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Berührung

Warum wir sie brauchen und wie sie uns heilt

AutorBruno Müller-Oerlinghausen, Gabriele Mariell Kiebgis
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783843717991
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Berührung gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Ein Mangel daran kann nachweislich krank machen. Umgekehrt können Berührungen sowohl bei körperlichen als auch psychischen Erkrankungen therapeutisch eingesetzt werden. Die Haut ist das Organ, an dem unser Selbstbewusstsein, unsere Identität hängt und das über eine eigene Intelligenz verfügt. Wie kommunizieren Haut und Gehirn? Wie entsteht das Wohlgefühl einer sanften Berührung? In der Beantwortung dieser Fragen zeigt sich, wie sehr Berührungen Teil unseres biologischen Urprogramms sind. Sie sind unverzichtbar für den Erhalt unserer Gesundheit und mobilisieren als Lebenselixier unsere Selbstheilungskräfte.Ein informatives Sachbuch, das mit zahlreichen anschaulichen Fallbeispielen, praktischen Übungen und wissenswerten Tipps überzeugt.

Prof. em. Dr.med. Bruno Müller-Oerlinghausen leitete an der Psychiatrischen Klinik der Freien Universität Berlin eine Forschungsgruppe für Klinische Psychopharmakologie. Er ist international anerkannter Experte für Depressionsbehandlung, bei der er körpertherapeutische Methoden eingeführt und wissenschaftlich untersucht hat. Er gehört dem Expertenbeirat für Arzneimittel der Stiftung Warentest an.   

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Leseprobe

Einführung

Der Mensch ist nichts
als ein Bündel von Beziehungen.

Antoine de Saint-Exupéry

Berührung – Kommunikation,
die unter die Haut geht

Der Mensch lebt und definiert sich im Bezug zum anderen, sei er Mensch oder Gott. Seine Grundposition ist exzentrisch, und diese Sicht der menschlichen Existenz bedeutet: Ich bin erst Mensch, wenn ich Du denken und sagen, also kommunizieren kann. Kommunikation zwischen Menschen geht in unserer Kultur vor allem über das Wort. Aber die ältere und immer noch elementare Kommunikationsform ist nicht nur im Tierreich, sondern auch beim Menschen die körperliche Berührung. Berührung umfasst ein breites Spektrum: vom Handschlag zwischen Chef und Mitarbeiter bis zum unendlich langen Kuss zweier Verliebter, vom gemeinschaftlichen Raufen und Kräftemessen, wie es unter Männern auf dem Lande noch üblich ist, bis zur modernen Kuschelparty. Am meisten berühren wir kommunizierend mit unseren Händen. Hier befinden sich unzählige Tastrezeptoren, die sensorische Höchstleistungen vollbringen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was wir so alles bewusst oder unbewusst am Tag berühren und wer uns berührt? Die Haut ist gesellig, sie will aktiv sein und das heißt: Berühren und berühren lassen, auch bis in die Seele hinein.

Kleiner sprachlicher Exkurs: Das Wort »begreifen« zeigt in seinen vielen Abwandlungen deutlich, wie wichtig die Funktion unserer Hände für das Begreifen, das »Erfassen« unserer Welt ist. Erhellend ist in diesem Kontext die Bildlichkeit unserer Sprache, wenn wir z. B. sagen, dass uns ein Vorkommnis oder ein Gedanke besonders ergriffen hat, oder wenn wir von einem begriffsstutzigen Menschen sprechen. Wenn wir jemanden fragen: »Hast du das kapiert?«, nehmen wir ebenfalls Bezug auf ein altes lateinisches Wort, das ursprünglich »fassen, ergreifen« bedeutete. Auch das Wort »berühren« hat nicht nur die Bedeutung des Betastens, sondern auch des seelischen Anrührens. Einen ähnlich weiten Bedeutungshorizont hat auch das englische Wort »to touch«: Es kann sowohl das Berühren eines Gegenstandes oder einer Person meinen, aber es kann auch im Sinne von »zu Tränen rühren« gebraucht werden. Zusätzlich hat es die Bedeutung, in Kontakt mit jemandem zu kommen, was nicht körperlich gemeint ist: »To get into touch with somebody«. Und noch ein sprachlicher Hinweis: Im Hebräischen soll das Wort für gut = thôhb eigentlich »sanft berühren« bedeuten.

Berührung im Alltag

Jeden Tag könnten wir ein ganzes Heft füllen mit dem, was wir von morgens sieben bis nachts um 24:00 Uhr an Berührungen erlebt haben. Zweifelsohne werden wir feststellen, dass wir sehr viel mehr berührt haben, als dass wir berührt wurden.

In den Erzählungen von Maria und Noah, die uns in diesem Buch begleiten, sind viele unserer konkreten Erlebnisse mit Patienten und Klienten eingegangen. Maria, die gerade 32 Jahre wurde, arbeitet als Bibliothekarin in einer großen Gedenkbibliothek. Die geregelte Arbeitszeit lässt ihr Zeit, den gemeinsamen Haushalt zu organisieren. Sie kocht gerne und probiert sich in neuen Gerichten aus. Noah ist nur wenig älter und Assistenzarzt in einer psychiatrischen Universitätsklinik. Dort setzt er sich intensiv für die Einführung einer wissenschaftlich fundierten Spezialambulanz für Körpertherapie ein. 12 Stunden und mehr Klinikalltag und Schichtdienst am Wochenende sind die Regel. Seit Monaten beschäftigte er sich, meist noch bis spät in die Nacht, mit seinem Konzept, das er der Klinikleitung vorschlagen wird. Beobachten wir einen normalen Arbeitsalltag von Noah:

Am Morgen berührt er seinen Wecker, den er ausschaltet, die Seife, die Zahnbürste, seine Kleidungsstücke, die Teetasse, den Hausschlüssel, das Autolenkrad, den Brief, den er noch zur Post bringt. Bis dahin hat er noch keinen Menschen berührt und wurde auch nicht durch einen Menschen berührt. Vielleicht hatte er Glück und Maria war schon auf und schenkte ihm zum Abschied an der Haustür ein Küsschen. In der Klinik angekommen, nickt er allen freundlich zu, gibt seiner Sekretärin vielleicht die Hand. Bei seinen Patienten vermeidet er wegen der derzeitigen Grippesaison die Begrüßung mit Handschlag, oder er desinfiziert seine Hände, wenn es nicht zu vermeiden war. Am frühen Nachmittag macht er mit seinen Studierenden, die keine Ahnung haben, ein Experiment: Im Seminarraum gibt es gut gepolsterte und nicht gepolsterte Stühle. Er nummeriert sie, ohne dass es für andere zu sehen ist. Die Studierenden setzen sich zufällig verteilt auf die einen oder anderen Stühle. Ihnen wird ein moralisch etwas schwieriger Fall vorgestellt. Noah bittet die Teilnehmer, das Verhalten der beteiligten Akteure kritisch zu bewerten. Das Ergebnis entspricht einer wissenschaftlichen Studie aus den USA1: Diejenigen, die hart gesessen hatten, beurteilten die jeweilige Handlungsweise härter und verständnisloser als ihre Kommilitonen auf den Polsterstühlen.

Tag für Tag spielen Berührungen und ihre Auswirkungen auf Gefühle und Entscheidungen eine Rolle. Dabei ist es egal, ob wir sie bewusst oder unbewusst wahrnehmen.

Nach dem Seminar geht Noah noch zu einem befreundeten Arzt. Ihn quälen seit kurzer Zeit stärkere Bauchschmerzen, und da er in einigen Tagen nach New York reisen wird, ist er etwas besorgt. Sein Kollege sitzt nach einer kurzen Begrüßung hinter seinem PC und fragt zuerst, ob schon einmal eine Darmspiegelung durchgeführt wurde. Noah verneint. Bevor ihn der Arzt zur Durchführung dieser Untersuchung anmahnt, beginnt er mit Noah gemeinsam über verschiedene Möglichkeiten als Ursache für seine Schmerzen zu diskutieren. »Vermutlich sind es entzündete Divertikel. Kann man da irgendetwas tun? Vielleicht die Ernährung ändern?« Sein Kollege antwortet: »Nein, eigentlich nicht.« Es entsteht ein kurzes Schweigen, dann sagt er: »Also, geholfen habe ich Ihnen eigentlich nicht«. »Stimmt«, erwidert Noah.

Der Arzt steht auf und meint: »Also, dann machen Sie sich mal frei und legen sich auf die Liege, ich werde Sie untersuchen.« »Endlich«, denkt Noah. 15 Minuten waren schon vergangen, bis er nun endlich die erfahrenen Hände seines Kollegen auf seinem Bauch spürt. Darauf hatte Noah gewartet, denn für ihn hat »behandeln« etwas mit den Händen zu tun. Der Tastbefund war in Ordnung, und Noah verlässt ohne Diagnose die Praxis und ist beruhigt. Der Reise nach New York steht nichts mehr im Wege.

Anschließend trifft er in einem Café einen Freund, mit dem er sich angeregt unterhält. Die Serviererin ist freundlich, und Noah lächelt sie an. Als er später seine Rechnung bei ihr begleicht, sagt sie: »Danke, und kommen Sie mal wieder«, dabei berührt sie ihn ganz leicht an seiner Schulter. Noah fühlt sich plötzlich rundum wohl.

Die Serviererin hat am Monatsende mit diesem Verhalten den Kunden gegenüber mehr Trinkgeld in der Tasche als andere, die ihre Kunden nicht berühren. Man hat dieses Phänomen auch den Midas-Effekt genannt, nach dem König aus der griechischen Sagenwelt, der alles, was er berührte, zu Gold machen konnte2. Diese erstaunlichen Wirkungen von oft ganz zufällig wirkenden Berührungen zwischen zwei Menschen sind inzwischen wissenschaftlich untersucht worden3,4. Kunden in einem Warenhaus sind z. B. eher geneigt, an einer Befragung oder Verkostung teilzunehmen, wenn sie zuvor ganz unauffällig leicht berührt wurden. Auch Busfahrer waren in einer Studie eher bereit, einem Passagier eine Freifahrt zu gewähren, wenn sie von diesem im Gespräch leicht z. B. am Unterarm oder an der Schulter angetippt wurden.

Die Wissenschaftler haben auch herausgefunden, dass die meisten Menschen sechs verschiedene Gefühle aus einer Berührung heraus fühlen können, und zwar mit beachtlicher Genauigkeit: Sympathie, Dankbarkeit, Liebe, Ärger, Furcht und Widerwillen5, 6.

Die Forschung hat sich auch mit den positiven Effekten gegenseitiger Berührung bei Paaren beschäftigt. Ein Klassiker unter den Berührungs-Wissenschaftlern hat postuliert, Berührung und Liebe seien untrennbar!7.

Die leichte Berührung eines Mannes durch eine junge Frau (sie ist eine Komplizin des Experimentators) in einer französischen Bar führt dazu, dass der Mann verstärktes Interesse an ihr zeigt. Er ist z. B. zu einer kleinen Hilfeleistung bereit oder bittet sie um ihre Telefonnummer 8. Umgekehrt macht die leichte Berührung des Unterarms einer Frau durch einen dazu heimlich eingeschleusten jungen Mann in der Bar sie eher geneigt, ihm später ihre Telefonnummer zu geben oder mit ihm einen Slowfox zu tanzen9. Werden Studenten und Studentinnen, die derzeit sich im Zustand romantischer Liebe (das ist eine der wissenschaftlichen Klassifikationen für Zustände der Liebe)10 befinden, befragt, was für sie der wichtigste Faktor für die Aufrechterhaltung ihrer romantischen Verbindung ist, so werden sie an erster Stelle körperliche Berührung, gegenseitige Massagen u.ä nennen11. Welche Bedeutung und Wirkung hat das...

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