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E-Book

Aufbruch der entsicherten Gesellschaft

Deutschland nach der Wiedervereinigung

VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl491 Seiten
ISBN9783593418568
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis41,99 EUR
20 Jahre nach der deutschen Einigung handeln die Menschen in Ostdeutschland immer noch unter dem Einfluss der Ost-West-Differenz und anhaltender Unsicherheit. Das Buch zeichnet die Entwicklungslinien des Einigungsprozesses sowie den internationalen Kontext seit 1989/90 bis heute nach. Es bündelt die Erträge des Forschungsverbunds »Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch« der Universitäten Jena und Halle, der weltweit einzigen Großforschung, die sich über zehn Jahre interdisziplinär und vergleichend entlang der Themen Eliten, Arbeit, Regionalität und Partizipation der Transformationsforschung widmete.

Heinrich Best ist Professor für Empirische Sozialforschung und Sozialstrukturanalyse an der Universität Jena. Everhard Holtmann ist Professor für Systemanalyse und Vergleichende Politik an der Universität Halle-Wittenberg.

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Leseprobe
In Zeiten wie diesen wird, wie es der Soziologe Hans Braun exemplarisch für die 1950er Jahre der alten Bundesrepublik formuliert hat, das generelle Bedürfnis, Sicherheit herzustellen, zu einer beherrschenden gesellschaftlichen Zielvorstellung (Braun 1978: 280). Es gehe darum, so Braun, jene 'Unsicherheitsfelder' einzudämmen, die aus der Dynamik eines beschleunigten sozialen Wandels hervorgehen. Hierfür sind individuelle Handlungsanleitungen und kollektive Strategien gleichermaßen vonnöten (ebd.: 279). Ganz ähnlich hatte Jahrzehnte zuvor, mit Blick auf das anlaufende Demokratieprojekt im nachnationalsozialistischen Deutschland im Jahr 1945, Brauns US-amerikanischer Kollege Talcott Parsons die psychologischen Voraussetzungen für einen kontrolliert verlaufenden Wandel der Gesellschaft (Controlled Institutional Change) beschrieben. Um eine grundlegende Modernisierung von Politik und Gesellschaft durchzusetzen, müssen, so Parsons, alte Verhaltensmuster gegen neue ausgetauscht werden. Indes tendierten die eingeschliffenen Institutional Patterns der alten Zeit zur Selbsterhaltung, wobei ihnen das Beharrungsvermögen alter Netzwerke (Vested Interests) zugute käme. Um deren blockierende Wirkkräfte zu neutralisieren, müsse man sie - sei es mit Anreizen, sei es durch Ausüben von Druck - zu 'Redifinitionen' sozialer Strukturbildungen und Handlungsmuster bewegen. Zum anderen sei es angezeigt, Bündnisse zu schmieden mit den Pionieren der gesellschaftlichen Modernisierung, die in Zeiten des Wandels ebenfalls bereit stünden und ihre Chance suchten: 'There are ?allies? within the social system itself which can be enlisted on the side of change in any given direction' (Parsons 1993 [1945]: 397ff.).

Diese Konstellation, die Parsons idealiter beschrieb, wird in den Abläufen der beiden jüngeren deutschen Systemwechsel zur Demokratie, demjenigen von 1945/49 in Westdeutschland und jenem von 1989/90 in Ostdeutschland, gut erkennbar. Allerdings jeweils mit zeittypischen Ausprägungen: Während im westlichen Nachkriegsdeutschland einerseits nationalsozialistisch belastete Angehörige der neuen Positions- und Werteliten vielfach unbehelligt weiter in Amt und Würden blieben, andererseits aber in der Gesellschaft früh ein formales Einverständnis mit der Demokratie entstand, das Eliten und Bevölkerung vereinte und in den 1970er Jahren sich in der Richtung wachsender politischer Partizipation materiell erweiterte (Almond/Verba 1963; Gabriel 1987), waren umgekehrt in Ostdeutschland nach 1990 die neuen Führungsschichten in Politik, Verwaltung und Wirtschaft nicht vergleichbar korporativ politisch vorbelastet und fanden auch bemerkenswert schnell zu einer professionell konvergenten Grundhaltung. Andererseits hat sich in den neuen Bundesländern hinsichtlich der Bewertung zentraler politischer und gesellschaftlicher Fragen seit der Einigung die Kluft zwischen 'unten' und 'oben' teilweise verbreitert (Aderhold u.a. 2010a). Auch stagniert das bürgerschaftliche und politische Engagement auf niedrigerem Niveau oder entwickelt sich inzwischen sogar rückläufig (vgl. Bundesministerium 2010).

Der diachrone Vergleich macht zudem deutlich, wie unterschiedlich beide deutschen Transformationsgesellschaften mit der elementaren Herausforderung, Unsicherheit in neuerliche Sicherheit zu verwandeln, umgegangen sind. Für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft wurde, nachdem die der Währungsreform von 1948 folgende Stabilisierungskrise abgeflaut war, ein Lebensgefühl sozial konstitutiv, das, wie Helmut Schelsky beobachtete, 'in einer unwahrscheinlichen Arbeitsenergie [und] in einem breiten Aufstiegs- oder Wiederaufstiegsstreben' zum Ausdruck kam (Schelsky 1965 [1955]: 407; vgl. Schelsky 1965 [1953]; neuestens Holtmann 2012c). Der eineinhalb Jahrzehnte anhaltende wirtschaftliche Aufschwung der Wirtschaftswunderjahre entlohnte diese individuelle Anstrengung mit materiellen Gratifikationen, die das Gros der Gesellschaft absicherte (siehe die Daten zur Steigerung von Sozialprodukt und Einkommen bei Lepsius 1974: 272). Dieser Prozess eines allgemeinen sozialen Aufstiegs wurde von Schelsky damals als 'Entschichtungsvorgang', nämlich als Tendenz hin zu einer 'nivellierten Mittelstandsgesellschaft' beschrieben. Die neue '?mittelständische? Lebensform' erfüllte sich demzufolge darin, dass 'fast jedermann seinen Fähigkeiten angemessen das Gefühl entwickeln kann, nicht mehr ganz ?unten? zu sein, sondern an der Fülle und dem Luxus des Daseins schon teilhaben zu können' (Schelsky 1965 [1953]: 332f.).

In Ostdeutschland entwickelte sich nach 1990 die Empfindungslage der Gesellschaft komplizierter. Einesteils kam im Zuge des Aufbrechens erstarrter alter Strukturen auch hier ein bemerkenswertes Potential an bis dahin versteckter Individualität zum Vorschein, das sich etwa bei der Neu- bzw. Ausgründung kleiner und mittlerer Betriebe bewährte. Anders aber als in der Phase der damaligen Rekonstruktion Westdeutschlands wurde in Ostdeutschland das Erleben, dass 'die Existenz des einzelnen sich auf einem im Vergleich zur Ausgangslage deutlich höheren Niveau konsolidiert' und deshalb 'die Lebensumstände als stärker gesichert erscheinen' (Braun 1978: 293), nicht zu einer als alternativlos wahrgenommenen Allgemeinerfahrung. Denn anders als im westlichen Nachkriegsdeutschland war die Ausgangslage 1989/90 nicht durch eine generalisierte Mangellage und infrastrukturelle Lähmung gekennzeichnet. Dies hatte zur Folge, dass Prozesse sozialen Abstiegs in Ostdeutschland nach 1990 subjektiv als vergleichsweise einschneidender empfunden wurden. Auch werden Zuwächse an 'Zivilisationskomfort' (Schwarz 1981: 384), die objektiv beachtlich sind, bis heute in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung als defizitär gewertet, weil ein Maßstab von Verteilungsgerechtigkeit angelegt wird, der sich mit wechselnder Blickrichtung entweder an einer zu DDR-Zeiten vorgeblich besser gewährten Grundsicherheit oder, legitimiert durch das Verfassungspostulat gleichwertiger Lebensverhältnisse, ausschließlich am westdeutschen Vergleichsniveau orientiert.

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Die langen Wege der deutschen Einigung: Aufbruch mit vielen Unbekannten10
I Aufrisse42
Von der KSPW zum SFB 580 – Vorgeschichte und Basiskonzept des Sonderforschungsbereichs44
II Bruch, Kontinuität, Zirkulation – Karrieren, Lebensverläufe und Einstellungen von Eliten62
Die DDR-Gesellschaft als Ungleichheitsordnung: Soziale Differenzierung und illegitime Statuszuweisung64
Zweimal Deutsche Vereinigung: System- und Sozialintegration der politischen Eliten nach 1871 und 1990 im Vergleich86
Vom sozialistischen Leiter zum mittelständischen Unternehmer – Ostdeutsche Unternehmensleiter nach zwei Jahrzehnten der Transformation105
So nah – und doch so fern? Lokale Eliten im Spannungsfeld von Transformation und politischer Professionalisierung124
»Die Anderen« – Parteifreie Akteure in der lokalen Risikogesellschaft151
Ostdeutsche Generationen als Einwanderer in der Bundesrepublik und die Perspektiven der Wendekinder als Generation173
III Interne und externe Arbeitsmärkte: Aufbruch in »flexible« Beschäftigungsverhältnisse188
Der Beitrag des Arbeitsrechts zur Strukturbildung im demografischen Umbruch190
Ostdeutsche Betriebe im demografischen Umbruch203
Generalisierung von Unsicherheit? Transformationen des ost-westdeutschen Arbeitsmarktes223
IV Regionalität und Geschichtlichkeit: Territoriale Fußabdrücke im Transformationsprozess238
Die regionale Kultur unternehmerischer Selbstständigkeit im Transformationsprozess240
Regionale Kulturmuster langer Dauer als Hintergrund von Umbruchserfahrungen: das Beispiel des thüringischen Eichsfeldes261
Transformationsprozesse der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland nach 1989281
V Individuelle Bewältigung und Selbsttätigkeit in Zeiten von Strukturbruch und Strukturbildung304
Sozialer Wandel und subjektives Wohlbefinden: Die Rolle von Anforderungen, Bewältigung, Ressourcen und Kontexten306
Mitmachen und Mitreden: Sozialmoralische Orientierungen von bürgerschaftlich Engagierten im Ost-West-Vergleich329
Bewährungsproben für die Unterschicht:Wirkungen aktivierender Arbeitsmarktpolitik348
Vom »verdienten Ruhestand« zum »Alterskraftunternehmer«? Bilder des Alter(n)s im gesellschaftlichen Wandel nach dem Systemumbruch370
»Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen!« – Rehabilitation und Pflege nach dem Systemumbruch389
VI Synopse416
Institutionelle Transformation – Habituelle Irritation – Sozialstrukturelle Petrifikation: Empirische Befunde und transformationstheoretische Schlüsse zur deutschen Vereinigung418
Gesamtliteraturverzeichnis443
Forschungsprojekte des Sonderforschungsbereichs 580 (2008–2012)488
Autoren490

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