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Bergoglios Liste

Papst Franziskus und die argentinische Militärdiktatur. Eine Geschichte von verschwundenen Menschen und geretteten Leben

AutorNello Scavo
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783451801686
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Als am 24. März 1976 das Militär die Macht übernimmt, beginnen für Argentinien sieben Jahre staatlichen Terrors. Die Armee entführt, foltert und ermordet Zehntausende Menschen. Das Drama trägt den Namen der 'desaparecidos', der Verschwundenen. Zu dieser Zeit, von 1973 bis 1979, ist Pater Jorge Bergoglio Oberer der Jesuiten des Landes. 2010 wird er von einem Tribunal wegen des Verdachts, Mitbrüder nicht ausreichend geschützt zu haben, und wegen seiner Kontakte zu den Generalen verhört. Das Tribunal erkennt seine Unschuld an. Erst Jahre später - aus dem Pater ist inzwischen der Papst geworden - stößt ein Journalist auf eine weitere, bislang unbekannte Seite der Geschichte; Jorge Bergoglio hatte im Untergrund ein Netzwerk zur Fluchthilfe aufgebaut, das viele Menschen rettete. Er selbst hat nie darüber gesprochen. Nun erzählt Nello Scavo diese Geschichte.

Nello Scavo, geb. 1972, ist Reporter der italienischen Zeitung Avvenire. Er hat von den Krisenherden der Erde berichtet und mehrere Auszeichnungen erhalten.

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Leseprobe

VORWORT


»Bergoglio trug dazu bei, den Verfolgten zu helfen«
von Adolfo Pérez Esquivel1

Die Wahl von Papst Franziskus, bis dahin als Jorge Mario Kardinal Bergoglio bekannt, hat in der ganzen Welt und auch in unserem Land für große Überraschung gesorgt. Weniger überraschend war, dass die Spekulationen darüber, was diese Wahl zu bedeuten hat, sich innerhalb kürzester Zeit vervielfachten. Ich für meinen Teil möchte das eine oder andere zu bedenken geben, weil in manchen Medien alte und neue persönliche Meinungen über die Rolle der Kirche während der Diktatur und insbesondere über den neuen Papst diskutiert worden sind.

Ich habe noch nie daran geglaubt, dass die Menschheitsgeschichte vorherbestimmt oder aber das Ergebnis völlig unerwarteter Umstände und Szenarien ist. Es will mir nicht einleuchten, dass die Verhaltensweisen und die Resultate dessen, was die Kirche tut, von vorneherein determiniert sein sollen. Die Optionen, die sich in einer bestimmten historischen Periode herauskristallisieren, werden immer sowohl Berechenbares als auch Ungewisses enthalten. Immer besteht die Möglichkeit, unterwegs Erfolge zu erzielen oder Irrtümer zu begehen. Hier ist niemand unfehlbar – nicht einmal der Papst. Die Herausforderung besteht also darin, einen Prozess zu deuten und abzuwägen, welche Chancen und welche Risiken er möglicherweise enthält.

In welcher Situation befand sich die Kirche vor dem Rücktritt Benedikts XVI.? In den vergangenen Jahrzehnten hatten die führenden Vertreter der Kirche einen großen Teil des mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil begonnenen Weges wieder rückgängig gemacht: Ansätze, die sich, ausgehend von Medellín, Puebla und verschiedenen anderen Konferenzen, in Lateinamerika entwickelt hatten und die Geschichte der Befreiung der Völker als einen Teil der Heilsgeschichte ansahen, waren entschärft worden oder wurden sogar verfolgt. In den Augen vieler Amtsträger stellte die Option für die Armen nicht länger das Zentrum der Theologie dar, sondern war zu einem Ansporn geworden, konservative Laienbewegungen zu fördern, die nicht selten mit einflussreichen Wirtschaftsmächten verbandelt waren; die Befreiungstheologen und andere nachkonziliare Persönlichkeiten verschwanden nach und nach oder landeten sogar direkt auf der Anklagebank, während die Institution sich nach Kräften bemühte, die Lefebvre-Anhänger wieder in die Herde zu integrieren, die allerdings eine Rückkehr zum Konzil forderten – nämlich zum Konzil von Trient!

In einer Kirche, in der im Zuge der von Johannes Paul II. begonnenen und unter Benedikt XVI. konsolidierten konservativen Wende progressive gegen ultrakonservative Bischöfe ausgetauscht und so ganze Episkopate von Grund auf verändert worden waren und deren Glaubwürdigkeit aufgrund der wenig transparenten Geldwirtschaft des Vatikans, der Missbrauchsvorwürfe und des verschleiernden Umgangs mit mutmaßlichen pädophilen Übergriffen von Priestern in eine schwere Krise geraten war, rechnete man mit einer Papstwahl, die die ultramontanen und insbesondere italienischen Entscheidungen der Vergangenheit fortsetzen würde.

In diesem Kontext war die Wahl von Kardinal Bergoglio etwas völlig Neues: Zum ersten Mal legte die Kirche ihren Eurozentrismus ab und öffnete ihren Horizont für Lateinamerika und die anderen Kontinente.

Die ersten Gesten und Verhaltensweisen des neuen Papstes – nicht zuletzt auch die Tatsache, dass er den Namen des Heiligen von Assisi, Franziskus, angenommen hat, der mit seinem hohen Symbolwert sowohl die Option für die Armen als auch ein klares Aktionsprogramm zum Ausdruck bringt – haben einen anderen Raum abgesteckt, als zunächst vermutet. Nur die Zeit wird zeigen, inwieweit Franziskus in der Lage ist, das negative Erbe zu überwinden, das den Vatikan und die Kirche insgesamt beschädigt hat. Wird es der Kirche gelingen, wieder zur Straße des Konzils zurückzufinden, dessen Botschaft auf die heutige Zeit anzuwenden und sie mit neuem Licht und Leben zu erfüllen, indem sie den Glauben an die soziale Gerechtigkeit unter den Völkern als eine echte Alternative verkündigt?

Auch wenn der frühere Kardinal Bergoglio in Fragen der Lehre dem konservativen Flügel der Kirche zugerechnet werden kann, haben wir in den vergangenen Jahren andere Aspekte seines pastoralen Handelns kennengelernt: Er hat sich als ein Hirte profiliert, der sich für die Notleidenden einsetzt; seine Arbeit – nicht nur die pastorale Versorgung der Slums, sondern auch die Unterstützung von Organisationen, die gegen Menschenhandel und Sklavenarbeit kämpfen, die Förderung der von den Arbeitern reaktivierten Unternehmen und die Solidarität mit den Leidenden – kommt den Armen und jenen zugute, die das System aussortiert hat. Das sind die Grundzüge einer Arbeit, die sicherlich Kontinuität stiften und weltweit Nachahmer finden wird.

Die Agenda der Weltkirche hat sich schon jetzt verändert. Die Sehnsucht nach einer armen Kirche, der Einsatz für die Ärmsten … all das ist jetzt keine Nebensache mehr.

Ich habe mich schon mehrfach dahingehend geäußert, dass die argentinische Amtskirche in weiten Teilen Komplizin der Diktatur oder – in manchen Fällen allein aufgrund ihrer Tatenlosigkeit – den historischen Umständen nicht gewachsen gewesen ist. Natürlich darf man hier nichts verallgemeinern und nicht alle über einen Kamm scheren. Manche Bischöfe waren ganz eindeutig Mittäter und haben sogar die Folter gerechtfertigt. Wir kennen ihre Namen und haben dazu beigetragen, sie zu überführen. Andere bezogen nicht wirklich Position und blieben lau in ihren Standpunkten, versuchten aber immerhin im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen, indem sie sich mit Beschwerden bei der Militärjunta für Desaparecidos und Häftlinge einsetzten oder privat Menschen retteten. Schließlich gab es auch Bischöfe wie Justo Oscar Laguna und Jorge Casaretto, der die in der Unidad 9 internierten Priester seiner Diözese besuchte und der auch mich sehen wollte, als ich im Gefängnis saß. Nach hitzigen Diskussionen mit den Militärs gelang es Bischof Laguna schließlich im April 1977, in der Direktion der Bundessicherheitsbehörde ein Treffen mit mir zu arrangieren. Der damalige Provinzial der Gesellschaft Jesu, Pater Jorge Mario Bergoglio, trug dazu bei, dass den Verfolgten geholfen wurde, und setzte sich in jeder Weise dafür ein, dass die Priester seines Ordens, die verschleppt worden waren, freigelassen wurden. Allerdings beteiligte er sich damals, wie ich bereits andernorts erwähnt habe, nicht im Namen der Menschenrechte am Kampf gegen die Militärdiktatur. Das taten andere wie die Bischöfe Jaime de Nevares, Miguel Hesayne, Jorge Novak, Antonio Devoto oder auch Vicente Zazpe, mein Zellengefährte in Ecuador, wo wir gemeinsam mit 17 lateinamerikanischen Bischöfen im Gefängnis von Riobamba festgehalten wurden. Insgesamt aber steht der argentinische Episkopat, obwohl seine Mitglieder inzwischen ausgetauscht worden sind, noch in der Bringschuld, was die Aufdeckung der Wahrheit und das Eintreten für die Gerechtigkeit angeht, die er anerkennen und zu deren Wiederherstellung er beitragen müsste.

Die Begegnung zwischen der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und dem Papst war von großer Bedeutung, weil sie dazu beigetragen hat, die Spannungen der Vergangenheit zu lindern, und, was den Aufbau der »Patria Grande« betrifft, nicht nur Argentinien, sondern allen lateinamerikanischen Regierungen neue Perspektiven eröffnet. Wir können heute auf einen südamerikanischen Papst zählen, der dem Anliegen, den Reichtum der Welt gerechter zu verteilen, größeres Gewicht verleihen kann: damit die Armen die Chance erhalten, alle ihre Rechte wahrzunehmen und so ihre Situation der Armut für immer hinter sich zu lassen.

Bei einem Treffen haben Papst Franziskus und ich über die Menschenrechte diskutiert, und bei dieser Gelegenheit hat er Folgendes gesagt: »Man muss weiter für die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Wiedergutmachung des von den Diktaturen angerichteten Schadens arbeiten.« Das ist ein deutliches Signal an die Adresse derer, die den Zeiten nachtrauern, in denen sie straflos ausgingen. Hoffen wir, dass diese Botschaft sich aufseiten der Kirche in konkreten Taten ausdrückt und sie auf die Wünsche unseres Volkes hört. Außerdem habe ich mit dem Papst von der Hoffnung gesprochen, dass die Kirche vielleicht eines Tages die lateinamerikanische Martyrologie anerkennen wird: die Geschichte jener Ordensleute, Priester und Laien, die im Namen ihres Glaubens und für ihre Völker ihr Leben geopfert haben. Außerdem haben wir über den Fall von Bischof Romero in El Salvador und von Pater Carlos Murias in Argentinien geredet, über ihre Heiligsprechungsprozesse, die im Gang sind und schon bald abgeschlossen werden könnten.

Der Papst hat mir gegenüber seine Sorge um die Armen ausgedrückt und seine Absicht, sich gegen die Geißel der Armut zu engagieren und noch einmal unterstrichen, dass er sich im Sinn der Gleichheit aller Religionen für die Ökumene einsetzen und sich auch mit den Problemen befassen wolle, die unsere Umwelt bedrohen.

Ich habe ihm gesagt, seine Entscheidung für den Namen Franziskus stelle an sich schon eine Herausforderung und gleichzeitig ein Lebensprogramm dar. Und seine konkreten Gesten – dass er eine Messe in einem Jugendgefängnis gefeiert hat, in einem einfachen Zimmer lebt und seinen herrschaftlichen Papstthron gegen einen gewöhnlichen Sessel ohne Sockel ausgetauscht hat – seien noch immer geeignet, mehr als einen im Vatikan zu überraschen, herauszufordern und mit Unbehagen zu erfüllen.

Die Aufgaben, die ihn erwarten, sind zahlreich, ich...

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