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Begutachtung somatoformer Störungen und chronifizierter Schmerzen

Konzepte - Methoden - Beispiele

AutorRalf Dohrenbusch
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl402 Seiten
ISBN9783170295452
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis49,99 EUR
Die Begutachtung von Personen mit somatoformen Störungen oder chronifizierten Schmerzen erfordert medizinisches, klinisch-psychologisches, psychodiagnostisches und rechtliches Wissen. Dies gilt umso mehr, als körperliche Dysfunktionen, Antwortmotive, Krankheitsverhalten und Arbeitsfähigkeit in der Praxis oft miteinander verknüpft und daher schwierig zu beurteilen sind. Insbesondere bei Auseinandersetzungen zu Fragen der Behinderung und der Erwerbsunfähigkeit sind fachübergreifende Kenntnisse für Sachverständige daher unverzichtbar. Dieses Buch vermittelt Basiswissen zur Begutachtung somatoform gestörter Personen. Es gibt Anregungen zur Planung und Durchführung gutachterlicher Untersuchungen, zur Beantwortung sozialrechtlicher Beweisfragen und zur Abfassung der Gutachten. Vertieft werden Fragen der Bewertung motivationaler Einflüsse, und anhand von Fallbeispielen werden die dargestellten Empfehlungen und Heuristiken veranschaulicht.

PD Dr. Ralf Dohrenbusch ist Mitarbeiter des Instituts für Psychologie der Universität Bonn und seit Jahren als psychologischer Sachverständiger tätig.

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Leseprobe

1 Begutachtung somatoformer Störungen und chronifizierter Schmerzen – eine Einführung


1.1 Somatoforme Störungen und chronifizierte Schmerzen als Verhaltensstörungen


Als „somatoforme Störungen“ werden Beschwerdebilder bezeichnet, deren gemeinsames Merkmal „die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome ist, die in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen auftritt trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind“ (Weltgesundheitsorganisation, 1993). Somatoforme Störungen sind demnach primär durch ein Verhalten bestimmt, genauer: durch die fortgesetzte Suche nach medizinischer Hilfe und die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Das Verhalten wird über Monate oder Jahre aufrechterhalten, auch wenn es offensichtlich nicht zur Lösung der gesundheitlichen Probleme führt. Körperlich krank oder körperlich behandlungsbedürftig sind die Betroffenen in der Regel nicht, und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person mit einer somatoformen Störung eine zusätzliche körperliche Erkrankung entwickelt, ist genauso groß wie bei jeder anderen Person der entsprechenden Altersgruppe.

Nach den ICD-10-Kriterien stellen sich somatoforme Störungen als Verhaltensweisen dar, die zumindest teilweise erst durch den Dialog zwischen Arzt1 und Patient ausgelöst und aufrechterhalten werden. Einerseits sind die Betroffenen offensichtlich nicht in der Lage, die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchungen oder deren Konsequenzen zu akzeptieren. Andererseits scheinen auch gängige diagnostische und therapeutische Abläufe im Gesundheitswesen dazu beizutragen, dass sich Verhaltensmuster fortgesetzten Klagens oder dauerhaft intensiver Inanspruchnahme bei manchen Patienten entwickeln können. Die wiederholte Untersuchung möglicher körperlicher Ursachen, der fortgesetzte Dialog über körperliche Beschwerden, die Vernachlässigung psychosozialer Einflüsse und die einseitige Ausrichtung an medikamentösen oder anderen passiven Therapieformen können zur Medikalisierung des Verhaltensproblems beitragen. Im ungünstigen Fall können sich so aus dem Leiden an alltäglichen körperlichen Beschwerden in Verbindung mit körperbezogenen Ängsten oder Funktionseinschränkungen krankheitswertige Störungen entwickeln. „Chronifiziert“ sind die Beschwerden dann, wenn sich das Beschwerde- und Inanspruchnahmeverhalten dauerhaft verselbstständigt hat und weitgehend unabhängig von äußeren und inneren Einflüssen persistiert.

Eine besondere Bedeutung haben dabei Klagen über Schmerzen, weil Schmerzen die vermutlich häufigste Legitimation für die Inanspruchnahme von Ärzten sind. Ein Patient, der über Schmerzen klagt, kann davon ausgehen, dass der behandelnde Arzt sein Problem ernst nehmen und nach Erklärungen dafür suchen wird. Schmerzen stehen wie kein anderes Symptom als Inbegriff für Leiden und lösen wie vermutlich keine anderen Beschwerden diagnostische und therapeutische Bemühungen aus. Klagen über Schmerzen sind aber nicht nur ein zentrales Signal zur Verhaltens- und Leistungssteuerung im Gesundheitssystem, sie regulieren auch die Schnittstelle von Krankenversorgung und Arbeitsfähigkeit. Wer dauerhaft über Schmerzen klagt, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit am Arbeitsplatz oder in Form von Versicherungs- oder Rentenleistungen entlastet oder als arbeitsunfähig angesehen.

Das enorme Gewicht, das Klagen über Schmerzen im Gesundheitswesen, aber auch bei der Beurteilung eingeschränkter Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zukommt, ergibt sich vor allem aus ihrer Häufigkeit. Insbesondere muskuloskeletale Schmerzen und Kopfschmerzen sind weit verbreitet, sowohl im klinisch-therapeutischen Setting, als auch im arbeitsmedizinischen und sozialrechtlichen Begutachtungskontext. Viele dauerhaft vorgebrachte Klagen über Schmerzen können nur teilweise oder auch gar nicht durch körperliche Schädigungen erklärt werden. Insbesondere chronische, nicht entzündliche muskuloskeletale Schmerzen, die mit vermehrter Inanspruchnahme medizinischer Einrichtungen einhergehen, sowie körperlich nicht hinreichend erklärbar generalisierte Schmerzen (Blumenstil, Bieber & Eich, 2004) sind häufig als „somatoforme“ Beschwerden zutreffend bezeichnet. Etwa 90 % aller diagnostizierten Rückenschmerzen müssen nach Angaben von Fordyce (1995) als unspezifische Rückenschmerzen angesehen werden, die durch die erhobenen körperlichen Befunde nicht oder nicht hinreichend erklärt werden können. Pfingsten und Hildebrandt (2004) führen in Bezug auf chronische Rückenschmerzen aus, dass die durch komplexe muskuläre Dysbalancen, Fehlinnervationen oder segmentale Instabilität verursachten, nicht radikulären Schmerzen in der medizinischen Praxis „wesentlich häufiger“ zu finden seien als durch Bandscheibenvorfälle oder Stenosen relativ eindeutig erklärbare radikuläre Schmerzen. Bereits 1994 fassten Nilges und Gerbershagen die Situation wie folgt treffend zusammen: „Somatischer Befund und Befinden hängen bei Schmerz weniger eindeutig zusammen, als nach unserer Alltagserfahrung zu erwarten wäre. Gründe dafür sind u. a. die geringe Reliabilität und Validität verbreiteter medizinischer Verfahren zur Befunderhebung (…). Übersehen wird weiterhin die hohe Prävalenz ‚unauffälliger‘ Befunde bei völlig gesunden Personen. Für die wichtigsten und häufigsten chronischen Schmerzformen sind zudem die somatischen Ursachen weitgehend unbekannt. Viele Studien belegen dagegen, dass psychosoziale Faktoren (…) weitreichende Bedeutung für das Ausmaß von Schmerzen und Beeinträchtigungen haben“ (S. 24).

Die genannten Verweise und Zitate mögen an dieser Stelle als Belege dafür ausreichen, dass chronifizierte und nicht hinreichend durch körperliche Schäden erklärbare Beschwerden und Schmerzen im klinisch-therapeutischen wie auch im sozialmedizinischen Setting häufig anzutreffen sind. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass die Grenzen zwischen somatoformen Beschwerden, somatoformen Störungen und körperlichen Erkrankungen in der Praxis fließend und nicht immer eindeutig bestimmt sind. Somatoforme Störungen und chronifizierte Schmerzen sind gleichermaßen durch Klagen über nicht hinreichend körperlich begründbare Beschwerden und Beeinträchtigungen sowie durch die vermehrte Inanspruchnahme medizinischer Hilfen gekennzeichnet. Es erscheint daher sinnvoll, diese Personen als eine in Bezug auf begutachtungsrelevante Merkmale eher einheitliche Gruppe mit überwiegend verhaltensbezogenen Problemen anzusehen, die – nach Ausschluss körperlicher Beschwerdeursachen – primär nach funktions- und verhaltensbezogenen Kriterien zu bewerten sind.

Insgesamt machen somatoforme Störungen im engeren Sinne zwar nur einen begrenzten Teil aller psychischen Störungen aus. Der Umfang an somatoformen Beschwerden und insbesondere Schmerzen, die nur unzureichend durch körperliche Schäden erklärt werden können und mit fortgesetztem Inanspruchnahmeverhalten einhergehen, ist aber sowohl im therapeutischen als auch im sozialrechtlichen Begutachtungskontext, in dem es um Fragen der Funktions- oder Erwerbsminderung oder der Berentung geht, erheblich. Im Begutachtungskontext lösen somatoforme Beschwerden sowohl aufgrund ihrer Häufigkeit, als auch aufgrund der Tatsache, dass Ärzte und Betroffene nicht selten zu unterschiedlichen Bewertungen der noch vorhandenen Funktions- und Arbeitsfähigkeit gelangen, zusätzlichen Begutachtungsbedarf aus. Die folgenden Zahlen zeigen, dass die durch somatoforme Beschwerden und Störungen und chronifiziertes Krankheitsverhalten verursachten Probleme keineswegs so gering zu veranschlagen sind, wie dies aufgrund der vergleichsweise geringen Prävalenzrate für somatoforme Störungen zu erwarten ist. Sie lassen auch erahnen, welche Bedeutung die Begutachtung von Personen mit somatoformen Beschwerden und intensiviertem Krankheitsverhalten für die Kranken-, Sozial- und Rentenversicherungsträger hat.

1.2 Bedarf an Begutachtung


1.2.1 Allgemeiner Begutachtungsbedarf

Bislang liegen konkrete Angaben zum Begutachtungsumfang meines Wissens weder generell noch für einzelne Störungsbilder oder Auftraggeber vor. Daher kann der Begutachtungsbedarf nur aus den beantragten und erbrachten Behandlungs- und Versicherungsleistungen geschätzt werden. Begutachtungsbedarf entsteht dann, wenn Entscheidungen zur Behandlung, zu den Folgen von Schädigungen oder Unfallereignissen, zu Auswirkungen von Erkrankungen (z. B. auf die Erwerbsfähigkeit) oder zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu treffen sind. Je mehr Rehabilitationsleistungen zu begründen und zu bewerten sind, je mehr Renten- oder Erwerbsminderungsanträge oder Anträge auf andere Sozialleistungen aufgrund körperlicher oder psychischer Beeinträchtigungen oder aufgrund von Unfallfolgen gestellt werden, umso höher ist insgesamt der Begutachtungsbedarf zu veranschlagen.

Laut VDR-Statistik wurden in der Bundesrepublik im Jahr 2002 aufgrund voller Erwerbsminderung ca. 320 000 und wegen teilweiser Erwerbsminderung ca. 50 000 Rentenanträge gestellt. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum erhielten ca. 330 000 Personen erstmalig die Regelaltersrente. Die Zahl der Anträge wegen Schwerbehinderung lag also noch über der Zahl der normalen Altersrenten. Die gesetzlichen Rentenzahlungen aufgrund von Erwerbsminderung und Frühberentung von Arbeitnehmern im Rahmen des Schwerbehindertenrechts beliefen sich in dieser Zeit auf ca. 13,5 Mrd. Euro.

Bei der Kalkulation des Begutachtungsbedarfs ist zu berücksichtigen, dass dieser nicht nur von der Anzahl der Versorgungs- und Rentenanträge abhängt, sondern auch von der Anzahl wiederholter Begutachtungen. Bei längeren Konflikten zwischen...

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