzentriert fahren, um sicher zu sein, dass der Bewegungsablauf des runden Tritts - Schub, Druck, Zug, Hub - immer vollständig ist, darauf achten, dass der Knöchel locker bleibt. Für den Rücken gibt es keine Haltungsnoten, doch er muss schön rund sein. Das größtmögliche Blatt so schnell wie nur möglich treten. Und durchhalten. Nicht auf die Stimme des inneren Schweinehundes hören, der in einem haust. In einer Welt voller Schmerzen in die Pedale treten, wie nur ich es vermag und mich davon überzeugen, dass, wenn ich so leide, es für die anderen nicht möglich ist, den Rhythmus zu halten.

Ich schinde mich, um noch leidensfähiger zu werden und bilde stille Reserven. Im Training fahre ich im Windschatten von Bouchers Derny oder im Sog meiner Ehefrau Janine. Ich klebe an ihrem Mercedes. Oder umgekehrt, der Mercedes-Stern sitzt mir im Nacken, wenn sie mich vorwärtstreibt. Mit sechzig Stundenkilometern bin ich schneller als im Rennen, ich wachse über mich hinaus. Ich trainiere meine Schmerzresistenz. Meine Schrittmacher dürfen das Tempo nicht drosseln, sie müssen mich zu den Passagen »ziehen«, die wehtun und die nur ich kenne. Selbst wenn ich sie förmlich anflehe, dürfen sie das Tempo nicht herausnehmen. Die Zähne zusammenbeißen, durchhalten, sich nicht aufrichten - lautet die Devise. Am Renntag, wenn ich wieder auf mich selbst gestellt bin und wie ein Hund leide, weiß ich unterschwellig, dass ich noch schlimmere Schmerzen kenne. Das verschafft mir den psychologischen Vorteil, mich länger geißeln zu können als die anderen. Und je härter das Rennen, desto mehr spüre ich den Schmerz der Gegner, und er lindert meinen eigenen.

Hinter mir, auf Höhe der Stoßstange des bordeauxroten Hotchkiss oder des weißen Peugeot 203 3, prangt mein Name, damit das Publikum mich erkennt. In riesigen schwarzen Lettern auf weißem Grund: ANQUETIL. Mein Name verfolgt mich und treibt mich vorwärts. Ich fahre am Limit. Ich bin auf der Flucht.

Am Ende einer langen Geraden hat der Wagen vor mir einen Schlenker gemacht, und ich habe Poulidor erkannt, der vor mir startete, ich habe sein violettes Trikot der Mercier-Mannschaft flüchtig gesehen. Mein Blick hat sich wie eine Lanze in seinen Rücken gebohrt und nun habe ich ihn im Sichtfeld. Er wird mich am imaginären Gummiband ziehen, das sich gerade zwischen uns spannte. Ich weiß, dass ich ihn einholen werde. Er ist drei Minuten vor mir ins Rennen gegangen, und schon bin ich ihm auf den Fersen.

Eine Kurve. »Poupou« entschwindet meinem Blick, dann verdeckt ihn sein Begleitwagen, aber ich lasse ihn nicht mehr ziehen. Im Gegenteil, nun wird er mich ziehen. Das ist der Moment. In den nächsten Minuten werde ich mir keine Fragen mehr stellen. Ich bin in seinem Schlepptau. Allein der Gedanke, ihn einzuholen, ließ mich schneller werden: erst einen, dann zwei Stundenkilometer. Auf dem nächsten geraden Stück werde ich auf seine Schultern starren, die sein violettes Trikot zieren und er wird mich noch vorwärtsziehen. Ich muss schrittweise beschleunigen, will ich von seiner Kraft maximal profitieren. Ich darf nicht über ihn herfallen, ich will ihn in meinem Atem aufsaugen. Ich überlasse ihm eine Straßenseite, ich werde in hohem Tempo links vorbeiziehen, ohne ihn anzusehen, dafür starre ich auf den Asphalt, ohne einen Millimeter auf dem Sattel zu rutschen. Bei meinem Tempo wird er chancenlos sein. Er wird unwillkürlich den Kopf nach links wenden, er ist beunruhigt. Und ausgebrannt. »Schon drei Minuten verloren«, wird er sich sagen. Nur meine Beine dürfen sich bewegen. Er ist...

Blick ins Buch

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