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E-Book

Autoritäre Versuchungen

Signaturen der Bedrohung I

AutorWilhelm Heitmeyer
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783518754788
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Ein Gespenst geht um in der Welt - das Gespenst des rabiaten Rechtspopulismus. Spätestens mit der Wahl Donald Trumps hat sich die Lage zugespitzt mit Angriffen auf Pressefreiheit und Gewaltenteilung. Gegen die liberale Demokratie.

Wilhelm Heitmeyer hat diese Tendenzen frühzeitig thematisiert. 2001 warnte er, die Globalisierung gehe mit politischen und sozialen Kontrollverlusten einher, die zum Aufstieg des autoritären Kapitalismus, zu Demokratieentleerung und einem Erstarken des Rechtspopulismus führen könnten. In seinem neuen Buch knüpft er an diese Analyse an und macht sie für eine Diagnose der aktuellen Situation fruchtbar. Der Band bildet den Auftakt zu der Reihe »Signaturen der Bedrohung«, die Phänomenen politischer Gewalt und sozialer Desintegration gewidmet ist.

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<p>Wilhelm Heitmeyer, geboren 1945, war von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und arbeitet dort jetzt als Forschungsprofessor. In der edition suhrkamp gab er u. a. die Reihe <em>Deutsche Zustände </em>heraus.</p>

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Leseprobe

161. Ein Schritt zur Gesellschaftsanalyse: Der autoritäre Nationalradikalismus als Bedrohung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie


Diverse politische Akteure streben autoritäre Veränderungen an, welche die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie in ihrem Kern berühren. Diese Akteure stellen das politische Angebot und locken mit autoritären Versuchungen, die eine große Anziehung auf Millionen von Bürgerinnen und Bürgern ausüben, da diese ihrerseits autoritäre Sehnsüchte an den Tag legen. Zur Realisierung des autoritären Projekts sind beide Seiten notwendig: einerseits autoritäre Akteure in politischen Parteien, sozialen Bewegungen und intellektuellen Milieus; andererseits autoritäre Einstellungen bei erheblichen Teilen der Bevölkerung. Während in anderen europäischen Ländern bereits (spätestens) ab den späten Neunzigerjahren ein Erstarken von Nationalismen festzustellen war — man denke nur an den Wahlerfolg der FPÖ, die 1999 bei den Wahlen zum österreichischen Nationalrat zweitstärkste Kraft wurde, oder an den französischen Front National —, bildete sich in der politischen Landschaft der Bundesrepublik erst in den letzten Jahren ein autoritärer Nationalradikalismus heraus (siehe Kapitel 9).

Dem vorliegenden Band liegt die Annahme zugrunde, dass die Erfolge rechter Bewegungen und Parteien nicht möglich gewesen wären ohne bestimmte Entwicklungen im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus, im politischen System der Demokratie und im sozialen System der Gesellschaft. Deshalb soll das Zusammenwirken von autori17tärem Kapitalismus, sozialen Desintegrationsprozessen und politischer Demokratieentleerung als Ursachenmuster für die Realisierung autoritärer Sehnsüchte analysiert werden. Die Untersuchung zielt konzeptuell auf Verbindungen zwischen drei Momenten: 1) strukturelle Entwicklungen, 2) Mechanismen subjektiver Verarbeitung seitens der Bevölkerung und 3) deren Zusammenhang mit dem Aufkommen autoritärer politischer Angebote.

Die Untersuchung der »deutschen Zustände« und ihrer Entwicklung erfolgt im vorliegenden Band in zwei Schritten: Im ersten Schritt werden ältere Erkenntnisse zur Bedrohung offener Gesellschaften und liberaler Demokratien zusammengefasst. Diese Erkenntnisse stammen aus dem Jahr 2000 und wurden in einem bereits veröffentlichten Aufsatz dokumentiert, der seinerseits als Ankertext für den vorliegenden Band fungiert (siehe Kapitel 2). In einem zweiten, darauf aufbauenden Schritt analysiere ich die Verläufe, Verarbeitungen und Folgen der ökonomischen, sozialen und politischen Krisen der Jahre 2000-2017 anhand empirischer Daten und interpretiere sie mithilfe verschiedener sozialwissenschaftlicher Theorien.

Zur zeitlichen Einordnung ist zunächst ein Blick auf die Geschichte moderner Gesellschaften notwendig. Er zeigt, dass Letztere zumindest phasenweise von autoritären Ideologien und Organisationsangeboten mitsamt individueller autoritärer Folgebereitschaft geprägt sein können.

Nach 1945 haben soziale Bewegungen, bisweilen auf durchaus konflikthafte Weise, in westlichen Gesellschaften vielfältige Liberalisierungen und Reformen erkämpft. Diese waren so umfassend, dass rasch extrem optimistische Zukunftsprognosen aufkamen, zumal man davon ausging, dass Bedrohungen durch Gewalt und Kriege sowie Verletzungen der 18Menschenwürde schon bald der Vergangenheit angehören würden. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems wurde dann gar das »Ende der Geschichte« ausgerufen, das heißt der endgültige Sieg der liberalen Demokratie mit entsprechenden Verfassungen, Freiheitsrechten, Minderheitenschutz etc. (vgl. Fukuyama 1992). Solche überschwänglichen Gesten des Triumphs bedeuteten zwar nicht, dass sämtliche Versprechen der liberalen Demokratie nun tatsächlich eingelöst worden wären; aber eine erhebliche Liberalisierungstendenz war dennoch nicht von der Hand zu weisen. Andererseits hat der große Soziologe Ralf Dahrendorf bereits 1997 hellsichtig darauf hingewiesen, dass die Globalisierung und ihre sozialen Folgen zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit werden könnten. Dahrendorf zufolge befanden sich unsere Gesellschaften damals an der »Schwelle zum autoritären Jahrhundert« (Dahrendorf 1997a, S. 14f.).

Dahrendorfs Argumentation basierte vor allem auf dem Zusammenhang zwischen 1.) ökonomischer Globalisierung, 2.) sozialem Zusammenhalt und 3.) Demokratie. Gerade die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bereitete Dahrendorf Sorgen: »Globalisierung bedeutet, daß Konkurrenz groß- und Solidarität kleingeschrieben wird« (ebd.). Und ein paar Absätze weiter:

 

Es ist schwer zu sagen, an welchem Punkt Ungleichheiten, insbesondere des Einkommens, Solidarität in einer Gesellschaft zerstören. Sicher aber ist, daß keine Gesellschaft es sich ungestraft leisten kann, eine beträchtliche Zahl von Menschen auszuschließen. In modernen Staatsbürgergesellschaften bedeutet solcher Ausschluß die praktizierte Leugnung von sozialen Grundwerten. Das heißt aber, daß solche Gesellschaft nicht mehr überzeugend verlangen kann, daß ihre Mitglieder sich an die Regeln von Recht und Ordnung halten. Die Beeinträchtigung von Recht und Ordnung ist also eine Folge der 19Tatsache, daß die Mehrheit eine Minderheit verdrängt und vergißt (ebd.).

 

Daraus zieht Dahrendorf den Schluss, dass die »Globalisierung und ihre sozialen Folgen eher autoritären als demokratischen Verfassungen Vorschub leisten würden. […] Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert« (ebd.; Hervorhebung W. ‌H.).

Und tatsächlich: Schon wenig später, spätestens mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts und den Anschlägen von New York und Washington am 11. September 2001 als Signalereignis, standen Entwicklungen an, mit denen die Religion durchschlagend auf die Weltbühne zurückkehrte: »Die bittere Ironie besteht darin, dass die seinerzeit skizzierten Globalisierungsrisiken in den Folgejahren allesamt real wurden […], man aber dennoch politisch nicht darauf vorbereitet war« (Geiselberger 2017, S. 11).

Die Entwicklung ist nicht abgeschlossen, ja: Es steht zu befürchten, dass der Autoritarismus sich weiter ausbreitet, zumindest wenn man die beschleunigte ökonomische Globalisierung betrachtet, die durch die Gesellschaften fegt — und dabei sowohl ökonomische Integration als auch soziale Desintegration erzeugt hat und diese auch weiterhin verstärkt: »soziale Desintegration als Preis der wirtschaftlichen Integration« (Rodrik 2000, S. 87).

Warum geht eine Deregulierung im ökonomischen System mit autoritären Entwicklungen von gesellschaftlichen und politischen Systemen einher? Ist etwa die Entwicklung eines autoritären globalisierten Kapitalismus mit seinen großen (oft verdeckten) Kontrollgewinnen über Produktionsstandorte, Lohnniveaus, Arbeitsbedingungen gegenüber national20staatlichen Politiken geradezu eine »Blaupause« für autoritäre gesellschaftliche Entwicklungen mit entsprechenden Kontroll-, Desintegrations- und Ausschließungspraktiken?

Das sind zentrale Fragen dieses Bandes. Wie kommen heute autoritäre Versuchungen international und auch in Deutschland wieder auf die Tagesordnung? Warum sind solche Versuchungen für die Akteure in den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Einflussbereichen so faszinierend? Wie kommen »neue« oder zeitweilig verdeckte autoritäre Einstellungen in den Bevölkerungen (wieder) an die gesellschaftliche Oberfläche und in die Öffentlichkeit? Wie werden diese Einstellungen politisch gebündelt und normalisiert? Zur Beschreibung und Erklärung dieser autoritären Versuchungen soll die sozialwissenschaftliche Konzeption dieses Bandes einen Beitrag leisten.

Gefühlte oder tatsächliche Bedrohungen können als Kontrollverlust interpretiert werden — ob es nun eine Person ist, die die Kontrolle über ihre Biografie zu verlieren glaubt, oder eine Gesellschaft, der angeblich oder tatsächlich die Kontrolle über die soziale Ordnung entgleitet. In solchen Situationen können Menschen in Versuchung geraten, politische Aktivitäten und Organisationen zu unterstützen, die darauf abzielen, bisher geltende Normen der offenen Gesellschaft und liberalen Demokratie so zu verändern oder gar umzustürzen, dass eine andere soziale und politische Ordnung entsteht. Diese ...

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