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Antisemitismus vor Gericht

Debatten über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland (1879-1960)

AutorChristoph Jahr
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl475 Seiten
ISBN9783593417141
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,99 EUR
Die immer neu aufflammende Diskussion, wie Rechtsextremismus zu bekämpfen sei, hat lange Tradition. Christoph Jahr untersucht, wie zwischen 1879 und 1960 antisemitische Diffamierungen geahndet wurden. Welche Reaktionen löste die jeweilige Ahndung in der Gesellschaft aus? Erkennbar wird, dass antisemitische Agitation mal als Straftat wahrgenommen wurde, mal lediglich moralische Empörung nach sich zog. Im Nationalsozialismus war antisemitische Agitation sogar das normativ erwünschte Verhalten. Christoph Jahr beleuchtet außerdem, inwieweit es notwendig bzw. erwünscht schien, die angefeindete Bevölkerungsgruppe vor Angriffen zu schützen, und wenn ja, warum und mit welchen Mitteln das geschehen sollte. Ausgezeichnet mit dem Richard-Schmid-Preis 2012, vergeben vom Forum Justizgeschichte.

Christoph Jahr ist Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Leseprobe
I. Einleitung
So unbedingt auch die Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei von Seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber, sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit, insbesondere gegen den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck dieses unmässigen Gefühls.
Wenn der Staat vom öffentlichen Frieden spricht, so meint er nicht den Frieden in den Gemüthern, denn der Staat ist kein pietistischer Superintendent [...]. Sondern er meint den Frieden in den Straßen.
1. Thema, Fragestellung, Quellen- und Literaturbasis
Jedes Mal, wenn eine Welle rechtsradikaler Gewalt durch Deutschland rollt, wird die Diskussion, mit welchen Mitteln Staat und Gesellschaft dieser Bedrohung des öffentlichen Friedens, der demokratischen Ordnung und der Menschenwürde begegnen könnten, aufs Neue belebt. In diesen Debatten, so zuletzt im Zusammenhang mit dem 2003 gescheiterten Verbotsverfahren gegen die NPD, geraten die rechtsextremistische Gewalt und die ihr vorausgehende Propaganda entweder primär als Straftat oder als moralischer und politischer Skandal in den Blick. Entsprechend unterschiedlich lauten die Antworten auf die Frage, wie dieser Extremismus zu bekämpfen sei: Aus konservativer Sicht empfiehlt man vor allem Repression und Prävention, aus liberaler Perspektive hingegen Erziehung und Aufklärung. Gemeinsam ist diesem Forderungspaket aus Parteiverbot und Gemeinschaftskundeunterricht zweierlei: erstens der Rückgriff auf die NS-Zeit, in der die Judenfeindschaft, zur gesellschaftlichen Norm erhoben, in den Völkermord mündete; zweitens die zentrale Rolle, die der Staat als Polizist und Lehrer zugewiesen bekommt. Die deutsche Debatte über den Rechtsextremismus ist, wie Christoph Menke in Bezug auf die Fremdenfeindlichkeit feststellte, in hohem Maße »ein Diskurs im Namen des Staates«, in dem sich die Vorstellung widerspiegelt, gesellschaftliche Probleme ließen sich mit juristischen Mitteln steuern, wenn nicht gar lösen.
Die historischen Grundlagen dieser Debatte reichen weit zurück. Diese Studie möchte in Erfahrung bringen, ob die systematische Diffamierung einer für »fremd« und »schädlich« erklärten Bevölkerungsgruppe in der Vergangenheit als strafwürdiges Vergehen, als normativ erwünschtes oder im Gegenteil als moralische Empörung auslösendes und deshalb zu skandalisierendes Verhalten wahrgenommen wurde. Daran schließt sich die Frage an, ob man es für notwendig beziehungsweise erstrebenswert hielt, den öffentlichen Frieden vor solchen Angriffen zu schützen, und wenn ja, warum dieser Standpunkt vertreten wurde (oder gerade nicht), und, schließlich, mit welchen Mitteln man dieses Ziel zu erreichen suchte. Da seit Thomas Hobbes die Verhinderung des Krieges aller gegen alle das große Versprechen und zugleich die wichtigste Legitimation der tendenziell unbegrenzten Sanktionsgewalt des Leviathan ist, geraten Vorstellungen über das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, Staat und Gesellschaft, Recht und Justiz in den Blick. Welche Steuerungs- und Regelungspotenziale, insbesondere durch das Recht und die Justiz, wurden dem modernen Staat gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Bewegungen gegenüber zugesprochen? Welches gesellschaftliche Selbstbild spiegelte sich in dieser Diskussion? Was besagt dies über die politische Kultur, und welche mentalen Dispositionen bestimmten die Leitbilder der Akteure?
Vor einhundert Jahren spitzte sich die Auseinandersetzung um die Prinzipien der Gesellschaft, um das Verhältnis von Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz und Wahrung des öffentlichen Friedens in der Haltung zum Antisemitismus zu. Die Judenfeindschaft ist wohl die - zumindest in Europa und den europäisch geprägten Gesellschaften - älteste und wirkungsmächtigste Erscheinungsform innergesellschaftlicher Feinderklärung und »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«. Deren Inhalte und Formen, politische oder soziale Kontexte wandelten sich laufend. Nicht der Hass als solcher war beständig, sondern die Tatsache, dass er immer wieder ein und demselben, »Juden« genannten Kollektiv galt und weiterhin gilt.
Da der politische Rechtsextremismus fast immer mit einer Form der Judenfeindschaft einhergeht, kann die heutige Diskussion über seine Bekämpfung am Beispiel des Antisemitismus gewissermaßen historisiert werden. Weil die Schwelle staatlichen Handelns im Falle antisemitischer Äußerungen zumindest im Kaiserreich und in der Weimarer Republik sehr hoch angesetzt war, wurde meist allenfalls der radikale Zweig der »Radauantisemiten« mit staatlicher Repression konfrontiert, während weite Bereiche judenfeindlicher Bekundungen ungeahndet blieben, die heute öffentliche Proteste auslösen würden. In dieser Arbeit wird uns daher stets interessieren, wo, wie und warum die Grenze, jenseits deren der Antisemitismus justiziabel wurde, so gezogen wurde, wie sie gezogen wurde.
Will man Aufschluss darüber erhalten, wie sich eine Gesellschaft über die Notwendigkeit und die Formen der Wahrung des inneren Friedens zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen verständigt, liegt es nahe, auf das Rechtssystem und die Justiz zu blicken, ist doch das Recht »geronnene Politik«. Es bietet sich als geschichtswissenschaftliches Thema auch dem juristischen Laien an, der das Selbstverständnis vergangener Gesellschaften, ihre Machtverhältnisse und Strukturen, Wertverständnisse und Mentalitäten zu erhellen sucht. Dieter Grimm kennzeichnet das Recht als »Selbstbeschreibung einer Gesellschaft«, weil in ihm ihre »grundlegenden Präferenzen [...] symbolisch verankert, in Ordnungszusammenhänge umgesetzt und mit organisierten Sanktionen für den Fall der Zuwiderhandlung ausgestattet sind«, wobei umgekehrt »das geltende Recht wiederum von der Sozialstruktur abhängt«. Die Rolle des Rechts ist also für die Entwicklung moderner Gesellschaften von kaum zu überschätzender Bedeutung; vieles spricht dafür, es in einem gesellschaftsgeschichtlichen Zugang als gleichberechtigte Kategorie neben Politik, Ökonomie, Kultur und soziale Ungleichheit zu stellen. Allerdings wird der Historiker ihm wohl kaum eine genuin gestaltende Kraft zuschreiben, sondern es primär als Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen verstehen. Der Begriff der Gesellschaft geht dem des Rechts voraus, nicht umgekehrt.
Wenn im Folgenden von antisemitischer Agitation in Wort, Schrift und Bild die Rede ist, das heißt von »Äußerungsdelikten«, wie es bei den Juristen heißt, dann stehen weder die Erscheinungsformen des zwischenmenschlichen Alltagsantisemitismus noch die physische Gewaltausübung gegen Juden oder Friedhofs- und Synagogenschändungen im Mittelpunkt, denn der Zusammenhang zwischen Wort und Tat ist jeweils konkret nachzuweisen und nicht bedenkenlos vorauszusetzen. Agitation bedeutet in diesem Kontext eine öffentliche, nicht nebensächliche Äußerung, die sich explizit gegen Juden als Juden richtet. Ob die Besucher einer antisemitischen Versammlung mit dem Gehörten konform gingen oder einige lediglich »Unterhaltung« und »Amüsement« suchten, bleibt hier unerörtert. Sich an menschenfeindlicher Hetze zu erfreuen ist freilich allemal eine bedenkliche Erscheinung.
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