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E-Book

Besatzungskinder

Die vergessene Generation nach 1945

AutorSonya Winterberg
VerlagRotbuch Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783867895897
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
2015 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal. Trotz anhaltender Aufarbeitung erfährt ein wichtiges Kapitel der Nachkriegsgeschichte noch immer zu wenig Aufmerksamkeit: das Schicksal der rund 450.000 Besatzungskinder, die nach Kriegsende aus Liebesbeziehungen oder Versorgungspartnerschaften zwischen deutschen Frauen und Besatzungssoldaten oder auch als folge von Vergewaltigungen geboren wurden. Sonya Winterberg legt nun die erste allumfassende Publikation zu diesem Thema vor. Basierend auf Gesprächen mit Zeitzeugen und intensiven Recherchen erläutert sie, wie die Kinder der »Feinde« oftmals ihre Herkunft verschweigen mussten, wie sie diskriminiert, ausgegrenzt und nicht selten misshandelt wurden. Prominente Beispiele wie Fußballtrainer Felix Magath oder Sängerin Marianne Faithfull werden vorgestellt, und auch die Situation der rund 200.000 »Soldatenkinder«, die nach dem Krieg in Österreich geboren wurden, wird durchleuchtet. So entsteht das vielschichtige und detaillierte Porträt einer Generation, deren Schicksal beispielhaft ist für die Nachkriegszeit und den Umgang mit der Vergangenheit.

Sonya Winterberg, geboren 1970, absolvierte ihren Master in European Media an der University of Portsmouth/ UK. Sie lebt und arbeitet nach Stationen in Belgien und den USA als freie Journalistin in Dresden. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Krieg und Trauma. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Drehbuchautor Yury Winterberg, schrieb sie u. a. Kriegskinder. Erinnerungen einer Generation (2009), zuletzt erschienen Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen (2012).

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Leseprobe

Kapitel 1


Vater / Mutter / Kind Drei Schicksale der Besatzungszeit


LOUIS


Es sind die letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs, als der 24-jährige Sanitäter und Medizinstudent Louis Kolokoff aus New York mit seiner Infanterieeinheit Hitlerdeutschland erreicht. Das Land liegt bereits in Trümmern, und wo immer die Amerikaner einmarschieren, werden sie häufig schon sehnsüchtig erwartet. Eigentlich gilt der Befehl, dass die Soldaten nur sehr eingeschränkt mit der Bevölkerung Kontakt haben dürfen. Doch immer wieder kommt es zum freundlichen Austausch der GIs mit den hübschen German Frauleins. Auch die jungen Frauen sind froh, dass die schlimmen Kriegsjahre vorbei sind und mit den Befreiern wieder adrett aussehende Männer auftauchen, die ihnen den Kopf verdrehen – denn viele deutsche Männer sind im Krieg gefallen, in Gefangenschaft geraten oder gelten als vermisst. Und noch etwas haben die Amerikaner im Gepäck: für ein Küsschen oder ein bisschen mehr gibt es für die Fräulein Zigaretten, Schokolade, Kaugummi oder Nylonstrümpfe.

Als die Amerikaner im April 1945 im thüringischen Sonneberg einmarschieren, lernt Louis die etwa gleichaltrige Lilli Bibernell kennen. Er spricht kein Deutsch und sie kein Englisch, aber in ihrer Verliebtheit kommen sie auch ohne viele Worte aus. Lilli stammt aus Breslau und scheint sich allein durchzuschlagen. Wo ihre Familie ist, was sie in Thüringen macht und wie ihre Lebensplanung aussieht, ist für Louis zu diesem Zeitpunkt nicht wichtig.

Die junge Frau hat es ihm angetan, und wäre nicht immer noch Krieg, wäre sie eindeutig seine Traumfrau. Ist es tatsächlich nur Liebe? Die Sehnsucht nach einer heilen Welt? Oder macht sich Lilli Hoffnung auf eine Zukunft in den USA mit dem schmucken Soldaten, den sie liebevoll Lu nennt? Auf jeden Fall ist es den beiden jungen Leuten Ernst, ernster, als es die US-Armee zu diesem Zeitpunkt eigentlich zulässt. Es bleibt nicht bei einer Liebesnacht, und noch bevor Louis’ Einheit weiterzieht, ist Lilli schwanger. Louis bleibt nur ein Bild von seiner feschen Braut, öffentlich darf er die Liaison nicht machen. Und auch Lilli hat ein Foto vom Vater ihres Kindes sowie eine Postfachadresse der amerikanischen Streitkräfte, an die sie mit großer Hingabe Briefe auf Deutsch schreibt und die ein Kamerad für Louis übersetzt. Anfang 1946 kommt Sohn Peter zur Welt. Da ist Louis schon wieder einige Monate zurück in den USA. Gern würde er bei Lilli und dem Kind sein, doch für einen amerikanischen Medizinstudenten ist eine Reise nach Europa zu dieser Zeit ebenso unerschwinglich, wie es aussichtslos ist, die junge Frau mit dem Sohn in die USA zu holen. So bleiben ihm nur ein paar Bilder, die er ein Leben lang in seiner Brieftasche bei sich tragen wird.

Als ich im Frühjahr 2014 für dieses Buch recherchiere, schreibt mir Louis’ Tochter Rachel: »Im April 1990 starb mein Vater im Alter von 68 Jahren an einem Herzinfarkt. Er war leitender Internist an einem Krankenhaus in Chicago geworden, nachdem er aus Europa zurückgekehrt war und sein Medizinstudium beendet hatte. Hier traf er auch meine Mutter Sarah, die er 1952 heiratete. Gemeinsam bekamen die beiden fünf Kinder, meine beiden Brüder David und Mark sowie meine Schwestern Valerie, Lisa und mich. Noch bevor er meine Mutter kennenlernte, hatte mein Vater wohl immer wieder sporadisch brieflichen Kontakt mit Lilli und schickte ihr, wann immer es ihm möglich war, kleinere Summen Geld zur Unterstützung. Auch als er längst verheiratet war, schickte er mit dem Wissen meiner Mutter noch Geld für Peter nach Deutschland. Leider fanden wir nach seinem Tod in seiner Brieftasche bei den Familienfotos von uns nur noch zwei Fotos von Lilli und Peter, ohne weitere Hinweise auf deren Verbleib. Meine Mutter hatte über die Jahre die Geschichte schon ganz vergessen und wir Kinder erfuhren erst da, als Erwachsene, dass wir noch einen Halbbruder in Deutschland hatten. Wir würden Peter gern finden. Ob Sie uns helfen können?«

EVA


Als Eva Hermine von Sacher-Masoch an diesem kühlen Wintertag Anfang 1946 im Wiener Collegium Hungaricum einem Major der britischen Armee die Tür öffnet, ahnt sie nicht, dass der Besucher ihr weiteres Leben entscheidend prägen wird. Dieser ihr unbekannte Mann wird der Vater ihres einzigen Kindes werden, der später als Sängerin weltberühmten Marianne Faithfull.

Eva wohnt seit dem Anschluss Österreichs an Deutschland mit ihren Eltern im Haus der ungarischen Gesandtschaft in der Bankgasse. Sie ist Mitte dreißig und noch ledig, obwohl sie nur wenige Jahre zuvor eine sehr begehrte Frau in der Berliner Gesellschaft gewesen war. Vater Arthur war im Ersten Weltkrieg als Berufsoffizier in der k.u.k. Armee gewesen und hatte sich später der Schriftstellerei zugewandt, wodurch er in die Fußstapfen seines berühmten Onkels Leopold von Sacher-Masoch trat, der 1870 mit seiner Novelle Venus im Pelz zum Namenspatron des »Masochismus« geworden war. Auch Evas zehn Jahre älterer Bruder Alexander widmete sich als Journalist und später als Romanautor dem Schreiben. In den zwanziger Jahren genoss die Familie das schillernde Leben in der Kulturmetropole Berlin. Mutter Flora hatte ihre Tochter schon früh zum Ballettunterricht geschickt. Bereits als Jugendliche trat Eva in die Ballettkompanie von Max Reinhardt am Großen Schauspielhaus in der Friedrichstraße ein. Doch klassisches Ballett genügte ihr bald nicht mehr. In dem literarischen Kabarett Schall und Rauch konnte sie sich künstlerisch austoben. »Es waren aufregende Zeiten«, erinnerte sie sich später. »Auf den großen Bühnen verdienten wir Geld, in Kabaretts und Clubs hatten wir zudem noch unseren Spaß.« Ihre grazilen Spiegeltänze quittierte das Publikum mit Begeisterungsstürmen. Die Männerwelt lag ihr zu Füßen. Aber auch das Verkleiden, das Spielen mit Geschlechterrollen und die Fantasie des Publikums übte eine große Faszination auf sie aus. Dass Berlin in jenen Jahren den Ruf genoss, die aufregendste Stadt der Welt zu sein, lag auch an Künstlerinnen wie Eva. Als sie mit gerade einmal zwanzig, noch nicht volljährig, im internationalen Tanztheater Barberina unter Vertrag genommen wurde, stockte selbst den weltoffenen Eltern ein wenig der Atem. Das Programm war freizügig und eindeutig erotisch.

Doch Evas avantgardistischer Lebensstil findet schon zwei Jahre später mit Hitlers Machtergreifung ein jähes Ende. Kurzzeitig begehrt Eva auf und schließt sich der politisch linken Kabarettgruppe Ping-Pong an. Doch als am 10. Mai 1933 die Nazis auf dem Berliner Opernplatz Bücher verbrennen und Goebbels gegen den »jüdischen Ungeist« wettert, spielt Eva zur selben Zeit in Laufweite an der Volksbühne in dem ganz und gar unpolitischen Musiktheatermärchen Der Bauer als Millionär. Es ist das ernüchternde Ende einer großen Karriere – nie wieder wird sie eine Bühne betreten. Floras Mutter ist Jüdin; 1934 ziehen Eva und die Eltern wegen der zunehmenden Pogromstimmung nach Wien um. Alexander bleibt zunächst in Berlin. Doch weil er den Ariernachweis nicht erbringen kann, wird er aus der Reichsschriftumskammer ausgeschlossen. Er flieht schließlich nach Jugoslawien.

Auch in der Alpenrepublik änderte sich das politische Klima zusehends. Mit dem Anschluss an das Deutsche Reich 1938 galten in Österreich die gleichen Rassengesetze wie in Deutschland. Kurz zuvor war es dem Vater noch über alte Militärverbindungen gelungen, eine Wohnung im Collegium Hungaricum anzumieten. Im selben Haus war die ungarische Botschaft untergebracht und die Familie hoffte, dass sich der diplomatische Schutz auf das gesamte Haus erstrecken würde. Noch schützte die Ehe mit einem Arier Evas Mutter, doch die allgegenwärtige Judenfeindlichkeit änderte Leben und Alltag der Familie auf dramatische Weise. Flora und Eva mussten in ihren Pass den Namenszusatz Sara eintragen lassen, um jederzeit als Juden kenntlich zu sein. Täglich verließen jüdische Nachbarn die Stadt oder wurden abgeholt. Ein furchtbares Leben der Anspannung und des Grauens begann.

Als 1941 die Grenzen für Juden geschlossen wurden, hatte Vater Arthur nur noch ein Ziel: seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter zu retten. In einem illegalen Netzwerk von Kommunisten, Liberalen, Juden und Katholiken wurde Arthur Teil der Widerstandsbewegung. Er war sechzig Jahre alt, als ihn die Gestapo zum ersten Mal zum Verhör abholte. Sein Name war in einem abgefangenen Gefängniskassiber aufgetaucht. Er wusste, dass er seine Familie nur retten konnte, wenn alle schwiegen. Vier weitere Male wurde er in den folgenden Jahren verhört, die Methoden wurden immer härter. Einmal hängten sie ihn an den Händen auf und befragten ihn stundenlang. Doch Arthur ertrug Hohn, Beschimpfungen und schlimmste Schmerzen. Er gab keine Namen preis.

Eines Tages im Jahr 1944 betritt Eva das Wohnzimmer der Familie. Im Bruchteil einer Sekunde erfasst sie die Situation: Mutter Flora steht am offenen Fenster auf dem Sims und schaut in die Tiefe. Geistesgegenwärtig stürzt Eva zur lebensmüden Mutter und klammert sich an ihren Beinen fest: »Mutter dachte, all das, unser armseliges Leben, die...

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