Sie sind hier
E-Book

Autismus

Eine sehr kurze Einführung

AutorUta Frith
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl209 Seiten
ISBN9783456752945
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Autismus ist eine Störung, die zurzeit in aller Munde ist. In der Literatur und in Filmen und Reportagen wird dabei oft über Menschen berichtet, die einerseits sehr viele alltägliche Dinge nicht tun können, andererseits aber über absolut faszinierende Inselbegabungen verfügen. Doch wie sieht die Realität hinter dieser Berichterstattung aus?

Diese Sehr kurze Einführung bietet einen klaren Überblick über den aktuellen Wissensstand zu Autismus und zum sog. Asperger Syndrom. Uta Frith, eine herausragende Expertin zum Thema, erklärt das breite Spektrum an verschieden Störungsformen, das sich hinter diesen beiden Bezeichnungen verbergen kann. Die Autorin geht der Frage nach, ob es tatsächlich zu einem plötzlichen Anstieg der Erkrankungszahlen gekommen ist, und sie stellt die neurowissenschaftlichen, psychologischen, genetischen und Umweltfaktoren vor, die Einfluss nehmen können beim Auftreten dieser Störung.

Dieses kurze und gut lesbare Buch klärt zudem die psychologischen Hintergründe des Savant-Phänomens und gibt wertvolle Einblicke darin, wie es sich anfühlt, als Menschen mit Autismus Spektrum Störung zu leben.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

[9]Kapitel 1

Das Autismusspektrum

Ist es Autismus?

Stellen Sie sich eine junge Mutter mit ihrem Kind vor. Sie liebt ihr Söhnchen heiß und innig, und er ist ein hübsches Kerlchen. Doch gelegentlich spürt sie die nagende Frage in sich aufkommen, ob Mickey wirklich ein normaler, glücklicher Junge werden wird. Woher soll sie zum Beispiel wissen, dass er nicht unter Autismus leidet? Das Thema macht immer wieder Schlagzeilen. Immerhin soll fast ein Prozent aller Kinder von Autismus betroffen sein, und Jungen sogar fünfmal so häufig wie Mädchen.

Der Gedanke, dass ihr eigenes Kind autistisch sein könnte, weckt alle möglichen Ängste. Aber was sind die ersten Anzeichen des Autismus? Hat es etwas zu bedeuten, dass Mickey viel weint, wenig schläft und sich nur schwer beruhigen lässt? Dianes Mutter behauptet zwar, das sei völlig normal. Doch Diane macht sich Sorgen, dass Mickey sich nicht immer zu ihr umdreht, wenn sie von der anderen Seite des Zimmers aus nach ihm ruft.

[10]Diane begann, sich mit dem Thema Autismus zu beschäftigen, doch die Information trug nicht zu ihrer Beruhigung bei. Sie las, dass autistische Kinder oft erheblich in ihrer allgemeinen Entwicklung zurückblieben. Bei vielen Kindern wurden die ersten Symptome erst im zweiten Lebensjahr erkennbar. Manche Kinder lernten nicht sprechen, andere waren kleine Genies. Wie viele Menschen, die zum ersten Mal mit dem Thema Autismus in Berührung kommen, war Diane einerseits verwirrt, aber andererseits auch neugierig.

Das Rätsel Autismus

Auch ich war verwirrt und neugierig, als ich als Studentin in den 1960er-Jahren zum ersten Mal dem Thema Autismus begegnete. Mehr noch, die Kinder, die ich während meiner Ausbildung zur klinischen Psychologin im Londoner Maudsley Hospital kennenlernte, faszinierten mich und stellten mich vor ein Rätsel. Genau diese Faszination war es auch, die mich motivierte, keine Anstellung als klinische Psychologin anzunehmen, sondern mich der Forschung zuzuwenden. Damals arbeiteten vier Pioniere der Autismusforschung am Maudsley Hospital: der Kinderpsychiater Michael Rutter, die Epidemiologin Lorna Wing und die Psychologen Neil O’Connor und Beate Hermelin. Ich hatte einige ihrer Aufsätze gelesen, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie alle in demselben Krankenhaus arbeiteten.

[11]In ihren Aufsätzen schilderten die Wissenschaftler fortschrittliche Wahrnehmungs- und Gedächtnisexperimente, die sie mit autistischen Kindern durchgeführt hatten. In diesen Experimenten verglichen sie Kinder, die als geistig behindert galten, mit Kindern, die damals zum ersten Mal überhaupt als autistisch bezeichnet wurden, und stellten eindeutige Unterschiede fest. Diese Unterschiede waren ein Hinweis auf einen unterschiedlichen Verstand und ließen sich nicht durch mangelnde Intelligenz oder Motivation wegerklären. Ich staunte über die Eleganz der Experimente und darüber, dass sie derart eindeutige Ergebnisse erbrachten. Beate Hermelin und Neil O’Connor hatten Möglichkeiten gefunden, Fragen zu beantworten, die mir damals großes Kopfzerbrechen bereiteten. Warum sind autistische Kinder zum Beispiel außerstande, scheinbar einfache Aufgaben zu erledigen? Und warum fällt es ihnen leicht, Aufgaben zu lösen, die anderen Kindern Schwierigkeiten bereiten? Warum ist ein Kind, das ein gutes Gedächtnis für Wörter besitzt, nicht in der Lage, deren Bedeutung zu verstehen? Diese Widersprüche und Rätsel sollten mich nicht mehr loslassen und motivierten mich, nach Antworten zu suchen.

Auch vierzig Jahre später ist die Faszination dieselbe geblieben. Auf einige meiner Fragen haben wir zwar inzwischen Antworten gefunden, die ich in diesem Buch vorstelle, doch es gibt nach wie vor viel zu [12]entdecken, und das Rätsel Autismus ist nach wie vor ungelöst.

Schon sehr früh machte ich die Erfahrung, dass beim Autismus nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Nur weil ein Kind nicht auf Ihre Bemühungen reagiert, bedeutet das nicht, dass das Kind Sie ablehnt. Die fehlende Reaktion hat viel tiefere Gründe. Und nur weil ein Kind sich nicht an Wörter und Bilder erinnert, bedeutet dies nicht, dass es sich nicht an die Namen und Gesichter von Menschen erinnert. Eine meiner erstaunlichsten Erkenntnisse war, dass Autismus in vieler Hinsicht schlimmer sein kann, als blind oder taub zur Welt zu kommen. Von einigen Ausnahmen abgesehen können autistische Kinder sogar ausgezeichnet sehen und hören. Doch während blinde und taube Kinder über einen besonderen Sinn verfügen, mit dem sie soziale Signale empfangen und auf sie reagieren, geht autistischen Kindern dieser Sinn ab.

Es lässt sich nur schwer nachvollziehen, was es bedeutet, diesen sozialen Sinn nicht zu haben, nicht auf einer Wellenlänge mit anderen Menschen zu sein, ihre Handlungen und Reaktionen nicht zu verstehen und die Signale, die sie einander und ihnen geben, nicht deuten zu können. Genau dazu sind autistische Kinder nämlich nicht in der Lage. Sie haben allerdings die verstandesmäßigen Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie sich das Wissen über diese Signale aneignen können. [13]Doch dieses erlernte Wissen unterscheidet sich von dem intuitiven Wissen, mit dem andere Menschen wie selbstverständlich soziale Situationen verstehen. Auch farbenblinde Menschen können Wissen über Farben erwerben und sie korrekt benennen, doch sie erleben Farben anders. Der Zusammenhang zwischen Autismus und der Erfahrung sozialer Kommunikation ist ganz ähnlich.

Aber warum lernen autistische Kinder anders? Weil Autismus so früh beginnt, sind ihnen viele soziale Lernmöglichkeiten versperrt. In der normalen Entwicklung folgen Kinder dem ausgetretenen Weg, den Evolution und Kultur vorgezeichnet haben. Autistische Kinder müssen dagegen ihre eigenen Trampelpfade anlegen. Deshalb unterscheiden sie sich nicht nur von nicht autistischen Kindern, sondern auch untereinander.

Das Autismusspektrum

Bei meiner ersten Begegnung mit autistischen Kindern war ich mir nur vage der Tatsache bewusst, dass es unterschiedliche Grade von Autismus gibt. In der Klinik begegnete ich nur schweren Fällen. Wenn ich heute mit autistischen Kindern zu tun habe, bin ich oft erstaunt, wie funktional viele von ihnen sind und wie häufig der Autismus nur schwach bis mäßig ausgeprägt ist. Unter den mit Autismus diagnostizierten [14]Kindern sind Fälle mit klassischen Symptomen die Ausnahme. Es gibt diese Fälle natürlich noch, und sie weisen dieselben Symptome auf wie vor vierzig Jahren. Heute wird der Autismus jedoch sehr viel weiter gefasst und hat eine große Bandbreite von Symptomen. Daher spricht man heute auch von einem Autismusspektrum.

Hinter dieser Vorstellung des Spektrums verbirgt sich die Erkenntnis, dass es nicht einen Autismus gibt, sondern eine große Vielfalt von «Autismen». Alle beginnen schon mit der Geburt und wirken sich auf die Entwicklung des Gehirns aus. Doch die Kinder können sich auf sehr unterschiedliche Weise entwickeln. Daher weisen Autisten eine große Vielfalt von Verhaltensweisen auf. Manchmal kann eine Familie mit Fug und Recht stolz auf ihr Kind sein, das auf interessante Weise anders ist als die anderen Kinder und vielleicht sogar eine besondere Begabung mitbringt. In anderen Fällen wird die gesamte Familie zerstört, weil das Kind so schwierig ist, dass niemand mit ihm fertigwird. Dazwischen liegen viele Schattierungen, und die meisten bringen eine Mischung aus faszinierenden und frustrierenden Eigenschaften mit.

Obwohl jeder Mensch mit Autismus in vieler Hinsicht einmalig ist, gibt es einige grundsätzliche Ähnlichkeiten. Typisch für die leichten wie die schweren Formen innerhalb des Autismusspektrums ist zum Beispiel die Unfähigkeit zu normalen, wechselseitigen [15]Formen der sozialen Interaktion. Charakteristisch sind auch repetitive und stereotype Verhaltensweisen, die eine Vielfalt von Konsequenzen mit sich bringen. Deshalb hält die Wissenschaft bis heute an der Vorstellung fest, dass es hinter dem Kaleidoskop von Verhaltensweisen ein gemeinsames Muster gibt. Daher verwende ich in diesem Buch die bekannten Begriffe Autismus und autistisch, um an die Gemeinsamkeiten hinter diesem Spektrum zu erinnern.

Drei Fallbeispiele

Sehen wir uns nun drei Fälle auf dem Spektrum an, die auf realen Personen basieren. David hat klassischen Autismus. Gary hat eine tief greifende Entwicklungsstörung mit einem diffusen und atypischen Bild, ein komplexer Fall, wie er relativ häufig vorkommt. Edward schließlich hat ein klassisches Asperger-Syndrom.

David

Im Alter von drei Jahren wurde David als autistisch diagnostiziert. Zu diesem Zeitpunkt nahm er kaum Blickkontakt zu anderen Menschen auf, er sprach nicht und schien in seiner eigenen Welt zu leben. Er konnte stundenlang auf einem Trampolin springen und war extrem geschickt beim Zusammensetzen von Puzzles. Im Alter von zehn Jahren hatte er sich [16]körperlich gut entwickelt, doch emotional blieb er nach wie vor sehr unreif. Er war ein hübscher Junge mit feinen Gesichtszügen. Das Leben der Familie drehte sich immer um David, nicht umgekehrt. Er bestand mit extremer Hartnäckigkeit auf seinen Vorlieben und Abneigungen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Zwischenzeitlich aß er beispielsweise nur Joghurt und verweigerte jede andere Nahrung. Seine Mutter sah sich meist gezwungen, seinen drängenden und wiederholten Forderungen nachzugeben, da diese leicht in Wutanfälle ausarteten.

Im Alter von fünf Jahren lernte David sprechen. Heute besucht er eine Sonderschule für autistische Kinder und ist dort zufrieden. Er hat seine alltäglichen Routinen, von denen er nie abweicht. Seine Intelligenz ist schwer...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Ratgeber psychische Gesundheit

Internet für Psychologen

E-Book Internet für Psychologen
Format: PDF

Das Internet kurz zu erklären und gleichzeitig einen aktuellen Überblick über psychologische Themen und Forschungsschwerpunkte zu geben, ist wohl ein hoffnungsloses Unterfangen. Zu…

Internet für Psychologen

E-Book Internet für Psychologen
Format: PDF

Das Internet kurz zu erklären und gleichzeitig einen aktuellen Überblick über psychologische Themen und Forschungsschwerpunkte zu geben, ist wohl ein hoffnungsloses Unterfangen. Zu…

Internet für Psychologen

E-Book Internet für Psychologen
Format: PDF

Das Internet kurz zu erklären und gleichzeitig einen aktuellen Überblick über psychologische Themen und Forschungsschwerpunkte zu geben, ist wohl ein hoffnungsloses Unterfangen. Zu…

Internet für Psychologen

E-Book Internet für Psychologen
Format: PDF

Das Internet kurz zu erklären und gleichzeitig einen aktuellen Überblick über psychologische Themen und Forschungsschwerpunkte zu geben, ist wohl ein hoffnungsloses Unterfangen. Zu…

Glücksspielsucht

E-Book Glücksspielsucht
Format: PDF

Der Band informiert über die verschiedenen Erscheinungsformen des pathologischen Glücksspielverhaltens und erläutert das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Glü…

Glücksspielsucht

E-Book Glücksspielsucht
Format: PDF

Der Band informiert über die verschiedenen Erscheinungsformen des pathologischen Glücksspielverhaltens und erläutert das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Glü…

Legasthenie

E-Book Legasthenie
Leitfaden für die Praxis Format: PDF

Was ist Legasthenie? Wie kann man Legasthenie erkennen? Welche Erklärungsansätze gibt es? Wie kann man Legasthenie behandeln? Dieser Leitfaden bietet praxisorientierte Hinweise zur…

Legasthenie

E-Book Legasthenie
Leitfaden für die Praxis Format: PDF

Was ist Legasthenie? Wie kann man Legasthenie erkennen? Welche Erklärungsansätze gibt es? Wie kann man Legasthenie behandeln? Dieser Leitfaden bietet praxisorientierte Hinweise zur…

Legasthenie

E-Book Legasthenie
Leitfaden für die Praxis Format: PDF

Was ist Legasthenie? Wie kann man Legasthenie erkennen? Welche Erklärungsansätze gibt es? Wie kann man Legasthenie behandeln? Dieser Leitfaden bietet praxisorientierte Hinweise zur…

Legasthenie

E-Book Legasthenie
Leitfaden für die Praxis Format: PDF

Was ist Legasthenie? Wie kann man Legasthenie erkennen? Welche Erklärungsansätze gibt es? Wie kann man Legasthenie behandeln? Dieser Leitfaden bietet praxisorientierte Hinweise zur…

Weitere Zeitschriften

Arzneimittel Zeitung

Arzneimittel Zeitung

Die Arneimittel Zeitung ist die Zeitung für Entscheider und Mitarbeiter in der Pharmabranche. Sie informiert branchenspezifisch über Gesundheits- und Arzneimittelpolitik, über Unternehmen und ...

AUTOCAD & Inventor Magazin

AUTOCAD & Inventor Magazin

FÜHREND - Das AUTOCAD & Inventor Magazin berichtet seinen Lesern seit 30 Jahren ausführlich über die Lösungsvielfalt der SoftwareLösungen des Herstellers Autodesk. Die Produkte gehören zu ...

Card Forum International

Card Forum International

Card Forum International, Magazine for Card Technologies and Applications, is a leading source for information in the field of card-based payment systems, related technologies, and required reading ...

care konkret

care konkret

care konkret ist die Wochenzeitung für Entscheider in der Pflege. Ambulant wie stationär. Sie fasst topaktuelle Informationen und Hintergründe aus der Pflegebranche kompakt und kompetent für Sie ...

caritas

caritas

mitteilungen für die Erzdiözese FreiburgUm Kindern aus armen Familien gute Perspektiven für eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen, muss die Kinderarmut in Deutschland nachhaltig ...

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg) ist das offizielle Verbandsorgan des Württembergischen Landessportbund e.V. (WLSB) und Informationsmagazin für alle im Sport organisierten Mitglieder in Württemberg. ...

DGIP-intern

DGIP-intern

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie e.V. (DGIP) für ihre Mitglieder Die Mitglieder der DGIP erhalten viermal jährlich das Mitteilungsblatt „DGIP-intern“ ...

DHS

DHS

Die Flugzeuge der NVA Neben unser F-40 Reihe, soll mit der DHS die Geschichte der "anderen" deutschen Luftwaffe, den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee (NVA-LSK) der ehemaligen DDR ...

Euro am Sonntag

Euro am Sonntag

Deutschlands aktuelleste Finanz-Wochenzeitung Jede Woche neu bietet €uro am Sonntag Antworten auf die wichtigsten Fragen zu den Themen Geldanlage und Vermögensaufbau. Auch komplexe Sachverhalte ...