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Arabisches Beben

Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten

AutorRainer Hermann
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl350 Seiten
ISBN9783608110159
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Rainer Hermann, einer der besten Kenner des Nahen Ostens, langjähriger Auslandskorrespondent und Redakteur der »FAZ«, erklärt die wahren Ursachen der anhaltenden Konflikte. Deutlich benennt er die globalen Erfordernisse, denen wir uns stellen müssen: Versagen der staatlichen Strukturen, demographisches Wachstum und die zerfallenden Volkswirtschaften. Die Konflikte und Kriege im Nahen Osten sind keine vorübergehende Episode, sie werden uns noch lange beschäftigen. Die postkolonialen Nationalstaaten sind gescheitert, Gesellschaften brechen auseinander. Rainer Hermann zeigt, warum eine Rückkehr zur alten Ordnung nach dem Arabischen Frühling nicht möglich war und uns noch Jahrzehnte von Kriegen bevorstehen. Wir alle haben die eigentlichen Herausforderungen der Zukunft noch nicht benannt: Erst wenn die Menschen und die Nationen ihre konfliktbeladene Suche nach ihrer Identität abschließen und es eine neue verlässliche politische Kultur gibt, die nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung von Teilhabe ausschließt, wird es stabile Staaten geben. Das demographische Wachstum, dysfunktionale Volkswirtschaften und gravierende Umweltprobleme gefährden jedoch jede Entwicklung. Daher wird der Flüchtlingsstrom zu uns anhalten. Sollte die Integration nicht gelingen, wird ein Zusammenstoß zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheit unvermeidlich sein.

Rainer Hermann, geboren 1956, studierte Islamwissenschaft und Volkswirtschaft in Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus. Als Korrespondent der Bundesstelle für Außenhandelsinformation wurde er 1990 in Kuwait Augenzeuge des irakischen Einmarsches. Von 1991 bis 2008 berichtete er aus Istanbul über die Türkei und die arabische Welt, 2008 übersiedelte er nach Abu Dhabi, 2012 kehrte er nach Deutschland zurück und ist in der politischen Redaktion der »FAZ« vor allem für den Nahen Osten und die Türkei zuständig.

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Leseprobe

Zeitenwende


Ein gewaltiges Beben erschüttert den Nahen Osten. Über Jahrzehnte hatte eine Ordnung Bestand, die sich nur wenig veränderte. Heute stürzt sie ein. Konflikte und Kriege zerstören Städte und Landschaften, es zerfallen Gesellschaften, der Terror ist Teil des Alltags.

Zahlen der Vereinten Nationen illustrieren die dramatischen Folgen des Bebens. Zwar leben in der arabischen Welt lediglich fünf Prozent der Weltbevölkerung. In der Region werden jedoch 45 Prozent aller Terroranschläge verübt, auf sie entfallen 47 Prozent aller Binnenflüchtlinge und 57,5 Prozent der Flüchtlinge, die ihr Heimatland verlassen haben. Zudem sind zwei von drei Menschen, die bei Konflikten getötet oder verwundet werden, Araber.1

Daran wird sich auf absehbare Zeit wenig ändern. Denn die Vereinten Nationen erwarten, dass im Jahr 2050 drei von vier Arabern in Ländern mit hohem Konfliktrisiko leben werden.2 Ein Indikator dafür sind die Rüstungsausgaben. Je Einwohner lagen sie in der arabischen Welt von 1988 bis 2014 um zwei Drittel über dem Durchschnitt.3 Weltweit ist keine andere Region derart militarisiert wie der Nahe Osten, und die Militärausgaben steigen weiter.

Wir sind Zeugen einer Zeitenwende, die den Nahen Osten erfasst hat. Noch vor wenigen Jahren haben wir geglaubt, keine andere Region sei so stabil wie der Nahe Osten mit seinen Diktatoren, die über Jahrzehnte herrschten. Wir konnten uns keine anderen Herrscher mehr vorstellen als den Libyer Gaddafi und den Ägypter Mubarak, als Saddam Hussein im Irak und als die Assads in Syrien. Wir haben uns getäuscht: Sie sind weggespült, bis auf Baschar al-Assad, der sich aber lediglich zum Preis eines grausamen Krieges halten kann. Die Stabilität war nur Schein.

Ein langer historischer Prozess gelangt an sein Ende, dessen Anfänge ein halbes Jahrtausend zurückliegen. Eingesetzt hat er, als die Osmanen zu Beginn des 16. Jahrhunderts weite Teile der arabischen Welt eroberten. Die osmanische Herrschaft bescherte den Arabern eine Epoche des Wohlstands, ohne große Konflikte, aber auch ohne tiefgreifende Veränderungen. Ein erster folgenreicher Einschnitt war im Jahr 1798 die Expedition Napoleon Bonapartes nach Ägypten, die zur ersten Begegnung des arabischen Orients mit dem nun überlegenen Europa führte. Ein Jahrhundert später löste die Fremdherrschaft der nichtmuslimischen Kolonialmächte aus Europa die Fremdherrschaft der muslimischen Osmanen im Nahen Osten ab.

Das Ende der Kolonialherrschaft brachte dann zwar Selbstbestimmung, aber keine Befreiung. Säkulare Militärdiktaturen, die der Gesellschaft keine Freiheiten einräumten, übernahmen die Macht. Sie scheiterten, denn sie erfüllten nicht die Hoffnungen der Menschen auf ein Leben in Würde und Wohlstand. Die Antwort auf das Scheitern war der politische Islam, die Antwort auf den Staatsterror der Dschihad. Zuletzt wollten immer mehr Herrscher die dysfunktionalen Staaten an ihre Söhne weiterreichen.

Da gingen die Menschen zu Massenprotesten auf die Straße und lösten das Beben aus, das die Fassaden der Staaten zum Einsturz brachte. Der lange verborgene Zustand der arabischen Welt wird sichtbar: Regime, die weder Rechtsstaaten noch Sozialstaaten sind, die unterdrücken und ungerecht sind, Regime, die ihre Länder vor der Globalisierung abgeschottet haben. Epochale Umwälzungen haben jetzt aber eingesetzt, und sie stehen erst am Anfang.

Eine Analogie kann helfen, komplexe Sachverhalte oder Prozesse zu begreifen. Eine passende Analogie zum Zustand der arabischen Welt liefert die Geologie: Verwerfungslinien zeigen, wo Erdplatten aufeinanderprallen. Bewegen sich die Erdplatten, entsteht eine Spannung, die sich in Erdbeben entlädt. Eine Verwerfungslinie, die beispielswiese 500 Kilometer lang ist, kann in mehreren Schritten etappenweise gebrochen werden. Dann entlädt sich die Spannung in mehreren kleineren Erdbeben, die jeweils nur wenig Schaden anrichten. Die Spannung kann sich aber auch über eine lange Zeit aufbauen, der Untergrund kann sich bis zu einem gewissen Grad wie eine Feder biegen. Dann aber entlädt sich die Energie auf einmal mit großer Wucht und einer zerstörerischen Kraft, die ungleich größer als bei den kleinen Beben ist.

Überträgt man dies auf die Geschichte, wird aus einer Verwerfungslinie von 500 Kilometern eine Zeitachse von 500 Jahren. Europa ist in den vergangenen 500 Jahren von zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Beben erschüttert worden. Jedes Beben setzte zentrifugale Kräfte frei und erschütterte die Ordnung. Jedes Mal fing das Machtzentrum die zentrifugalen Kräfte durch Veränderungen auf, was die Systeme stabilisierte. So führte der Dreißigjährige Krieg zu einem Religionsfrieden und der völkerrechtlichen Gemeinschaft von Nationalstaaten; bei der Revolution von 1848 erkämpfte sich eine neue bürgerliche Mittelschicht die Teilhabe an der Politik; schließlich mündete die soziale Frage nicht in ein revolutionäres Proletariat, sondern wurde durch eine schrittweise verbesserte Absicherung der Industriearbeiter gelöst.

Die Beben erfolgten nacheinander und konnten daher leichter absorbiert worden. Konflikte wurden beigelegt, in jedem Fall wurde das Gerüst der Ordnung stärker, sodass es künftigen Beben besser standhalten konnte. Neu bestimmt wurde das Verhältnis von Staat und Religion, das von Staat und Gesellschaft sowie das der Religionen und das der gesellschaftlichen Gruppen untereinander. In diesen Prozessen haben der Rechtsstaat und der Sozialstaat ihren Ursprung. Letztlich setzt sich die Zivilisation Europas aus solchen Errungenschaften zusammen, die aus der Lösung von Konflikten hervorgegangen sind.

Anders die arabische Welt. Sie war Jahrhunderte stillgestanden. Die Araber empfanden das als umso bedrückender, als sie in der Zeit vom Ende des Römischen Reiches bis zum Beginn der europäischen Renaissance eine Hochzivilisation hervorgebracht hatten, die für ihre Zeit reich war und in der die Wissenschaften eine Blüte erlebten. Dann übernahm Europa die Fackel des Fortschritts, und die arabische Welt verfiel in einen langen, tiefen Schlaf.

Heute holt sie mehrere historische Prozesse nach, die Europa nacheinander erschüttert haben: Als sich Europa im Dreißigjährigen Krieg zerfleischte, war das Osmanische Reich eine Zone des religiösen Friedens und des Wohlstands, die keine Nationen kannte; als die bürgerliche Mittelschicht in Europa 1848 gegen die feudale Staatselite aufbegehrte, akzeptierten die Untertanen des Sultans die Ordnung als gottgegeben; als im Westen die Industrialisierung eine neue Welt schuf, waren die Araber weiterhin Händler und Landwirte. Denn der Islam begünstigt keine Akkumulation von Kapital.

Die Eruptionen haben erst begonnen. Wenn sich eine Verwerfungslinie in Bewegung setzt, die viele Jahrhunderte – und damit zu lange – ruhig war, bleibt kein Stein auf dem anderen. Noch vor wenigen Jahren haben wir geglaubt, keine Region der Welt sei so stabil wie der Nahe Osten mit seinen Diktatoren. Dann ist die Feder gesprungen, und die Erde hat sich in Bewegung gesetzt. Der Nahe Osten bebt, und mit den Flüchtlingen und dem Terror hat der Tsunami uns in Europa längst erreicht.

Historische Prozesse wiederholen sich nicht, es bestehen aber auffällige Ähnlichkeiten zwischen dem Gestern und dem Heute. So demonstrierten in der arabischen Welt im Jahr 2011 frustrierte Angehörige der Mittelschicht, die eine Teilhabe an Staat, Gesellschaft und Wirtschaft einforderten; es beteiligten sich Arbeiter von Staatsbetrieben, die gegen ihre schlechte Bezahlung protestierten. Die Menschen erkannten, dass ihre Staaten ihnen keinen Nutzen bringen, denn diese Staaten waren nie Solidargemeinschaften und sie stifteten keinen gesellschaftlichen Frieden. Vielmehr privilegierten sie eine kleine Elite auf Kosten anderer Bevölkerungsschichten.

Die Proteste wurden niedergeknüppelt. Einige Regime haben sich durch Konterrevolutionen gerettet, die von einer erschreckenden Repression begleitet sind; andere Länder sind in Kriege abgeglitten, in denen die Fronten oft zwischen religiösen Konfessionen verlaufen. Die vielen anhaltenden Konflikte und Kriege summieren sich in der Gegenwart zu einem Megabeben mit gewaltiger zerstörerischer Energie.

Wenn Gesellschaften und Staaten zerfallen, entsteht ein Vakuum, in das nichtstaatliche Akteure stoßen. Zu ihnen zählen der »Islamische Staat« und der dschihadistische Terror, aber auch externe Schutzmächte wie Saudi-Arabien für die sunnitischen Muslime und Iran für die schiitischen. In dem Maße, wie sie sich im Vakuum ausbreiteten, verschmolzen lokale Konflikte mit regionalen, und so...

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