1. Wirkliche und falsche Armut
Im September 2015 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen einen ambitionierten Katalog globaler Entwicklungsziele. Das erste dieser Sustainable Development Goals, die bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollen, lautet: Beendet Armut in all ihren Formen, überall. Laut Daten der Weltbank hat sich die globale Armut in den letzten Jahren stark verringert. Das bereits im Jahr 2000 erklärte Ziel, bis 2015 weltweit den Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, auf die Hälfte zu reduzieren, wurde fünf Jahre früher als geplant erreicht. Dennoch leben immer noch rund zwölf Prozent der Weltbevölkerung von weniger als 1,90 US-Dollar am Tag, fast neunhundert Millionen Menschen.
Während internationale Organisationen Erfolge im Kampf gegen die weltweite Armut feiern und der Generalsekretär der Vereinten Nationen nicht müde wird zu proklamieren, dass ein Ende der Armut für unsere Generation im Bereich des Machbaren liegt, hört man aus Deutschland ganz andere Töne.
Der Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverbandes für das Jahr 2014 spricht davon, dass die Armut in Deutschland ein «neuerliches trauriges Rekordhoch» erreicht habe und das Land dabei sei, «regional regelrecht auseinanderzufallen.» Über 15 Prozent der Bevölkerung, zwölf Millionen Menschen, so der Bericht, sind hierzulande arm. Der Verband fasst die «Brisanz der Erkenntnisse» in deutliche Worte: «Wenn die ganz überwiegende Mehrheit aller Erwerbslosen, nämlich 59 Prozent, und wenn über 40 Prozent aller Alleinerziehenden in Armut leben müssen, dann stimmt etwas nicht mehr mit unserem Sozialstaat. Wenn in Berlin jedes dritte Kind von Hartz IV leben muss oder in Bremerhaven sogar unvorstellbare 38 Prozent und nicht umgehend politisch alle Kraft dafür aufgewendet wird, diese Entwicklung zu stoppen und die Armut ganz entschieden zu bekämpfen, dann stimmt etwas nicht mit der Politik in diesem Lande.» Armut, so sehen es viele, scheint in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich zuzunehmen – obwohl sie gleichzeitig weltweit abnimmt.
Die Reaktion der deutschen Politik ließ nicht lange auf sich warten. Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles behauptete, dass es einen Anstieg der materiellen Armut in Deutschland gar nicht gebe. Die Angaben zur Armutsentwicklung würden in die Irre führen. Sie beruhten auf einem relativen Verständnis von Armut – nämlich der für die EU-Länder festgelegten Definition, dass derjenige oder diejenige einem Armutsrisiko ausgesetzt ist, dessen bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des Mittelwerts der Bevölkerung beträgt. Diese als Armutsrisikoquote bekannte Definition zeichne jedoch ein völlig falsches Bild von Armut.
Würde, so die Ministerin, in Deutschland eine Wohlstandsexplosion einsetzen, blieben die Zahlen und das Ausmaß der Armut gleich. «Dabei laufen wir Gefahr, den Blick für die wirklich Bedürftigen zu verlieren» sagt sie. Nahles spricht 2015 in der Süddeutschen Zeitung von «wirklicher Armut», die mit der relativen Armut nichts zu tun habe.
Die Argumente der Ministerin sind typisch – egal, welche Partei gerade die Regierung stellt. Immer wenn neue Zahlen zur Situation der Armut in Deutschland präsentiert werden, bricht in den Medien und in politischen Debatten heftiger Streit über die Legitimität der Ergebnisse aus. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob die Definition, wie Armut in Europa gemessen werden muss, angemessen oder zu willkürlich sei, sondern es geht dabei auch immer um die Frage, ob Armut nur absolute Armut bedeuten kann oder eben auch relative. Kann Armut, wie wir sie vor allem in der Dritten Welt verorten – die absolute Überlebensarmut unter schwierigsten Bedingungen, verbunden mit schrecklichsten Unsicherheiten, mit Gewalt, Entrechtung und Entbehrungen –, mit demselben Begriff umschrieben werden wie die Lebensumstände einer Hartz-IV-Empfängerin in Bremerhaven?
In Deutschland ist die öffentliche und politische Beschäftigung mit dem Thema Armut delikat. Zum Selbstverständnis der Bundesrepublik gehörte es spätestens seit den 1960er Jahren zu postulieren, dass Armut, wie man sie historisch kannte und wie sie lange das Leben einer großen Zahl von Menschen besonders während der ersten Nachkriegsjahre bestimmte, nicht länger existierte. Wohlstand für alle schien kein Traum, sondern Realität. Armut war lange Zeit weder Thema innenpolitischer Debatten noch Untersuchungsgegenstand der deutschen Sozialforschung. Das änderte sich aus verschiedenen Gründen in den 1990er Jahren. Darüber, ob es in Deutschland Armut gibt und ob sie zu- oder abnimmt, wird erst seitdem leidenschaftlich gestritten.
Aber auch in anderen Ländern ist es für Regierungen schwierig, sich mit Armut und den Statistiken zur Armut offen auseinanderzusetzen. In Argentinien wurde die Zahl der in Armut lebenden Argentinier nach massiver Einflussnahme der Regierung Kirchner auf das statistische Amt 2013 mit nur vier Prozent angegeben. Kurze Zeit darauf wurde die offizielle Armutsstatistik vollends eingestellt. Eine Klassifizierung als arm sei für die Betroffenen zu «stigmatisierend», so die offizielle Begründung. Unabhängige Forscher rechneten jedoch damit, dass 28 Prozent der Argentinier in Armut leben. Kein Staat und keine Regierung möchten zugeben, dass man ein Armutsproblem hat.
Aber was ist Armut eigentlich? Armut erscheint intuitiv verständlich. Armut bedeutet Not, Entbehrung, Mangel. Von Mollie Orshansky stammt das Zitat: «Armut, wie Schönheit, liegt im Auge des Betrachters.» Das heißt aber nicht, dass Armut alles bedeuten kann. Die Statistikerin Orshansky, die lange die offizielle amerikanische Einkommensarmutslinie berechnete, drückt damit aus, dass eine messbare Grenze, unterhalb derer ein Mensch arm und oberhalb derer ein Mensch nicht länger als arm gilt, nicht allgemeingültig und für alle Zeiten festgelegt werden kann. Eine Armutsgrenze und damit auch die Definition von Armut sind Ausdruck einer besonderen Epoche, einer besonderen Vorstellung dessen, was Armut ausmacht. Sie sind aber auch Ergebnis eines politischen, wenn nicht eines gesamtgesellschaftlichen Aushandlungsprozesses.
Will man sich dem Phänomen Armut nähern und die aktuellen Debatten und Kontroversen um Armut, Armutsmessung und Armutskonzepte besser verstehen, muss man die Geschichte der Armut und des Umgangs mit Armut verstehen. Bestimmte Fragestellungen in Bezug auf Armut und die Definition von Armut werden teilweise seit Jahrhunderten diskutiert und haben nichts an Aktualität verloren.
Es waren vor allem drei einschneidende Faktoren, die unsere Vorstellung von Armut geprägt haben und auch weiterhin die Diskussionen um Armut bestimmen:
Das seit der Aufklärung gemachte normative Versprechen, dass es ein Leben ohne Armut geben sollte.
Die Vorstellung, dass Armut messbar ist, zahlenmäßig erfasst werden kann und es damit eine evidenzbasierte Grundlage für politische Entscheidungen in der Armutsbekämpfung gibt.
Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahre, das für einige Industrieländer eine Situation schuf, die historisch einmalig war: Anscheinend gab es Gesellschaften, in denen die Armut bereits abgeschafft und das Ideal einer armutsfreien Welt Wirklichkeit geworden war – und damit Hoffnung für den Rest der Welt, vor allem für die Entwicklungsländer bestand, Ähnliches zu erreichen.
Armut kann man erst begreifen, wenn man die jeweilige Reaktion der Nicht-Armen auf Armut beleuchtet. Armut kennzeichnet eine klare Dichotomie. Man kann nicht arm und reich zugleich sein. Die Realität der Armut bewirkt von Seiten der Wohlhabenden unterschiedliche Reaktionen – Rechtfertigungen des Status quo, Bestrafung, Verachtung, ein Gefühl der Bedrohung, Ohnmacht bis hin zum Konsens, dass Armut bekämpft werden muss oder die Armen in den Rest der Gesellschaft integriert werden sollen, von dem sie allein durch die Tatsache des Armseins ausgeschlossen sind.
Armut und die Reaktion auf Armut sind untrennbar miteinander verbunden. Nicht zuletzt weil Armut immer auch bedeutet, den Nicht-Armen die Hilfs- und Unterstützungsbedürftigkeit der Armen deutlich zu machen. Die Reaktion der Nicht-Armen auf Armut ist nicht nur emotional. In den meisten Fällen führt sie zu einer wie auch immer gearteten materiellen Umverteilung und Unterstützung, sei es durch Almosen, milde Gaben oder durch komplexe, steuerfinanzierte staatliche Unterstützungsmechanismen. Auf globaler Ebene gehört dazu auch die...