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E-Book

Augenmenschen

Gehörlose erzählen aus ihrem Leben

AutorJohanna Krapf
VerlagRotpunktverlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783858696564
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Gehörlose erleben die Welt grundlegend anders als Hörende. Kein tief fliegendes Flugzeug oder heiseres Krähen eines Hahns weckt sie frühmorgens, weder Verkehrsrauschen noch Baustellenlärm lenken sie von der Arbeit ab, ihr Frühling kehrt ein ohne Vogelgezwitscher, und sie sind nie unfreiwillige Zeugen von Handygesprächen im Zug. Da sie in ihrer Wahrnehmung stark visuell orientiert sind, werden sie hin und wieder auch »Augenmenschen« genannt. Die Autorin Johanna Krapf hat acht Gehörlose zwischen 12 und 72 Jahren befragt und ihre Geschichten aufgezeichnet. Sie erzählen darin über ihren Werdegang, über Kommunikationsbarrieren im Alltag, aber auch über das bereichernde Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und Kultur der Gehörlosen. Außerdem schildert ein Jugendlicher, wie er in Schule und Freizeit mit seinem Hörimplantat zurechtkommt. Und eine Gebärdensprachdolmetscherin vermittelt spannende Einblicke in ihre Arbeit.

Johanna Krapf, 1956 geboren in Liestal, ist als Englischlehrerin tätig. Seit vielen Jahren widmet sie sich der Gebärdensprache, etwa als Autorin des Buchs Hände bewegen, einer Werkstatt fu?r hörende Kinder zum Kennenlernen der Gebärdensprache (2011). Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und lebt in Jona.

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Leseprobe

Einleitung


Die Idee zu diesem Buch ist nach und nach gewachsen. Seit ich angefangen habe, mich mit Gebärdensprache und mit den Menschen, die sie sprechen, zu beschäftigen, werden mir immer wieder dieselben Fragen gestellt. Kein Zweifel: Die meisten Hörenden – ich bin geneigt zu sagen: alle –, die nie einen gehörlosen Menschen kennengelernt haben, haben keine Ahnung, was es bedeutet, hochgradig schwerhörig zu sein. Ich möchte dies anhand einer Begebenheit, die sich vor ein paar Jahren zugetragen hat, veranschaulichen.

Ich war auf dem Heimweg und wartete in Zürich auf den Zug, als mir eine ehemalige Arbeitskollegin und ihr Mann begegneten. Wir setzten uns ins gleiche Abteil, und wir Frauen fingen an zu plaudern: Wie geht es dir? Wo arbeitest du gerade? Lernst du immer noch Griechisch beziehungsweise Chinesisch? Meine Bekannte berichtete von ihrem ausgefüllten Alltag als Pensionierte, ich von meinem kürzlich erschienenen Lehrmittel über die Gebärdensprache. Plötzlich blickte ihr Mann, der sich hinter der Zeitung verschanzt hatte, auf und fragte: »Wie kann eigentlich ein gehörloses Kind artikulieren lernen? Das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit.« Ich erklärte ihm, wie er sich das in etwa vorzustellen habe: Das Kind müsse sich jeden Laut bewusst aneignen, und zwar mit Tasten, Blasen und Kontrollieren der Vorgänge beim Bilden der Laute im eigenen Mundraum – und mit Üben, Üben, Üben. Er hörte interessiert zu und vertiefte sich dann wieder in die Zeitung. Nach einer Weile hakte er nach: »Die Gebärdensprache ist eine universelle Sprache, nicht wahr?« Ich verneinte und erklärte ihm, es gebe unzählige davon, allein in der Schweiz drei: eine deutsche, eine französische und eine italienische. »Schade«, meinte er, »da hat man eine gute Gelegenheit verpasst. Eine einzige internationale Sprache wäre doch viel praktischer gewesen.« Ich erklärte ihm, dass niemand die Gebärdensprachen geschaffen habe, sondern dass sie natürliche, innerhalb von Sprachgemeinschaften gewachsene Sprachen seien, so wie Französisch und Schweizerdeutsch auch – im Gegensatz etwa zur Kunstsprache Esperanto1. Er bedankte sich und verschwand wieder hinter der Zeitung, aber kaum hatten wir Frauen unseren Gesprächsfaden aufgenommen, ließ er sie ein weiteres Mal sinken: »Ich hätte noch eine letzte Frage: Woher kennt eigentlich ein gehörloses Kind die deutschen Wörter? Es ist ja nicht ständig von Lautsprache umgeben wie wir.« Es müsse sie lernen, antwortete ich, genau wie wir Hörenden uns eine Fremdsprache aneignen. Die Zeitung blieb schließlich ganz auf seinen Knien, während er mich mit Fragen löcherte und so sehr ins Thema eintauchte, dass er wohl an seinem Wohnort vorbeigefahren wäre, wenn ihn seine Frau nicht gerade noch rechtzeitig am Ärmel gepackt und zum Ausgang gezogen hätte. Unterdessen hatte sich ein Herr im Abteil nebenan erhoben: »Entschuldigen Sie, ich habe Ihrem Gespräch mit Interesse zugehört und würde Ihnen gern auch noch eine Frage stellen: Warum …?«

Dieses Erlebnis mag als Beispiel dienen für all die Situationen, in denen ich mich damit konfrontiert sah, wie wenig Hörende über Hörbehinderung und ihre Folgen wissen. Augenmenschen möchte Fragen beantworten wie die nach der Anzahl Gehörloser, die in der Schweiz leben (vermutlich knapp 8000 – genaue Zahlen gibt es nicht)2, und falsche Vorstellungen richtigstellen (Gebärdensprache ist keine Pantomime). Es soll aufklären (eine hochgradige Hörbehinderung betrifft nicht nur das Hörvermögen, sondern indirekt auch das Lesen und Schreiben, was seinerseits zu einem Informationsdefizit führt) und Vorurteile abbauen (Menschen mit einer hochgradigen Hörbehinderung sind nicht taubstumm, denn sie können sprechen).

In Augenmenschen erzählen acht Gehörlose ihre Lebensgeschichte: Ueli Matter, dessen Eltern und Geschwister alle hörend sind; Pauline Rohrer und Patrick Mock, deren Eltern und Geschwister alle eine Hörbehinderung haben; Barbara Diaz und Rita Zimmermann, deren Eltern, Geschwister und Kind beziehungsweise Kinder hörend sind, während der Partner eine Hörbehinderung hat; Paul von Moos, dessen Eltern und Kinder hörend sind, während eines der Geschwister und die Partnerin eine Hörbehinderung haben; Patricia Hermann-Shores, deren Eltern hörend beziehungsweise hörbehindert sind, während eines der Geschwister und der Partner eine Hörbehinderung haben, und Corina Arbenz, deren Eltern, Partner und eines der Kinder hörend sind, während das andere Kind eine Hörbehinderung hat. Die jüngste porträtierte Person ist zwölf, die älteste über siebzig Jahre alt. Zusätzlich interviewte ich Eymen Al-Khalidi, der ein Cochlea-Implantat trägt und mit dem operierten Ohr achtzig bis neunzig Prozent hört (ohne CI wäre er völlig taub), und die Gebärdensprachdolmetscherin Barbara Bucher, die als Übersetzerin, aber auch als Tochter von Eltern mit einer Hörbehinderung über beide Sprachen, Gebärden- und Lautsprache, verfügt und mit beiden Kreisen und Kulturen vertraut ist.

Jedem Porträt ist ein Sachtext zu einem in Bezug auf Hörbehinderung oder Gebärdensprache relevanten Thema vorangestellt. Weiterführende Erläuterungen finden sich am Ende des Buchs; auf sie wird in den Porträts an passender Stelle verwiesen.

Die eindrücklichen Porträtfotos stammen von Matija Zaletel. Von Beruf ist er Hauswart, aber seine Freizeit gehört ganz dem Fotografieren. Er sagt: »Als Beruf wäre mir das Fotografieren zu unsicher.« Aufträge erhält er vor allem von der Gemeinschaft der Gehörlosen, denn er ist selber gehörlos. Corina Arbenz-Roth hat die Zeichnungen der Gebärden angefertigt. Sie stellt sich im Interview S. 78 vor.

Die Porträts sind absolut authentische Lebensberichte. Vor jedem Interview rief ich mir vor Augen, warum ich genau diese Person ausgewählt hatte und welche Fragen deshalb im Zentrum des Interesses stehen sollten, seien das diejenigen nach der Kindheit als gehörloses Kind in einer Familie von Hörenden, nach dem Spracherwerb, nach medizinisch-technischen Hilfsmitteln wie dem Cochlea-Implantat und seinen Auswirkungen, nach dem Ausbildungsweg, dem Berufsleben, der Alltagskommunikation oder den Lebensumständen von Gehörlosen in anderen Ländern. Dann stellte ich einen Fragenkatalog zusammen mit diesen spezifischen, aber auch vielen generellen Fragen, die mich bei allen Porträtierten gleichermaßen interessierten. Diese Liste schickte ich meinen Gesprächspartnern und -partnerinnen jeweils ein paar Wochen vor dem vereinbarten Termin. Und nun folgte das jedes Mal mit großer Spannung erwartete Interview: Würden wir einen Zugang zueinander finden? Welchen Verlauf würde das Gespräch nehmen? Würden wir einander verstehen? Diese Frage stellte sich nur bei den drei Interviews mit Eymen Al-Khalidi, Ueli Matter und Paul von Moos, da ich sie in Lautsprache führte. Ihre Formulierungen der Antworten konnte ich zum Teil auch direkt einfließen lassen.

Die übrigen Gespräche, außer dem mit Barbara Bucher, spielten sich in Gebärdensprache ab, und eine Dolmetscherin übersetzte, damit ich das Gesagte aufzeichnen konnte. Um diesen Dolmetschdienst war ich natürlich sehr froh, er führte aber naturgemäß dazu, dass eine Drittperson die gebärdensprachlichen Aussagen der Interviewpartnerinnen und -partner in eigene schweizerdeutsche Worte fasste, die ich dann wiederum verschriftlichte. Dieser Aspekt der zweimaligen Übersetzung und der daraus resultierenden Verfremdung zwischen der Originalerzählung in Gebärdensprache und dem hochdeutschen Text darf nicht außer Acht gelassen werden. Deshalb auch das Interview mit der Gebärdensprachdolmetscherin, in dessen Zentrum die anspruchsvolle Aufgabe des Dolmetschens steht.

Auf die Gespräche folgte jeweils eine Phase, in der ich sie nachklingen ließ und mir die Aufnahmen immer wieder anhörte, bevor ich mit dem Ausformulieren begann. Sobald der Text eine erste Form angenommen hatte, schickte ich ihn der interviewten Person zum Korrigieren und Ergänzen und überarbeitete ihn anschließend so lange, bis sie sich mit allen Aussagen und Formulierungen identifizieren konnte. Diese Phase unterschied sich stark von Text zu Text, abhängig von der Persönlichkeit der Porträtierten und – im Fall der sechs in Gebärdensprache geführten Interviews – von der Qualität der Übersetzungen. Bei manchen Texten musste ich nur wenige Details ändern, bei anderen hatten sich mehr Unstimmigkeiten eingeschlichen. Zudem schickten mir einige Porträtierte nach der ersten Lektüre viele neue, interessante Erlebnisse und Gedanken, die sie selber ausformuliert hatten und die es nun an passender Stelle einzufügen galt. In zwei Fällen war sogar ein zweites Treffen geboten,...

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