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Arbeit an der Geschichte

Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft?

AutorDavid Feest, Jens Hacke, Jörg Baberowski, Priska Jones, Ruth Schilling, Vincent Houben
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl155 Seiten
ISBN9783593408552
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Die Beiträge des Bandes widmen sich der umfassenden Frage, was die Theorie für die Geschichtsschreibung leisten kann. Brauchen Historiker überhaupt Theorien? Und welche Rolle spielen speziell Theorien von Repräsentation in der Geschichtswissenschaft? Es kommen unter anderem Autoren zu Wort, die an historischen Fallbeispielen zeigen, was mit Theorien anzufangen ist und wie Geschichten erzählt werden müssen, die sich auf die Theorie berufen.

Jörg Baberowski ist Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Leseprobe
Was sind Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel? Anmerkungen zu einer Geschichte interkultureller Begegnungen Jörg Baberowski »Kulturgeschichte treiben«, sagt Roger Chartier, heißt, »den Betrieb der Repräsentation zu untersuchen«. Denn die Strukturen der sozialen Welt seien »keine objektiven Gegebenheiten«, sondern Produkte politischer, gesellschaftlicher und diskursiver Praktiken. Was Chartier vor 15 Jahren noch als Aufgabe formulierte, ist heute anerkannte Einsicht. Es kommt nicht länger darauf an, die Welt zu beschreiben, wie sie an sich ist, sondern wie Menschen sie gesehen haben. Der Abgrund zwischen Wirklichkeit und Repräsentation ist überwunden, die Wirklichkeit zu einem Modus der Repräsentation geworden. Wie aber stellen Repräsentationen Ordnungen her? In welchen Ordnungen entstehen welche Repräsentationen? Und wie verändern sich Repräsentationen und Ordnungen, wenn es zu Begegnungen zwischen Menschen kommt? Eine zureichende Antwort auf diese Fragen wird man nur bekommen, wenn man sich darüber verständigt hat, was Repräsentationen sind und in welchem Verhältnis sie zu den Ordnungen stehen, die sie ausrichten. Diese Frage lässt sich leichter beantworten, wenn zuvor entschieden worden ist, welches Verständnis von Repräsentationen man ausschließen möchte. 1. Sie sind keine Bezeichnung für repräsentative Institutionen oder Körperschaften, die Interessen vertreten oder den Willen von Menschen repräsentieren. 2. Sie sind keine bloßen Abbilder der gesellschaftlichen oder politischen Strukturen, über die sie Auskunft geben. 3. Hier wird auch nicht die erkenntnistheoretische Frage erörtert, welcher Zusammenhang zwischen der Wirklichkeit und den Vorstellungen besteht, die man sich von ihr macht. Was hier zur Sprache kommt, beruht auf der Prämisse, dass Wirklichkeit nur als vorgestellte und begriffene Wirklichkeit verstanden werden kann. Es wird also vorausgesetzt, dass zwischen derWirklichkeit und ihrer Repräsentation kein Abgrund besteht, der überwunden werden muss. Der Repräsentationsbegriff ermöglicht es, Handeln und (kulturelles) Wissen in einen Zusammenhang zu bringen. In diesem Verständnis sind Repräsentationen Organisationsformen des Wissens, Muster der sinnhaften Verarbeitung von Lebensverhältnissen und kollektiven Erfahrungen, dieMenschen ermächtigen, sich in der historischen, sozialen oder politischen Realität zurechtzufinden. Anders gesagt: Wir könnten die Welt nicht verstehen, wenn wir sie nicht auf Begriffe brächten oder in Symbolen oder Bildern darstellten und damit für uns und andere festhielten. Die Repräsentation des Erfahrenen ermöglicht es Menschen überhaupt erst, etwas zu wissen und es anderen mitzuteilen. Wenn wir nicht die Gabe besäßen, Erfahrungen aufzubewahren, weiterzuerzählen und ihnen eine dauerhafte Gestalt zu geben, könnten wir einander nicht mitteilen, wie wir die Welt sehen und erfahren haben. Um es mit Ernst Cassirer zu sagen: Der Mensch kann der Welt nicht unmittelbar gegenübertreten, er kann seinen eigenen Erfindungen nicht entkommen. Statt mit den Dingen, hat er es immer nur mit sich selbst und den Repräsentationen zu tun, die sein Wissen ordnen. Die Repräsentationen schieben sich zwischen uns und die Wirklichkeit, aber sie verstellen unseren Blick auf die Welt nicht, sie machen ihn im Gegenteil erst möglich. So gesehen eröffnen Repräsentationen Handlungsmöglichkeiten, sie beschränken sie aber auch, weil sie keine beliebigen Optionen eröffnen. Repräsentationen sind also Darstellungsformen des Wissens, die es Menschen überhaupt erst ermöglichen, sich eine Welt zu errichten. Wo etwas zum Ausdruck gebracht wird, äußert es sich in symbolischen Formen, in Repräsentationen. Mit ihnen erschließen wir die Welt, in der wir leben. Was Identität genannt wird, ist eine Leistung der Repräsentationspraktiken, die uns und anderen zeigen, was und wer wir sind. Nur wer sich und die anderen identifizieren kann, hat eine Identität. Aber wir verstehen eine Lebensäußerung oder einen Ausdruck nur in vertrauten Situationszusammenhängen. Wir sind immer schon Teil einer symbolischenWelt, bevor wir uns und andere verstehen. Menschen nehmen das Eigene und das Unvertraute zunächst in ihrer Ausschließlichkeit war. Der Kulturessentialismus ist eine Folge der Stereotypisierung, ohne die Menschen einander nicht als Andere benennen können. Daher kommt es, dass in den meisten Fällen unverstanden bleibt, was sich nicht in der Welt des Bekannten und Vertrauten bewegt, wenn sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen begegnen. Man könnte auch sagen, dass Repräsentationen kulturell variable Formen symbolischer Welterschließung sind, die nur jenen zugänglich sind, die in der Kultur leben, in der diese Repräsentationen einen Sinn ergeben. Nur im kulturell Eigenen kann der Mensch ein Selbstsein entwickeln und es sich von den Seinen bestätigen lassen. Denn wer etwas immer wieder sagt, erlebt, dass das Gesagte im Sprechen ein Eigenleben entwickelt und zum Teil einer allgemeinen Sprache wird, in der sich auch die Zuhörer bewegen. Das Sprechen spricht in der Kultur und macht sich darin verständlich. So kommt es, dass Menschen sich die Welt in den überlieferten Repräsentationen vertraut machen. Sie wollen Neues entdecken, aber sie wollen auch, dass ihre Welt stabil bleibt. Deshalb heben sie das Unvertraute mit ihren Repräsentationen auf. Wir machen die fremde Welt zu unserer Welt, und schon bewegen wir uns wieder im Vertrauten. Nur wo es einen übergreifenden Verstehenszusammenhang, eine gemeinsame Ausgelegtheit derWelt gibt, ist ein Gespräch möglich.Wenn der gemeinsame Orientierungsrahmen fehlt, kann es zu Missverständnissen oder zum Abbruch der Verständigung kommen. Darin zeigt sich die Spannung jeder interkulturellen Verständigung. Gleichwohl ist jede Kultur auf die Existenz fremder Repräsentationen angewiesen, sie braucht sie, um sich ihrer eigenen Repräsentationen zu vergewissern. Das aber bringt Menschen in die Möglichkeit, sich selbst zu beobachten, sich vom anderen herausfordern zu lassen, sich zu verändern und Fremdheit durch Verstehen aufzulösen, im Wissen, dass die anderen an der Lesart der eigenen Kultur mitarbeiten. Denn andere Kulturen sind nur andere Sinnverhältnisse, und als solche sind sie menschlichem Verstehen zugänglich. Darin liegt die Bedeutung der symbolischen Repräsentationen für das Verstehen jenes Geschehens, das wir Kultur nennen und dessen Möglichkeiten wir in verschiedenen historischen Kontexten untersuchen. Kulturwissenschaftler, die wissen wollen, wieMenschen dieWelt gesehen haben, müssen die Repräsentationen untersuchen, mit deren Hilfe eine Erschließung und Veränderung der Welt überhaupt nur möglich ist. Denn sie wollen nicht wissen, wie die Welt an sich ist, sondern wie Menschen glauben, dass sie beschaffen ist und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus für sie ergeben. Menschen leben nicht in festen, abgeschlossenen Ordnungen, sondern sie stellen sie her, sie schaffen ihre eigene Welt, indem sie die vorhandenen Ordnungen, in die sie hineingeworfen sind, herausfordern. Wer sich der Erforschung von Repräsentationen zuwendet, hat es nicht nur mit Texten und Gesprächen zu tun. Auch Bilder und Zeichen, Inszenierungen und Performanzen sind Repräsentationen. »Eine Geschichte ohne das Imaginäre «, sagt Jacques Le Goff, »ist eine verstümmelte, entleibte Geschichte«. Bilder sind aber nicht nur Ausdruck sozialer Ordnungen, sie sind zugleich Zeugnisse dafür, wie Menschen ihre Sicht auf die Welt festhalten und mitteilen. Bilder sind also keine Abbilder und Anzeichen, sie sind Bewegungskräfte, die Meinungen visualisieren, rechtfertigen oder delegitimieren. Bilder, stehende wie bewegte, mobilisieren Emotionen, sie produzieren und verändern Vorstellungen. Inschriften, Denkmäler, Straßen, Plätze und Gebäude verändern das Lebensgefühl und die Vorstellungen von Menschen; sie geben den Wahrnehmungen eine Struktur.Wer dächte dabei nicht an die Einschüchterungsarchitektur der Staatsgewalt, an imposante Gerichtsgebäude, breite Straßen und große Plätze, die das Raumgefühl und die Vorstellung von der Herrschaft wahrscheinlich stärker beeinflussten als Gesetze, Verordnungen oder Kampagnen. Die modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts waren deshalb vor allem visuelle Diktaturen, die sich in die Köpfe und Seelen ihrer Untertanen einzuschreiben versuchten.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Was sind Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel? Anmerkungen zu einer Geschichte interkultureller Begegnungen – Jörg Baberowski8
Repräsentationen und Konstruktionen: Wie viel Erkenntnistheorie braucht die Geschichtswissenschaft? – David Feest20
Wandel und seine Repräsentation – Matthias Pohlig38
Visuelle Repräsentationen im politischen Kontext: Formen und Funktionen – Priska Jones64
Kollektive Identität ohne Differenz und Repräsentation: Jürgen Habermas in der Diskussion – Jens Hacke80
Kollektive Identität – Repräsentationen von Kollektiven: Zwei Modelle zur Erfassung von Gruppenprojektionen in der Frühen Neuzeit? – Ruth Schilling102
Brauchen Historiker Theorien? Erfahrungen beim Verfassen von Texten – Jörg Baberowski118
Schreibweisen und Theorien der außereuropäischen Geschichte am Beispiel Südostasiens – Vincent Houben130
Autorinnen und Autoren156

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