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E-Book

Ausgangspunkt Selbstfürsorge

Strategien und Übungen für den psychosozialen Alltag

AutorHans-Joachim Görges, Lydia Hantke
VerlagJunfermann
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783955718572
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Nur wer gut für sich sorgt, kann gut für andere sorgen Die Arbeit mit Menschen ist meist schlecht bezahlt und eng getaktet, die Gefahr der Überlastung und des Burnouts ist hoch. Wie aber die Freude an der Arbeit und am Leben erhalten angesichts äußerer Zwänge sowie emotionaler und körperlicher Herausforderungen? An vielen Beispielen aus psychosozialen Arbeitsbereichen zeigen Lydia Hantke und Hans-Joachim Görges, wie Psychohygiene während der Arbeit gelingen, wie ein spielerischer und kreativer Umgang mit Stress und Überforderung aussehen kann: - Werkzeuge statt 'Wellness-Häppchen': atmen und Füße spüren, abgrenzen und Zuständigkeiten klären, eine neue Position in der alten Arbeit finden. - Zahlreiche Praxisideen für Situationen im Team, im Kontakt, kurz vor dem Ausrasten ... - Arbeit und arbeitsfreie Zeiten deutlich trennen: Spezielle Kleidung oder (imaginäre) 'Schleusen' helfen ebenso wie Wecker für kleine Auszeiten.

Lydia Hantke, Dipl.-Psych., systemische und Hypnotherapeutin, Traumatherapeutin, Supervisorin. 2002 Gründung von institut berlin. Entwicklung der Curricula Traumazentrierte Fachberatung/Traumapädagogik und Strukturierte Traumaintegration stib.

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Leseprobe

2. Einordnen: Die Arbeit leben statt Work-Life-Balance


Sie kennen das: Sie machen Ihre Arbeit gut, eigentlich auch gerne, doch manchmal sind Sie lustlos, fühlen sich überfordert und fragen sich, was los ist. Ob da nicht etwas schiefläuft, ob Sie nicht unter Ihren Möglichkeiten bleiben? Sie überlegen, ob es an Ihnen liegt, an den Mitarbeiter*innen oder Klient*innen, die Ihnen auf die Nerven oder an die Nieren gehen. Ob Sie den falschen Beruf gewählt haben?

Wenn Sie schon länger dabei sind, überlegen Sie vielleicht, ob sich das Gefühl in letzter Zeit verstärkt hat. Ob Sie den Belastungen noch standhalten? Ob Sie nicht eigentlich etwas ganz anderes mit Ihrem Leben hätten anfangen sollen. Vielleicht fragen Sie sich: „Kann das so weitergehen? Will ich das so? Ich tue das doch eigentlich gerne! Brauche ich Tapetenwechsel? Werde ich einfach alt oder muss aus allem raus?“ Sie finden keine Orientierung in diesen Gedanken und machen viel zu lange weiter, ändern Kleinigkeiten, sprechen mit Ihrer Freundin, lassen sich Johanniskraut verschreiben. Auf Dauer ändert das alles nichts. Vielleicht hilft erst die Burnout-Diagnose, um es grundsätzlicher anzugehen.

Dass es anderen auch so geht, macht das Leben nicht einfacher. Wie viele Kolleg*innen haben Sie, die am Montag pfeifend in die Einrichtung kommen, am Tagesende beschwingt die Tür schließen und lächelnd in den Feierabend starten? Dann sagen Sie sich: „Hab dich nicht so, wird schon, geht doch allen gleich.“ Und wenn nicht, lassen Sie sich ein paar Tage krankschreiben. Brauchen können Sie es allemal. Nicht zu lange, sonst sind die Kolleg*innen sauer. Nur fühlen Sie sich die meiste Zeit genervt, abgeschlagen, unlustig. Wäre schon gut, das zu ändern, klar. Aber wie? Und wo ansetzen?

2.1 Arbeit und Freizeit


Wie ist das überhaupt mit der Arbeit, wozu machen Sie das? Gönnen wir uns einen kurzen und sehr verknappten Blick auf Arbeit und Freizeit, deren Verhältnis zueinander, die Besonderheit der psychosozialen Arbeit und die neue Anforderung „Selbstfürsorge“.

Arbeit, das ist zum einen Notwendigkeit – der Broterwerb, wie es so schön heißt, und die Sicherung all dessen, was Sie als materielle Lebensgrundlage definieren. Natürlich müssen wir arbeiten, die allermeisten Menschen müssen irgendeine Tätigkeit verrichten, die es ihnen und den ihren erlaubt zu (über)leben. Wir verkaufen Arbeitskraft und können so Nahrung, Kleidung, Flugreisen und Altersversorgung sichern. Oft stellen wir die Arbeit dem Leben gegenüber, manchmal gar darüber, als Bedingung, der wir alles unterordnen: die Liebe, das Essen, die Kinder, die Familie, die Gastfreundschaft. Arbeit zu haben, arbeiten zu gehen und dafür bezahlt zu werden scheint die Voraussetzung für Leben, für Anerkennung, für die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung, für Freizeit. Das sine qua non, wie der Lateiner sagt. Ohne sie ist alles nichts.

2.2 Arbeit im psychosozialen Bereich


„Arbeit im Sinne der Betriebswirtschaftslehre ist jede plan- und zweckmäßige Betätigung einer Arbeitsperson in körperlicher und geistiger Form, die dazu dient, Güter oder Dienstleistungen zu produzieren“1 – Wikipedia ist einfacher zu zitieren als Karl Marx. Das Problem des psychosozialen Bereichs ist demnach kurzgefasst, dass hier Dienstleistungen produziert und verkauft werden sollen, während Sie davon ausgehen, dass Sie mit Menschen arbeiten. Den Kindern zu zeigen, wie man ein Puzzle zusammensteckt und sich die Zähne putzt, oder damit umzugehen, wenn ein anderer sie die Treppe runterschubst – diese Art der Dienstleistung würde vermutlich unter „Vermittlung sozialer Kompetenz“ eingeordnet werden. Derselbe gesichtslose Begriff steht für die Vermittlung von Werten im Zusammenleben, den Umgang mit Gefühlen, die Hilfestellung bei den Hausaufgaben und den Antrag für die Einschulung.

Was aber, wenn die Hausaufgaben nicht zu Ende gemacht werden und der Antrag nicht gestellt werden kann? Wenn die Begleitung zum Gericht abgesagt werden muss oder die Vorbereitung auf die Asylanhörung erst einmal nur ein Gespräch voll Weinen und Angst auslöst? Wenn jemand wegläuft oder ausflippt oder Sie keinen Kontakt finden? Wenn alles viel länger dauert, als Zeit bewilligt wurde? Das Umschreiben von Anträgen, das Neudefinieren des Bedarfs, die Suche nach noch nicht genannten Gründen für einen Verlängerungsantrag sind Bestandteile einer Arbeit, die nicht so recht definierbar sind. Weil der Faktor Mensch entweder im Zentrum steht oder auf der Strecke bleibt. Das mit der Arbeit und Entlohnung im psychosozialen Bereich ist kompliziert.

Auch Ihre eigene Motivation läuft dem Profitmaximierungsinteresse entgegen. Sie wollen helfen, unterstützen, Vorbild sein und Halt geben. Ihre Arbeit basiert auf dem Austausch von Aufmerksamkeit und Zuwendung, von Sorgfalt und Wahrnehmung, von Flexibilität und der Kompetenz, Niederlagen zu neuen Erfolgen umzudeuten; noch ein Stück länger durchzuhalten, Mut zu geben, wo Sie selbst verzweifeln möchten. Zum ökonomischen Unsicherheitsfaktor Mensch kommt hinzu, dass Sie oft mit Menschen arbeiten, die marktwirtschaftlich betrachtet ohnehin nur Kosten verursachen, zu den Loosern gehören, (noch) nicht zählen oder eigentlich gar nicht hier sein sollten.

Sie tun diese Arbeit nicht nur, weil sie arbeiten müssen, um Ihre Kinder zu ernähren oder das Haus abzuzahlen. Sie arbeiten, um diese Welt ein klein wenig besser zu machen, um anderen zu helfen, um sich selbst als Bezugspunkt zur Verfügung zu stellen, wo sonst keiner ist. Sie verkaufen keine Arbeitskraft, sondern Ihre Beziehungsfähigkeit, Ihr Mitgefühl, Ihre Mitmenschlichkeit. Der Wert dieser Arbeit ist nicht mit Geld aufzuwiegen. Hier werden nicht nur Dienstleistungen produziert, sondern Beziehungen, Zuneigung, Anerkennung, Werte und Bindung getauscht.

Das bindet Sie völlig anders ein, als es die Produktion eines Autos oder Fernsehers, die Bearbeitung von Akten oder Dächern jemals tun könnte. Je mehr Sie geben, desto abhängiger fühlen Sie sich oft. Das macht Sie anfällig und korrumpierbar. In keinem anderen Bereich wird so spät gestreikt, übernehmen Kolleg*innen so verlässlich die Arbeit ausfallender Mitarbeiter*innen, wird das Übermaß an Arbeit so lange mit einem „Ich kann sie ja nicht einfach allein lassen“ toleriert und mitgetragen. Mitgeschleppt. Bis irgendjemand zusammenbricht, nicht mehr kann, monatelang krankgeschrieben ist oder von heute auf morgen kündigt und den Kolleg*innen kaum mehr Lebewohl sagt, aus Scham, das sinkende Schiff als Erster verlassen zu haben.

Der Leistungs- und Erfolgsdruck, oft schlicht der zeitliche Druck, und die immer höheren strukturellen Anforderungen wie Dokumentationspflichten, Innovationsdruck, unsichere Arbeitsverhältnisse und ständig wieder neu aufgestellte Teams, QM, Umstrukturierungen etc., fordern ihren Tribut.

2.3 Work-Life-Balance


„Tun Sie etwas für Ihre Work-Life-Balance!“ Sicher weckt der Begriff auch bei Ihnen Assoziationen wie etwa die einer Waage: auf der einen Seite Aktenordner, Teamsitzungen, Menschen, die etwas von Ihnen wollen, geschlossene Räume, viel zu wenig Platz, eine hektisch laufende Uhr. Auf der anderen Seite Licht, Farben, ein Fahrrad, Sonne, Strand, lachende Menschen, nette Familienmitglieder, Urlaub.

Abbildung 1: Work-Life-Balance

So stellt man sich das doch vor, oder? Da wird Leben mit Freizeit und Urlaub assoziiert. Und die Arbeit? Wann findet die statt? Ist sie ein Zustand jenseits des Lebens? Ein Zustand der Verdammnis? Das Land, aus dem man möglichst früh zurückkehrt, um weiter leben zu können, endlich leben zu können, noch einmal leben zu können? In vielen Hinweisen zur Selbstfürsorge oder zum Zeitmanagement wird dazu aufgerufen, eine deutliche Trennung zwischen Arbeit und Freizeit zu ziehen, die Überlappungen so gering wie möglich zu halten, die Übergänge bewusst zu vollziehen, Grenzen zu setzen.

Nein, wir plädieren nicht für 60-Stunden-Wochen und strikte Arbeits- und Zeitpläne vom Morgengrauen bis zum Abendappell. Auch wir sind für Grenzen, für unterschiedliche Bereiche in Ihrem Leben, die Sie immer wieder neu definieren sollten. Sie gehen fröhlicher ins Büro oder in die Kita, wenn das Wochenende angenehm verlaufen ist. Sie sollen sich natürlich auf den Urlaub freuen, den Sie lange geplant haben.

Darf man sich aber auch auf die Arbeit freuen? Ist das nicht ein bisschen eigenartig, fällt das nicht unter überengagiert oder Flucht aus dem Privatleben? Die Arbeit trägt das Vorzeichen der Pflicht, der Fremdbestimmung, die mit der Kita anfängt und mit der Berentung endet. Von zentraler Wichtigkeit, das ja. Aber darf man Arbeit gerne tun? Und trotzdem pünktlich die Tür abschließen, die Dienstübergabe beenden und den Kolleg*innen Tschüss sagen?

Zu oft ist Arbeit mit Klage, mit Plage assoziiert. Vorbilder dafür hatten und haben bestimmt auch Sie zuhauf. „Ich muss doch zur Arbeit“, ist wohl die häufigste Antwort, wenn Kinder, Geliebte oder Freunde sich mehr Kontakt, Zusammensein, Genuss wünschen und dies nicht möglich ist. Kaum jemand geht freudig zur Arbeit und kommt froh von dort zurück. Oft bleiben Sie zu lange weg, kommen zu spät nach Hause. Fast alle Entschuldigungen beginnen so: „Ich musste noch …, ich konnte nicht …“

Nicht von ungefähr hat sich in den 1980er-Jahren, einer Zeit, in der Deutschland als Wohlstandsgesellschaft markiert wurde (Lutz 1989), die Freizeit als Nonplusultra etabliert. Wer es sich leisten kann, macht in der knapp bemessenen Zeit jenseits der Arbeit aufwendige Urlaube, reist spätestens als Rentner*in einmal fast um die Welt. Work-Life-Balance...

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