Ein geschenktes Leben
Ich betrete das Wartezimmer der radiologischen Praxis mit gemischten Gefühlen. Einerseits bin ich spät dran, habe gerade wieder mal viel zu viel zu tun und daher eigentlich überhaupt keine Zeit für diesen Ausflug. Andererseits ist genau das wohl Teil des Problems, das mich hierhin geführt hat. Denn ich höre Töne. Töne, die ich eigentlich nicht hören sollte. Ein Piepen, um genau zu sein. Mit Verdacht auf Tinnitus hat mich mein HNO-Arzt daraufhin zum Radiologen geschickt. Und hier sitze ich jetzt und warte auf das Ergebnis der vorangegangenen Untersuchungen. Mit mir im Wartezimmer sitzt nur eine weitere Person. Schon mal gut, denke ich. Komme ich schneller dran. Ich schlage eine Reisereportage über Mauritius auf und richte mich auf eine kurze Wartezeit ein. Über den ersten Satz komme ich allerdings nicht hinaus. Denn der Fuß des Mannes, der mir gegenüber sitzt, trommelt jetzt rhythmisch gegen das Stuhlbein. Aus den Augenwinkeln schaue ich ihn mir genauer an. Er trägt Anzug und ist ganz offensichtlich angespannt. Nervös wippt sein Knie auf und ab, und seine Hände finden keinen Platz, auf dem sie länger als ein paar Sekunden verweilen können.
Dann öffnet sich die Tür zum Zimmer der Ärztin. Eine Frau mittleren Alters kommt heraus. Ich schätze sie auf Anfang vierzig und ihr Hosenanzug verrät, dass auch sie ihren Termin hier während der Arbeitszeit wahrnimmt. Ich weiß nicht, woran ich es festmachen soll, aber in ihrem Gesicht steht unübersehbar geschrieben, dass sie gerade nicht die Nachricht erhalten hat, die sie sich erhofft hatte. Ich schaue schnell weg und versuche, mich wieder auf den Artikel zu konzentrieren. Der Mann im Anzug ist der Nächste. Die Tür schließt sich hinter ihm, und ich bin jetzt der Einzige im Wartezimmer. Die Reportage schlage ich wieder zu und hänge meinen Gedanken nach. Ich frage mich, was die Frau vorhin wohl so mitgenommen hat. Ich weiß, dass Radiologen auch beim Verdacht auf Krebs zurate gezogen werden. Oder eben nach dessen Therapie, um zu beobachten, ob ein Tumor zurückgekehrt ist oder nicht.
Erinnerungen an Menschen in meinem Umfeld kommen hoch. An die bange Zeit nach dem Krebs und die Angst, er könnte wiederkommen. Plötzlich beschleicht mich die Angst, die jeder kennt, wenn er an das Thema denkt. Man schiebt es beiseite, denkt möglichst nicht darüber nach. Dennoch bleibt da diese Gewissheit, dass es eigentlich jeden treffen kann. Jederzeit. Was, frage ich mich, wenn die Ärztin bei den Aufnahmen meines Kopfes etwas findet, das da nicht hingehört? »Unsinn«, rede ich mir schnell ein. »Ich bin wegen was ganz anderem hier. Also entspann dich jetzt bitte mal«, versuche ich mich zu beruhigen. Das klappt dann auch so halb, und ich lese den ersten Satz der Reportage nun gefühlt zum achten Mal. Nach einer Weile öffnet sich die Tür zum Arztzimmer erneut. Der Mann im Anzug erscheint darin. Ich schaue ganz bewusst nicht hin. Will gar nicht wissen, was mir sein Gesicht zu sagen hätte. Aber seine Körperhaltung macht das Gewicht auf seinen Schultern sichtbar. »Scheiße«, denke ich und will eigentlich nur noch weg hier.
Dann wird mein Name aufgerufen. Ich betrete das Zimmer der Ärztin und nehme vor dem großen antiken Holzschreibtisch Platz. Die Ärztin hat auch schon die Bilder meiner Untersuchung in der Hand und heftet sie an die von hinten beleuchtete Wandvorrichtung. Ich versteife mich in meinem Stuhl, als das Innere meines Kopfes in Grün-Grau-Tönen vor mir erscheint. Ich versuche, ihr Gesicht zu deuten, während sie mein Gehirn Windung um Windung zu analysieren scheint. Nach scheinbar unendlichen Minuten dreht sie sich wieder zu mir um und – lächelt. »Ein wunderschönes Gehirn. Alles in Ordnung«, verkündet sie. Und mehr zu sich selbst fügt sie noch hinzu: »Endlich kann ich heute jemandem mal eine gute Nachricht geben.«
Auf dem Parkplatz vor der Praxis schließe ich die Tür meines Autos auf und habe exakt zwei Gedanken: Erstens: »Das war gerade das seltsamste Kompliment, das mir je gemacht wurde.« Und zweitens: »Ich bin gesund!« Ich setze mich ins Auto, stecke den Zündschlüssel ins Schloss, drehe ihn aber noch nicht um. Stattdessen blicke ich auf die Straße vor mir. Die Sonne scheint. Es ist ein richtig schöner Frühlingstag. Ist mir heute Morgen irgendwie gar nicht aufgefallen. Ich beobachte die Menschen hinter der Windschutzscheibe bei dem, was man Alltag nennt: Hemden in die Reinigung bringen, den Hund ausführen, mit dem Nachbarn reden oder einfach darauf warten, dass die Ampel von Rot auf Grün springt. Nichts Besonderes. Eigentlich. Aber für mich ist die ganze Welt plötzlich unendlich schön. In diesem Moment empfinde ich den Tag, ja mein ganzes Leben, als das beste Geschenk, das man mir jemals gemacht hat. Und irgendwie fühlt es sich so an, als hätte ich es eben erst erhalten. Als ich den Motor schließlich starte, hänge ich immer noch meinen Gedanken nach: Vielleicht müssen wir erst glauben, etwas für immer zu verlieren, bis wir merken, wie sehr wir eigentlich daran hängen.
Große Hoffnungen, gebrochene Versprechen
An diesem Tag gab ich mir selber ein Versprechen: Ich will meine Zeit nie mehr verschwenden. Will nur noch das tun, was mir wirklich wichtig ist. Was Bedeutung hat. Und Sinn. Gemeinsam mit den Menschen, die ich gerne um mich herum habe. Und ich werde zur Tat schreiten. Als Erstes kündige ich den ungeliebten Job, der mir dieses nervige Piepen im Ohr erst eingebrockt hat. Schon seit Jahren will ich eigentlich raus aus dem Trott: tägliches Pendeln, verspätete Züge, unbezahlte Überstunden und Kunden, die ihre schlechte Laune scheinbar am liebsten an mir auslassen. Bisher fehlte mir der Mut dazu und insgeheim verachtete ich mich sogar dafür, den Absprung nicht zu schaffen. Bis zu jenem Vormittag. Als ich an diesem Tag nach Hause fuhr, war ich mir so sicher wie niemals zuvor, dass ich mein Leben dieses Mal endgültig ändern werde. »Ich hab’s kapiert, liebes Schicksal«, dachte ich stolz. »Von nun an, wird sich alles ändern. Von nun an werde ich wahrhaftiger leben, authentisch und ohne Kompromisse.« Doch nichts von dem wurde wahr.
So intensiv das Gefühl und so sicher ich mir meines selbst gegebenen Versprechens an diesem Morgen auch war, schon eine Woche später war alles wieder beim Alten. Ich habe nichts von dem umgesetzt, was ich mir hoch und heilig geschworen hatte. Nichts. Mein Ziel lag vor mir wie ein großer, unglaublich schöner Berg: Ich wusste, ich wollte unbedingt da rauf, aber ich hatte keine Ahnung wie. Ich habe zwei weitere Jahre gebraucht, um meinen ungeliebten Job schließlich zu kündigen und von da an meinen eigenen Weg zu gehen. Das alles ist nun sieben Jahre her. Den Berg, vor dem ich damals stand, habe ich bezwungen – und auf ihn folgten noch einige weitere. Und mit jedem Gipfel wurde es leichter. Das Problem beim ersten Mal ist, dass man niemanden hat, der einem dabei hilft. Der warnt: »Vorsicht Gefahr«. Der antreibt: »Komm, das schaffst du!« Und der zeigt, wie man die Leichtigkeit, den Spaß und den Sinn unterwegs nicht aus den Augen verliert. Einfach jemanden, der sich auskennt am Berg und der weiß, wie man sicher hoch und auf der anderen Seite wieder runterkommt. Dieser jemand bin heute ich. Als Coach und Unternehmer helfe ich Menschen dabei, solche Versprechen, wie ich sie mir einst selbst gegeben habe, einzuhalten.
Der Auslöser, der hinter so einem Kurswechsel steht, ist oftmals ein schwerer Schicksalsschlag – Krankheit, Trennung, Tod. Im Angesicht solcher Ereignisse beginnen viele Menschen, ihr Leben erstmals zu hinterfragen und dann radikal ändern zu wollen. Mit der Erfahrung meines eigenen gebrochenen Versprechens weiß ich aber auch, dass viele von ihnen scheitern werden. Und das ist nur zutiefst menschlich und etwas, das wohl jeder kennt: Man nimmt sich etwas ganz fest vor, schmiedet Pläne und malt sich in Gedanken aus, wie es sein wird – und dann bleibt alles so wie immer. Durch meine Arbeit habe ich viele Menschen getroffen, die Berge versetzen wollten, aber einfach niemals losgegangen sind. Die es einfach nicht schaffen, das umzusetzen, was sie sich erträumen.
Anfangs dachte ich, es läge an mir, und war frustriert. Wenn die Klienten es nicht schafften, dann konnte meine Arbeit ja schließlich nicht so gut sein....