Eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Musikrezeption im allgemeinen und mit dem Thema Popmusik-Rezeption im speziellen darf nicht an einer Betrachtung ihrer biologisch-physiologischen Grundlagen vorbeigehen. Denn gerade hier sind die grundsätzlichen Ursachen für die Wirkung der massenhaft konsumierten Musik und die Motivationen zu ihrer Rezeption zu suchen.
Welchen Stellenwert das Ohr in der Rangliste der menschlichen Sinnesorgane einnimmt, läßt sich anhand seiner Empfindlichkeit beschreiben: Hörzellen reagieren schon auf Reize, die 10 Millionen mal kleiner sind, als die zum Fühlen über die Haut notwendigen Reize.[8] Das menschliche Ohr reagiert dabei auf Luftschwingungen von 15 bis 20.000 Hertz, mit zunehmendem Lebensalter verringert sich das Hörspektrum und endet ab dem 35. Lebensjahr schon bei etwa 15.000 Hertz.[9] Wird die Amplitude einer hörbaren Luftschwingung erhöht, so wird der Ton lauter, die Schmerzschwelle liegt bei circa 120 phon. „Während man früher ein bestimmtes Verhältnis der Tonfrequenz für ein konsonantes (=gleichklingendes) Tonpaar annahm, weiß man heute, daß diese Erklärung fragwürdig ist. Konsonanz, Dissonanz, Harmonie und Disharmonie sind bereits psychologisch begründete Urteile, die man rein physiologisch nicht mehr erklären kann“[10]. Für den Physiologen beschränken sich die Beobachtungen also zwangsläufig auf den Bereich zwischen dem Trommelfell und den elektrischen Aktionspotentialen der Hörzellen: Die zum Hörempfinden notwendigen Reize dringen in Form von Schallwellen durch den äußeren Gehörgang zum Trommelfell vor, das dadurch zu schwingen beginnt. Über die Gehörknöchelchen des Mittelohrs pflanzt sich die Schwingung ins Innenohr zur Basilarmembran in der Schnecke fort. Durch die Erschütterung dieser Membran werden die unmittelbar angrenzenden Hörzellen und in weiterer Folge der Hörnerv erregt. Im Gehirn kommt dann auf Grund der vom Hörnerv vermittelten Reize die Hörempfindung zustande.[11] Die eigentliche Kodierung und Dekodierung der eintreffenden Signale erfolgt dabei im limbischen System. Da dieses auch für die vegetative Regulation des Körpers verantwortlich ist, wirkt Musik, abhängig von Rhythmus und Lautstärke, also direkt auf das Vegetativum. Die Körperrhythmen versuchen sich den gerade einströmenden Klangreizen anzupassen[12], unabhängig vom Musikalitätsgrad der betreffenden Person. So wirkt beispielsweise Musik mit 60 bpm[13] beruhigend, weil Puls und Blutdruck sinken. Marschmusik und Rockrhythmen hingegen rufen motorische Reaktionen hervor, andere Musikarten bewirken Veränderungen des Hautwiderstandes, der Atmung, des Stoffwechsels, der Verdauung, der innersekretorischen Drüsen und der Wahrnehmungsschwelle für andere Sinnesorgane.[14] Die Wissenschaft ging lange Zeit von der Annahme aus, die „Natürlichkeit“ von Musik hänge mit dem Körperrhythmus zusammen. Zahlreiche Untersuchungen ohne schlüssige Ergebnisse ließen diese Theorie jedoch nach und nach in den Hintergrund treten. Die Untersuchungen zeigten aber eine große Variabilität und subjektive Unterschiedlichkeit in der Art und im Ausmaß der körpereigenen Reaktionen. Daraus folgt, daß die physiologischen Reaktionen nicht ausschließlich an den Charakter der gehörten Musik, sondern vielmehr an deren Bedeutung für den einzelnen gekoppelt sind.[15]
Vom limbischen System aus wird nämlich auch die Entstehung und Wirkung von Gefühlen beeinflußt. Die Dekodierung von Musik erfolgt somit direkt in der menschlichen Gefühlszentrale.[16] Daher ist „besonders der emotionale Anteil beim Hören besonders stark ausgeprägt, während sich die sogenannten primären Sinnesqualitäten beim Hören auf die Tonhöhen- und Lautstärkenunterscheidung beschränken.“[17] Diese emotionalen Reaktionen sind wiederum an einen Lernprozeß des Hörenden gebunden und somit umweltbedingt.[18] Diese Annahme von einer stark umweltbedingten Entwicklung des Musikempfindens schließt dabei die Möglichkeit einer natürlichen Musikbegabung, also die eventuell anlagenbedingte Präferenz für bestimmte Tonfolgen, nicht gänzlich aus. „Diese wäre als angelegte Strukturwahrnehmung des Gehirns, als typische Form der Verarbeitung von akustischer Information zu verstehen“.[19] Besonders bei der Betrachtung berühmter Musikerfamilien scheint die Musikalität vererbbar zu sein. Dabei werden jedoch oft die Bedeutung des musikalisch anregenden Milieus und somit die umweltbedingten Einflüsse unterschätzt. Doch auch die genetischen Faktoren haben einen bestimmten Einfluß, denn die kompositorische Qualität setzt das Spielen eines Instruments voraus, wofür wiederum geistige und sensomotorische Fähigkeiten vonnöten sind. Für den passiven Musikhörer treffen diese Betrachtungen nur in geringem Ausmaß zu. Daraus ergeben sich auch Probleme bei der Definition der Verständlichkeit eines Musikstücks: Jener, der im Umgang mit einem Instrument Erfolgserlebnisse erfährt, wird verstärkt Musik hören und sich intensiv damit befassen. Der unterschiedliche „Geschmack“ von Laien und Profis resultiert dieser Auffassung zufolge also aus einem unterschiedlichen Gewöhnungsgrad an Musik.
Wie schon erwähnt gibt es aber nicht nur umweltbedingte, sondern auch reifungsbedingte (angeborene) Reaktionen auf Musik. Dies läßt sich bei der Beobachtung der Entwicklung vom Fötus bis zum Erwachsenenalter feststellen: Da das Hörorgan bereits nach 24 Wochen Schwangerschaft ausgereift ist[20], erfolgen die ersten Reaktionen auf Schallschwingungen schon im Mutterleib, plötzliche laute Töne oder Geräusche erzeugen beim Fötus krampfartige Zustände und Bewegungen.[21] Als angeborene Reaktion löst Lautstärke bei Kleinkindern Angst und Weinen aus. Abgesehen davon lernen Säuglinge jedoch schnell, Töne und Stimmen zu erkennen sowie zwischen vertrauten und nichtvertrauten (angstauslösenden) Geräuschen zu unterscheiden. Klein- und Kleinstkinder reagieren bei Musikrezeption zuerst auf Rhythmus, erst später folgen Melodieerkenntnis, Klangfarbendifferenzierung, die Fähigkeit zur Identifizierung musikalischer Klischees, die Konsonanz- und Dissonanzempfindung, sowie die Identifizierung musikalischer Stereotype. Die Entwicklung letztgenannter Eigenschaften ist ausschließlich lernabhängig und somit ein kulturabhängiger Prozeß.
Nach Betrachtung der physiologischen und biologischen Grundlagen der Musikrezeption lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
Erfahrungen und Lernen sind für die Musikrezeption bedeutender als physiologische Faktoren und genetische Anlagen.
Die Physiologie kann keine Kriterien zur qualitativen Beurteilung von Musik liefern.
Die physiologischen Auswirkungen von Musik sind abhängig von der erlernten Bedeutung von Musik und somit von psychologischen Prozessen.
Mit den Erkenntnissen der Physiologie ist es nicht möglich, natürliche von unnatürlicher und harmonische von disharmonischer Musik zu unterscheiden.
Will man also mehr über die Entstehung der Bedeutung von Musik für das einzelne Individuum erfahren, so sind hauptsächlich die psychologischen und umweltbezogenen Faktoren zu betrachten.
Die Zahl der Neuronen im menschlichen Gehirn ist mit der Geburt festgelegt. Durch die Zunahme von Nervenfaserverbindungen und anderer Reizzuleitungsmedien sowie durch Veränderungen biochemischer Prozesse kommt es beim Säugling in den ersten Lebenswochen aber zu einer Veränderung in der Struktur der Gehirnrinde. Diese Veränderungen treten zum Großteil als Folge von Lernprozessen auf. Experimente mit Katzen haben gezeigt, daß Dendritische Verzweigungen und Synapsenendigungen nicht als entwicklungsbedingte Veränderungen zunehmen, sondern als Reaktion auf Reizzufuhren.[22] Wird ein Sinnesgebiet künstlich ausgeschaltet, so treten in den entsprechenden Hirnregionen nur geringe Strukturveränderungen auf, beziehungsweise können Neuronen sogar verkümmern. Lernprozesse bewirken weiters quantitative Veränderungen in der Zusammensetzung der in Zellkernen vorhandenen Ribonukleinsäuren (RNS), wodurch eine erhöhte Bereitschaft zur Reizweiterleitung entsteht.[23] In der akustischen Wahrnehmung zur Zeit der kindlichen Frühentwicklung liegt also der Grundstock der späteren musikalischen Erlebnisfähigkeit.[24]
Die Pädagogik und die Psychologie stellen unzählige unterschiedliche Lerntheorien bereit, die grundsätzlich alle auch für die Erklärung des...