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E-Book

Außer Kontrolle

Unsere Kinder, ihre Süchte - und was wir dagegen tun können

AutorSonja Vukovic
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783732549764
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR

Viele Eltern fühlen sich gefordert und ratlos: Das Internet nimmt immer mehr Raum im Leben ihres Kindes ein, Kiffen und sogar Essstörungen scheinen heutzutage ganz normal zu sein, Alkohol ab 13 kein Grund mehr, sich aufzuregen. Aber was ist noch liberal, was fahrlässig? Wie viel Autorität muss sein? Welche Verbote machen es schlimmer? In ihren Fallgeschichten lässt Vukovic Menschen zu Wort kommen, die keine Lobby haben und fast nirgendwo Gehör finden: Väter und Mütter suchtkranker Kinder. Sie zeigt das Leid der Familien - und wie sie heilen.



Sonja Vukovic hat als Journalistin mit Schwerpunkt Biografie, Gesellschaftskritik und Sozialpolitik u.a. für "Die Welt", "stern.de" und "Spiegel" geschrieben. Sie wurde mit dem "Grimme Online Award" und dem "Axel-Springer-Preis" ausgezeichnet. 2013 erschien ihr internationaler Bestseller "Christiane F. - Mein zweites Leben". Nach dem Aufbau der "F. Foundation" für Suchtprävention und -aufklärung schreibt sie nun an weiteren Büchern. Heute lebt Sonja Vukovic in Berlin und ist Mutter einer Tochter.

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Leseprobe

2 LÜGEN – Kiffen bis die Lunge kollabiert


Leon ist das Jüngste der drei Nowak-Kinder. Er hat viele Drogen genommen, vor allem hat er jahrelang gekifft – so oft und so viel, dass er letztlich mit einer schweren Psychose in einer Psychiatrie landete und erst durch Medikamente nach und nach wieder zu sich kam. An seiner Seite: Mutter Agnieszka Nowak, die Aga genannt wird. Eine Frau, deren Liebe und Zuwendung keine Grenzen findet. Die ihre Kinder gestärkt und alles für sie getan hat – auch die Augen vor dem Unliebsamen verschlossen. So hat sie sich viel zu oft zur Komplizin der Sucht ihres Sohnes gemacht.

4. November 2016, Heinsberg, NRW – Präventionsvortrag von Leon Nowak:

Eine Bühne. Ein Flipchart, auf dem drei Wörter stehen:

Selbst.

Wert.

Gefühl.

Leon Nowak betritt die Bühne, ein Mann mit offenem Blick, lockeren Schultern, das obere Haar zum Dutt zusammengebunden, unten kurz rasiert. Er trägt graue Lederschuhe, eine verwaschene Trash-Chic-Jacke, den Kragen hochgestellt. Er sieht sein Publikum an, bleibt in der Mitte der Bühne stehen, lächelt. Lächelt nicht mehr. Und sagt dann: »Der 2. Juni 2004 war der tiefste Punkt in meinem Leben.«

Angespannte Ruhe beherrscht sofort den Raum. Der Redner schaut nach rechts in die Reihen, nach links, und schließlich auf die Empore, auf der die Menschen an Tischen sitzen und mit freiem Blickfeld zu ihm herübersehen. »Dieser Tag war aber auch der Wendepunkt in meinem Leben. Denn ich musste und wollte mit einem Schlag Verantwortung für mich übernehmen.«

Leon Nowak ist Sohn einer polnischen Köchin und eines Bundeswehrsoldaten, geboren im beschaulichen Örtchen Hückelhoven-Millich, das zum Kreis Heinsberg gehört. Nach einem Hauptschulabschluss wurde er Bergwerkarbeiter, ist vom Leben, meint man womöglich, zunächst vielleicht gar nicht für diese Bühne gemacht. Aber sein Überleben, so scheint es, motiviert ihn zur Botschaft und gibt ihm Kraft. In Schulen, in Betrieben, in Suchthilfe- und therapeutischen Einrichtungen spricht er schon seit Jahren regelmäßig darüber, wie er »ein Hardcore-Kiffer wurde«, so nennt er es selbst; wie er deshalb beinahe gestorben wäre und was ihm bei seinem Weg zurück in ein gesundes, abstinentes Leben am meisten geholfen hat.

Man muss ihn sehen, da oben, um die Energie zu spüren, die er versprüht. Lust am wiedergewonnenen Leben. An der Freiheit. Ein bisschen buddhistische Lebenshaltung, ein bisschen rauschhaften Enthusiasmus für seine Idee – gemischt mit jener Zartheit, die Männer zeigen, die Männer lieben und sich nach vielen Jahren der Selbstverleumdung endlich trauen, dazu zu stehen. »Hallo Baby. Wo bist du denn? Ah, da bist du ja«, fällt Leon Nowak kurz aus seiner ernsten Rolle und winkt seinem Lebenspartner Gerome auf der Empore zu. Gerome, ein schlanker, gut trainierter, schwarzer Kerl mit gezupften Augenbrauen und Dreitagebart, lächelt verschämt und winkt zurück.

Rund 300 Frauen und Männer jeden Alters sind ins Hotel Reussbach gekommen.

Leon senkt den Blick, macht eine Pause. Dann hebt er wieder den Kopf und seine Hände so, als packe er etwas an. So als packe er zu und halte etwas ganz fest: »Ich habe damals entschieden, die Liebe und die Wahrheit zu leben. Ab sofort. Ich möchte heute von meinem Weg zur Liebe und zur Wahrheit erzählen – und davon, wie alles mit Selbsthass und Selbstbetrug angefangen hat.« Leon spricht mit freier Gestik und wirkt trotz seiner Tenorstimme locker und jugendlich. »Ich bin jetzt fast 50«, nimmt er das glückliche Ende seiner beinahe tödlichen Geschichte vorweg: »Und ich habe den Großteil meiner Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass Gefühle der Schlüssel zu allem sind. Denn die Gefühle, die man pflegt, die strahlt man auch aus – und man bekommt entsprechende Antworten von den Menschen und vom Leben generell darauf zurück.« Und mit aufgedrehter Stimme fährt er fort: »Das mächtigste Gefühl von allen ist dieses hier«, er läuft auf das Flipchart zu und zeigt auf das erste Wort: »Es geht um das Selbst, also um mich«, dann deutet er auf das zweite Wort: »Es geht um Werte im Leben. Und …«, er zeigt auf das dritte Wort: »… es geht um Gefühle. Das ist ein ganz starkes Wort: Selbstwertgefühl. Es fasst alles zusammen, worum es geht, wenn wir über Sucht sprechen. Es trifft den Nagel aller Belange auf den Kopf, wenn ich gefragt werde: Warum bist du denn süchtig geworden, woran hat es dir denn gefehlt? Dann war es vor allem das. Es fehlte mir an einem sicheren Selbst, an echten Werten, und vor allem fehlte es mir an authentischem Gefühl.«

Sechs Wochen vorher, Hückelhoven-Millich – Treffen bei Leons Mutter:

Aga Nowak zieht die Handbremse ihres blauen Twingo an. Dann steigt sie aus dem Auto aus, läuft zum Kofferraum, öffnet ihn und zieht energisch eine große Bäckertüte heraus und einen Sechserpack Orangensaft.

»Brauchen Sie Hilfe? Kann ich Ihnen etwas abnehmen?«, frage ich.

»Ach, das wäre doch gelacht!« Die 70-Jährige winkt ab und stapft strammen Schrittes los, die knapp 30 Stufen zur Tür ihres Hauses den Hang hinauf. »Ich komme hier noch immer genauso hoch wie runter«, sagt sie noch im Gehen. Das »R« rollt sie dabei energisch, ihr polnischer Akzent gibt den Sätzen eine eigene Melodie. Sie atmet tief ein und meint dann: »Aber es gab diesen Tag vor ich weiß gar nicht mehr wie vielen Jahren, da musste ich unter den schlimmsten Schmerzen hier hinab. Ich schaffte es kaum bis zu meinem Auto. Das war nach einer Knie-OP, es hatte Komplikationen gegeben, ich war zu Hause, wartete auf meine Reha, und schon im Liegen tat mir alles weh.« Sie verdreht dabei die Augen und schaut gequält in den Himmel. »Da rief Leon an. Es ging ihm gar nicht gut, habe ich sofort an seiner Stimme bemerkt. War ja nicht das erste Mal, dass er so seltsam klang. Oder dass er mir sagte, er glaube, er bekomme Aufträge direkt von Gott.«

Aga Nowak verlagert Brötchen und Flaschen in den linken Arm, sie streckt die rechte Hand aus, steckt den Haustürschlüssel ins Schloss, dreht nach rechts, und die weiße Metalltür mit Verglasung und fliederfarbenem Blumenkranz springt auf.

Wir stehen jetzt im Flur, ihre Stimme bekommt hier einen kleinen Hall: »Er solle jemanden opfern, jemanden umbringen, sagte er zu mir. Jesus hätte ihm das aufgetragen. Da rannte ich sofort los. Oder: Ich kroch. Kam kaum ins Auto rein vor lauter Schmerzen. Aber da kommen wir gleich drauf zu sprechen, gehen wir erst einmal rein.«

Die gebürtige Polin lebt einfach und bodenständig in dieser noch recht konservativen Ecke von Nordrhein-Westfalen. Einst gab es hier viele Straßenfeste, jeder kannte jeden. Und jedermanns Kinder. Die meisten von denen sind jetzt fort, man trifft sich seltener. Aber, erzählt Aga mit einem Augenzwinkern und einem verschmitzten Lächeln, »man beobachtet sich doch«.

Die Markise über dem Balkon, den man von der Straße unten aus sehen kann, hat sie daher »kürzlich noch vom Vogelmist befreit«. Die Gardinen dahinter sind glattgebügelt und strahlend weiß. Zwischen Hauswand und Straße liegen rund 50 Quadratmeter Vorgarten, in dem die ersten Maiglöckchen aus dem Boden sprießen. Ahorn steht hier, sauber geschnittener Buchsbaum, und der Weißdorn trägt noch seine rote Winterpracht. »Gerome hat den Garten gemacht«, sagt Aga. »Leon und er haben, als die beiden noch nichts hatten, noch nicht einmal einen Führerschein, einige Jahre hier im Erdgeschoss für ein paar Mark gewohnt.«

Wir betreten durch den Flur jene Dreizimmerwohnung, die sie meint. »Sie steht nun seit zwei Jahren leer, ich richte gerade alles her und will sie jetzt vermieten.« Aga hätte das nicht sagen müssen, man spürt die Einsamkeit der kalten Wände, nur eine beige Couch ist aus den alten Zeiten übrig, eine braune Küchenzeile und ein schwerer, mit einer Wachsdecke belegter Eichentisch. Einst tobte hier das Leben, in den beiden oberen Etagen hat Aga Nowak ihr halbes Leben lang für ihren Mann und für die drei Kinder sowie immer auch mal für deren Partner und Partnerinnen geputzt, gesorgt, gekocht. Eine weitere Familie wohnte zur Miete im Kellergeschoss. »Eine Frau mit drei Kindern, geschieden. Der habe ich geholfen, Stütze zu bekommen. Und wenn sie wegmusste, waren auch ihre Kinder bei uns, und ich habe für die vier Wäsche mitgemacht.«

Gäste bewirten – das ist Agas Beruf. Und ihre Leidenschaft.

»Kommen Sie, drehen wir doch mal ordentlich die Heizung auf«, schlägt sie vor, noch bevor sie ihre braune Steppjacke auszieht oder den granatrot gefärbten Kurzhaarschopf von dem grünen Stirnband befreit. Geschäftig läuft sie von Raum zu Raum, dreht an allen Reglern, stapft an der eichenen Sitzbank vorbei, bis sie entschlossen vor dem Backofen steht: »Und ich mach mal eine Pizza rein, was meinen Sie?!«

»Danke«, sage ich. »Es ist ja erst elf Uhr. »Später vielleicht. Noch ist mein Hunger nicht so groß.«

»Gut, dann gehen wir erst einmal nach oben …« Aga Nowak hat schnell einen neuen Plan. »Schauen wir uns etwas um, da, wo ich jetzt lebe.«

Oben, das ist zurück in den Flur, 180 Grad nach rechts, ein paar schwarz-weiß marmorierte Steinstufen hoch. Hinter einer dünnen Falttür findet man 60 Quadratmeter mit Dachschrägen, mit einer kleinen Küche und einem von oben bis unten gelb gefliesten Bad. Zimmer um Zimmer ist von Decke bis Boden mit buchefarbenen Holzpaneelen vertäfelt. »Das hat man damals so gemacht«, sagt Aga. »Das war modisch und schick. Außerdem half das bei der Isolierung, immerhin haben Leon und die beiden Mädchen hier oben...

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