2. Trennung und Scheidung- Auflösung der Familie?
Der gesellschaftliche Wandel der Familie und Ehe hat in den letzten Jahren auch zu einer veränderten Sichtweise und Bewertung einer Scheidung im Hinblick auf die Folgen für alle Beteiligten geführt.
Anfänglich wurde eine Scheidung als nicht normatives Ereignis bewertet. Scheidung stellte ein Ereignis mit negativen Auswirkungen und einer krankmachenden Entwicklungstendenz in der Familie dar.
Heute wird es nicht als ein negatives Einzelereignis gesehen, sondern ist ein Entwicklungsprozess in der Familie mit verschiedenen Übergängen. Die Familie setzt sich mit einer Herausforderung auseinander, die nicht nur negativ betrachtet wird, sondern gibt ihnen Anlass eine konstruktive Lebensveränderung herbeizuführen.
Verschiedene Forschungsansätze befassen sich mit der Veränderung der gesellschaftlichen Ansicht von Trennung und Scheidung und definieren unterschiedliche Modelle einer Scheidungsfamilie. Im Mittelpunkt der Forschungsentwicklung steht die Bewältigung einer Scheidung für alle Betroffenen. (vgl. Fthenakis/ Walbiner 2008, S. 1)
a) Das Desorganisationsmodell der Scheidung
Zu Beginn der Scheidungsforschung in den 70er Jahren stellte das Desorganisationsmodell die Basis für die gesetzliche Regelung von Trennung und Scheidung dar. Nach diesem Modell löste sich die Familie mit der Scheidung auf und stärkte auf rechtlicher Grundlage die „Restfamilie“, d.h. die Mutter und die meistens dort lebenden Kinder. Ihr wurde das alleinige Sorgerecht zugeschrieben und das Umgangsrecht mit dem anderen Elternteil, dem Vater, fand in sehr eingeschränkter Form statt. Der Blick fiel dabei lediglich auf die Rechte der Eltern und nicht auf eine Bedürfnis- und Bindungsorientierte Ausgestaltung einer Beziehung zu beiden Elternteilen. Lösungsansätze zur Konfliktregulierung und einer Neugestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie eine Aussicht auf positive zukunftsgestaltende Maßnahmen für die Kinder wurden nicht berücksichtigt. Dieses Modell kam während der Scheidungsforschung in die Kritik. Es stellte sich die Frage, ob die sichere Bindungsbeziehung des Kindes zur Mutter ausreicht, um den Scheidungsprozess im positiven Maße bewältigen zu können. (vgl. Fthenakis/ Walbiner 2008, S. 1f.)
Wörz (2004) geht auf das Desorganisationsmodell nur kurz ein und zitiert Lempp (1997 bzw. 1989), der als Folge der Auflösung der Familien von den entstandenen „Elterntrümmern“ spricht. Auch mit dem Wort „Scheidungswaisen“ unterstreicht Wörz (2004) die kritische Betrachtungsweise von Fthenakis und Walbiner mit der Frage, ob eine primäre Bindungsbeziehung zur Mutter bei der Scheidungsbewältigung ausreicht. (vgl. Wörz 2004, S.30)
b) Das Reorganisationsmodell der Scheidung
Dieses Modell wird als normatives Lebensereignis gesehen und durchläuft verschiedene Phasen im Verlauf der Familienentwicklung. Schon lange vor der Trennung lassen sich problematische Entwicklungsverläufe beobachten. Wörz (2004) verweist auf Längsschnittstudien[3], die zeigten, „dass problematische Entwicklungen von Kindern bereits lange vor der Scheidung beobachtbar waren. Diese hingen mit der Trennung der Eltern, mit Konflikten zwischen den Eltern und belastenden Beziehungen zu den Eltern zusammen.“ (Wörz 2004, S. 30)
Merkmale, wie die Einführung der gemeinsamen elterlichen Sorge und eine neue Betrachtung der Scheidungsfamilie, die sich mit der Scheidung nicht auflöst, sind ausschlaggebend für ein binukleares Familiensystem. In diesem Familiensystem gehören die Kinder beiden elterlichen Haushalten an und teilen sich die Elternverantwortlichkeit. Wörz (2004) verdeutlicht, dass sich das Reorganisationsmodell an den Ressourcen der Familie orientiert. Gemeinsam soll mit ihnen nach Lösungen gesucht werden, um für alle Beteiligten Nachteile zu vermeiden und Vorteile herauszufiltern. (vgl. Wörz 2004, S. 31)
Fthenakis und Walbiner (2008) fügen hinzu, dass die Darstellung der Trennung, Scheidung und Wiederheirat nicht in einem allgemeinen Ansatz der familiären Entwicklung begriffen wurde und somit der Standpunkt von Scheidung als eine abweichende Form der Familienentwicklung nicht bewältigt wurde. (vgl. Fthenakis/ Walbiner 2008, S. 3)
c) Scheidung als Transitionsprozess in der Familienentwicklung
Eine Scheidung ist in der familiären Entwicklung von vielen Übergängen geprägt, die in einem Modell von Cowan (1991) somit nicht mehr als ein Einzelereignis betrachtet werden. Im Laufe der familiären Entwicklung können sich die Strukturen der Familie und alle Beteiligten verändern. Bei den Übergängen müssen sich die Familienmitglieder Entwicklungsaufgaben stellen, die die individuelle, die interaktionale und die kontextuelle Ebene betreffen. Transitionen kennzeichnen Übergänge, die im entwicklungspsychologischen Interesse auf den oben genannten Ebenen verarbeitet und bewältigt werden. Fthenakis und Walbiner (2008) unterscheiden zwischen zwei Aspekten des Übergangs. Der strukturelle Aspekt meint die Beziehung zwischen den Eltern und Kindern nach der Scheidung und wie diese zeitlich organisiert wird. Der prozessuale Aspekt beschreibt, welchen Verlauf die Scheidung nimmt und ob diese friedlich oder strittig vollzogen wird. (vgl. Fthenakis/ Walbiner 2008, S. 3f.)
d) Entwicklungsaufgaben für Scheidungskinder
Aufgrund des Themas der vorliegenden Arbeit, werde ich mich im Folgenden ausschließlich mit den Entwicklungsaufgaben für Kinder im Kontext des Transitionsprozesses während einer Scheidung befassen:
Entwicklungsaufgaben auf der individuellen Ebene
Auf dieser Ebene muss das Kind sich mit starken Emotionen auseinandersetzten und diese bewältigen. Dazu gehören Ärger, Angst, Trauer, Verlangen nach dem abwesenden Elternteil, usw. Bei der Erarbeitung dieser Gefühle können Therapeuten helfen, aber auch Bilderbücher[4] zu dem Thema können die Verarbeitung unterstützen. Gruppentherapien zur Verarbeitung unterstützen das Kind während der Bewältigung und fördern wichtige Kompetenzen. Darunter fallen Kompetenzen zur Kommunikation, Konfliktbewältigung, soziale und emotionale Kompetenzen. Durch die intensive Auseinandersetzung mit der Trennung wird das Kind an Wissensrepertoire über Trennung und Scheidung gewinnen. (vgl. Wörz 2004, S. 32)
Entwicklungsaufgaben auf der interaktionalen Ebene
Die interaktionale Ebene beschreibt die Beziehung zu den Eltern in Abhängigkeit davon wie die Eltern die Scheidung bewältigen. Es kommt darauf an wie die Eltern mit Konflikten umgehen und in welchem Maß sie Verantwortung für das Kind übernehmen. Haben die Eltern eine gute Balance gefunden, unterstützen sich und stehen in einem häufigen und gutem Kontakt zueinander, wird das Kind diese Entwicklungsaufgabe gut bewältigen. Die oben genannten Kompetenzen werden dann auch bei den Eltern gefördert und erweitert. In jedoch schweren Fällen muss das Kind mit „Parentifizierung“[5] umgehen. Auch stellt es für das Kind eine große Herausforderung dar, in Konfliktsituationen zwischen den Eltern, als Botschafter, Partnerersatz oder Spion zu fungieren. (vgl. Wörz 2004, S. 32f.)
Entwicklungsaufgaben auf der kontextuellen Ebene
Das Kind muss sich nun mit zwei unterschiedlichen Lebenswelten auseinandersetzen. In dem binuklearen Familiensystem muss es das Leben in zwei Haushalten vereinbaren. Darunter fallen auch die Systeme von Freunden, Verwandten, Nachbarn, Schule oder Kindertageseinrichtung. Die Bewältigung in der Kindertageseinrichtung oder in der Schule kann mit Problemen im sozialen Umgang oder in der Leistungsqualität einhergehen. Im späteren kann auch die Auseinandersetzung mit weiteren familiären Übergängen eintreten, wenn sich bei einem oder beiden Elternteile neue Partnerschaften bilden und Stieffamilien gegründet werden. (vgl. Wörz 2004, S. 33)
Wie im ersten Teil beschrieben, wird eine Trennung als normatives Lebensereignis in der Familienentwicklung betrachtet. Dieser ganzheitliche, komplexe Prozess durchläuft unterschiedliche Phasen, die ineinander übergehen aber zeitlich nicht immer gleich ablaufen und sich ausdehnen können. Diese Phasen kennzeichnen die Auflösung der Familienorganisation in rechtlicher, sozioökonomischer und psychosozialer Hinsicht. (vgl. Radosztics 2000, S.105f.)
Eine Trennung setzt nicht plötzlich ein, sondern das Auseinanderleben beginnt schon weitaus früher und kann mehrere Jahre dauern. De Angelis (2003, S.51) zitiert Loidl (1985, S.160), der dieses „Auseinanderleben“ als den Auslöser der späteren Trennung beschreibt. Es entstehen unterschiedliche Sichtweisen, Bedürfnisse und Erwartungen, die zu Beginn nicht ausgesprochen werden und somit im Laufe der Zeit zu immer größer werdenden Unzufriedenheit führen, bis es in totaler Ablehnung oder Aggressionen ausartet. Je zeitiger Paare eine Trennung vornehmen, umso einvernehmlicher, ohne Streit und Aggressionen gelingt sie. Kommt es zu Aggressionen und Ablehnung, so wird die Bewältigung der Trennung...