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E-Book

Avicenna

AutorGotthard Strohmaier
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783406716744
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Kaum ein anderer nicht-christlicher Denker des Mittelalters ist so sehr Teil der abendländischen Geistesgeschichte geworden wie der persische Muslim Avicenna (um 980-1037). Durch seine Vermittlung gelangten die Werke des Aristoteles wieder nach Westeuropa. Sein enzyklopädisches Hauptwerk 'Buch der Genesung der Seele' hatte prägenden Einfluß auf Albert den Großen und Thomas von Aquin. Gotthard Strohmaier schildert das abenteuerliche Leben Avicennas, gibt eine Einführung in sein Werk auf dem neuesten Stand der Forschung und skizziert Avicennas Bedeutung für das abendländische Denken.

Prof. Dr. phil. Gotthard Strohmaier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am 'Corpus Medicorum Graecorum' der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Professor am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin.

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Leseprobe

II. Ein programmatischer Briefwechsel


Avicennas Ruf als Gelehrter hatte sich früh über seine Heimatstadt hinaus verbreitet, und so erreichte ihn im Jahre 997 oder 998, so jedenfalls nach den Berechnungen Pavel G. Bulgakovs, ein Schreiben aus Kath, der damaligen choresmischen Hauptstadt, betreffend die Aristotelesschrift Über den Himmel und die Physikvorlesung. Die insgesamt achtzehn Fragen mitsamt den Antworten und Gegenantworten sind ein Panoptikum der verschiedensten Probleme und zugleich ein Zeugnis für die quicklebendige und alles andere als unkritische Rezeption der griechischen Wissenschaft. Absender war der schon erwähnte al-Bīrūnī. Bemerkenswert ist, daß Avicenna bereits einen Schüler namens al-Ma‘ṣūmī hat, der die Aufgabe übernahm, al-Bīrūnī noch einmal zu schreiben, weil dieser mit den herablassend formulierten Auskünften des Meisters nicht immer zufrieden war.

Abu r-Raiḥān Muḥammad ibn Aḥmad al-Bīrūnī, den der Wissenschaftshistoriker George Sarton im Rang noch über Avicenna stellt, hat keinen Einfluß auf das Abendland ausgeübt und deshalb auch keinen lateinischen Namen verliehen bekommen. Nicht bereit, den spekulativen Höhenflügen der neuplatonischen Philosophie zu folgen, stand er mit seinen Ansätzen zu einer neuen Physik sowohl der neuzeitlichen Wissenschaft näher wie auch der muslimischen Orthodoxie. Wegen seiner skeptischen Haltung hat er wahrscheinlich seinen Beinamen al-Bīrūnī bekommen, der bisher nicht befriedigend gedeutet wurde. Bīrūnīyūn hießen mit zugehöriger Pluralendung die Pyrrhoneer, die Anhänger des radikalen griechischen Skeptikers Pyrrhon (um 360 – um 270 v. Chr.). Der polemisch veranlagte Arzt Galen, dessen Werke übersetzt vorlagen, verwendete den Namen fast als ein Schimpfwort, und dieser ist wahrscheinlich al-Bīrūnī unter nicht mehr bekannten Umständen als Beiname angehängt worden.

Wir haben in dem Briefwechsel ein Beispiel für eine Kommunikation, wie sie sonst bei räumlicher Nähe mündlich erfolgt wäre. Obwohl schriftlich erhalten, handelt es sich dennoch nicht um einen platonischen Dialog, der von einem Autor stilisiert worden ist. Seine Echtheit zeigt sich auch darin, daß die Kontrahenten zuweilen aneinander vorbeireden. Im folgenden sei die bunte Reihenfolge der Fragen und Antworten in eine andere Ordnung gebracht, die ungefähr der aristotelischen Kosmologie entspricht.

In ihr sind die zwei schweren Elemente Erde und Wasser um den Mittelpunkt der Welt versammelt, wobei die schwerere Erde das Wasser nach oben drückt, das sie darum kugelförmig umgibt, freilich nicht gleichmäßig, denn die bewohnten Länder ragen daraus hervor, und daran knüpft al-Bīrūnīs vierte Frage zur Physikvorlesung an: „Warum ist ein Viertel der Erde der menschlichen Besiedelung gewürdigt worden, unter Ausschluß des anderen nördlichen Viertels und der beiden südlichen Viertel, die doch ebenso zu beurteilen sind wie die beiden nördlichen?“ Nach der Auffassung der antiken Geographen ragt der eurasiatische Kontinent zusammen mit Afrika, dessen Ausdehnung nach Süden unklar war, als einzige Landmasse über die mit Wasser bedeckte Oberfläche der Erdkugel heraus. Ihn meint er mit dem einen der nördlichen Viertel. Der junge Avicenna zeigt sich hier überfordert. Er sieht den Grund für die ungleiche Verteilung einmal in der Existenz der Meere, was auf eine Tautologie hinausläuft, und in extremen klimatischen Bedingungen, z.B. der Hitze, die nach seiner Meinung durch eine lange Sonnenscheindauer an den Polen verursacht wird, was falsch ist und nicht zum Thema gehört. Al-Bīrūnī hält ihm entgegen, daß die Polarnacht ebenso lange dauert und empfiehlt ihm, seine Gedanken durch Zeichnungen zu verdeutlichen. Später hat al-Bīrūnī in seiner Geodäsie das teilweise Herausragen des Erdreichs ganz schlicht und im Geiste des Korans mit der göttlichen Fürsorge erklärt, die für den Menschen eine feste Heimstatt schaffen wollte. Bei Avicenna, und das kann hier vorweggenommen werden, finden sich keine derartigen Versuche, die Allmacht des Schöpfers als Lückenbüßer zu bemühen. Sie haben in der Wissenschaftsgeschichte manchmal eine durchaus positive und befreiende Rolle gespielt.

Die beiden leichten Elemente Luft und Feuer streben nach Aristoteles vom Weltmittelpunkt weg und werden an der undurchlässigen Mondsphäre zurückgehalten, wobei das leichtere Feuer die Luft nach unten drückt. Als zweite Frage zur Physikvorlesung äußert al-Bīrūnī einen Gedanken, den um das Jahr 500 schon Johannes Philoponus, ein christlicher Professor der alexandrinischen Schule, gefaßt hatte. Wie wäre es, wenn Luft und Feuer auch eine Schwere aufweisen, also auch dem Mittelpunkt zustreben und nur von den schwereren Elementen verdrängt und nach oben gedrückt werden? Al-Bīrūnī demonstriert dies an einem Experiment. Wenn man bei einem doppelhalsigen und mit Wasser gefüllten Gefäß durch den einen Hals Steinchen hineinwirft, steigt es in dem anderen hoch. Avicenna aber verteidigt als strenger Aristoteliker den absoluten Gegensatz von leicht und schwer.

Aufs Glatteis gerät Avicenna, als ihm al-Bīrūnī zur Physikvorlesung die siebente Frage vorlegt: „Wenn sich die Körper durch die Wärme ausdehnen und durch die Kälte zusammenziehen und deswegen die Parfümflaschen und Lampen und andere Gegenstände zerspringen, warum zerspringt und zerbricht dann ein Gefäß, wenn in ihm Wasser gefriert?“ Obwohl Minusgrade in Buchara keine Seltenheit sind, hatte Avicenna offenbar keine Gelegenheit gehabt, den Vorgang selbst zu beobachten. So doziert er, daß sich das Wasser beim Gefrieren zusammenzieht, wodurch sich beinahe ein Vakuum bilden würde. Da es dieses aber nach aristotelischer Doktrin nicht geben kann, zerbricht das Gefäß. Damit verschafft er al-Bīrūnī einen billigen Triumph, der darauf hinweisen kann, daß die Wand nicht nach innen, sondern nach außen gedrückt wird. Das Problem bleibt ungelöst.

Verwandt ist die achte Frage zur Physikvorlesung, warum das Eis auf dem Wasser schwimmt, obwohl es eine feste, erdhafte Form hat. Avicenna erklärt es mit der Luft, die in den Poren eingeschlossen ist, weswegen es auch leicht zu zertrümmern ist.

Aristoteles hatte die Möglichkeit vorausgesetzt, daß die vier Elemente nicht völlig stabil sind, sondern sich unter bestimmten Bedingungen ineinander verwandeln können. In der zehnten Frage zur Schrift Über den Himmel berührt al-Bīrūnī das Problem, ob das Wasser beim Verdampfen zu richtiger Luft wird oder ob sich seine Teilchen nur so zerstreuen, daß sie unsichtbar werden; denn „würde das Wasser richtige Luft werden, so würde es sich beim Verdichten nicht in Wasser zurückverwandeln, und also ist es gar keine Luft gewesen.“ Al-Bīrūnī hat später in seiner Mineralogie ergänzend auf den analogen Umstand verwiesen, daß sich Quecksilberdampf in richtiges Quecksilber zurückverwandelt. Avicenna aber beharrt darauf, daß das Wasser zu richtiger Luft wird und kann zum Beweis sogar zwei eigene Experimente anführen. Das eine Mal wurde eine mit Wasser gefüllte und verstöpselte Flasche erhitzt. In dem geschlossenen Behältnis war nach seiner Meinung eine Zerstreuung der Teilchen nicht möglich; das Zerplatzen zeigte vielmehr, daß eine neue Form da war, die mehr Platz brauchte. In dem zweiten Versuch wurde eine solche Flasche in einen Ofen gelegt. Den Erfolg beschreibt Avicenna so: „Es dauerte nicht lange, bis sie zerplatzte und ihr ganzer Inhalt als Feuer herauskam.“ Das heißt, daß die Verwandlung gleich bis zum vierten Element des Feuers weiterging. Hierzu fällt al-Bīrūnī nur die gequälte Auskunft ein, daß Feuerteilchen durch unsichtbare Poren in die Flasche hineingekommen sein müssen. Daneben stellt er die listige Frage, wohin sich das verwandelte Wasser ausdehnen soll, wenn es in der Welt laut Aristoteles überhaupt kein Vakuum gibt. Hierzu spricht der Schüler al-Ma‘ṣūmī ein klärendes Wort, indem er es für möglich hält, daß die Umgebung entsprechend der Ausdehnung zusammengedrückt wird. Damit hat er aber noch keinen Begriff der Volumenelastizität gewonnen. Er bringt als Beispiel den Dampf, der an der Decke des Badehauses kondensiert, weil er nach seiner Meinung von dem von unten aufsteigenden Dampf zusammengedrückt wird.

In der sechsten Frage zur Physikvorlesung plädiert al-Bīrūnī für die Existenz des Vakuums mit folgendem Experiment. Wenn man aus einer Flasche Luft aussaugt und dann den Hals ganz schnell ins Wasser steckt, wird es ein wenig hineingezogen. Avicenna deutet den Vorgang so, daß durch die Saugbewegungen die Luft in der Flasche erwärmt wird, sich dabei ausdehnt und so herauskommt. Bei der Berührung mit dem kalten Wasser ziehe sie sich wieder zusammen, und das Wasser folge ihr in den Flaschenhals hinein. Zwei weitere Experimente mit der Flasche, die Avicenna für parallele Vorgänge hält,...

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