I
Mühsames Beten
Zu viel zu tun
Wir sind keine Kultur, die sich aus ideologischen oder anderen Gründen bewusst gegen die Einsamkeit, die Innerlichkeit und das Gebet entschieden hätte. Und wir sind meines Erachtens auch nicht bösartiger, heidnischer oder spiritualitätsscheuer als die Menschen früherer Epochen. Es ist nicht so sehr unsere Schlechtigkeit, die uns von der Vergangenheit unterscheidet: Es ist unsere Geschäftigkeit. An den meisten Tagen beten wir nicht, weil wir einfach nicht dazu kommen.
Vielleicht lässt sich unser eiliges und zerstreutes Leben am besten mit einer Waschstraße vergleichen. Wenn Sie in eine Waschstraße fahren, dann sagt man Ihnen, dass Sie den Motor laufenlassen, nicht lenken und den Fuß von der Bremse nehmen sollen. Sie müssen nichts tun: Die Waschstraße saugt Sie einfach ein.
Genau dasselbe macht ein typischer Tag mit den meisten von uns: Er saugt uns einfach ein. Smartphones und Radios reizen unsere Sinne, ehe wir überhaupt richtig wach sind. Viele von uns simsen mit Freunden, gehen auf Facebook, checken ihre Mails, sehen Nachrichten und hören Musik oder Talkradio, ehe sie geduscht oder gefrühstückt haben. Der Weg zur Arbeit läuft nach demselben Muster ab: Reizüberflutet und vielbeschäftigt planen wir unseren Tag und telefonieren per Handy, während im Hintergrund das Radio läuft. Und wenn wir abends nach Hause kommen, erwarten uns der Fernseher, Gespräche, Aktivitäten und Programmpunkte aller Art. Dann gehen wir ins Bett, lesen vielleicht oder sehen noch mal ein wenig fern und schlafen schließlich ein. Haben all diese Beschäftigungen uns auch nur einen Moment Zeit gelassen, um nachzudenken, zu beten, zu staunen, zur Ruhe zu kommen und dankbar zu sein: für das Leben, für die Liebe, für die Gesundheit, für Gott? Der Tag hat uns einfach eingesaugt.
Beten ist aber auch deshalb nicht leicht, weil wir so erlebnishungrig sind. Der geistliche Schriftsteller Henri Nouwen trifft den Nagel auf den Kopf: »Ich will ja beten«, hat er einmal gesagt, »aber ich will auch nichts verpassen – Fernsehen, Filme, Treffen mit Freunden, die Welt mit allen Sinnen genießen.« Weil wir keine Erfahrung versäumen wollen, erfordert Beten echte Disziplin. Wenn wir beim Gebet sitzen oder knien, dann darben unsere Sinne und beginnen zu protestieren.
Dabei sehnen sich ironischerweise die meisten von uns nach Einsamkeit. Je hektischer unser Leben und je größer unsere Müdigkeit wird, je häufiger das Thema »Burnout« durch unsere Gespräche geistert, desto öfter phantasieren wir von der Einsamkeit. Wir denken an einen stillen, friedlichen Ort, einen Spaziergang am See, einen Sonnenuntergang oder einen Kamin samt Schaukelstuhl, in dem wir unser Pfeifchen rauchen. Doch selbst diese erträumte Einsamkeit ist oft nur eine andere Art von Aktivität: etwas, das wir tun.
Tatsächlich aber ist die Einsamkeit eher eine bestimmte Einstellung. Einsamkeit heißt, mitten im Leben präsent und aufnahmebereit zu sein. Es heißt, unseren Alltag bewusst zu erleben und ihm somit eine Dimension der Dankbarkeit, Wertschätzung und Freude, des Friedens und des Betens zu verleihen. Es heißt, die Normalität in dem Bewusstsein zu leben, dass das Leben kostbar und heilig ist – und dass es genügt.
Wie kann uns diese Art der Einsamkeit gelingen? Wie bekommen wir das Leben so in den Griff, dass es uns nicht einfach einsaugt? Wie schaffen wir in unserem Leben eine Basis für das Gebet?
Der erste Schritt besteht darin, »im tiefen Wasser zu fischen«, das heißt, sich in die Gegenwart Gottes zu versetzen und ruhig zu werden – in Einsamkeit, Stille und Gebet. Wenn Sie so etwas noch nie gemacht haben, sollten Sie mit 15 Minuten anfangen. Mit der Zeit schaffen Sie vielleicht 30. (Im Anhang finden Sie einige einfache Tipps, die Ihnen helfen können, in Gottes Gegenwart zu verharren.)
Denken Sie daran: Ihr Herz ist dafür geschaffen, in Gott zu ruhen. Wenn der heilige Augustinus Recht hat – und das hat er! –, dann dürfen Sie sich darauf verlassen, dass Ihre Ruhelosigkeit Sie zum tieferen Beten hinführen wird: zu jener Art des Betens, die Sie von innen heraus verwandelt, jener Art des Betens, die Sie nicht mit leeren Händen zurücklässt.
Der Kampf mit der Langeweile
Beten ist ein einziges Auf und Ab. Manchmal laufen wir übers Wasser, wenn wir zu beten versuchen, dann wieder gehen wir unter wie ein Stein. Manchmal sind wir ganz durchdrungen von der Wirklichkeit Gottes, dann wieder können wir uns nicht einmal vorstellen, dass er überhaupt existiert. Manchmal erfasst uns eine tiefe Ahnung von der Güte und Liebe Gottes, dann wieder fühlen wir nichts als Langeweile und Zerfahrenheit. Manchmal füllen sich unsere Augen mit Tränen und wir würden am liebsten immer weiter beten, dann wieder wandert unser Blick verstohlen zur Uhr, um zu sehen, wie lange wir noch durchhalten müssen.
Wir machen uns ein recht naives Bild davon, was Beten heißt und wie wir es darin zu einer gewissen Ausdauer bringen. Dieses Bild stützt sich oft auf die irrige Vorstellung, Beten müsse immer interessant und inbrünstig und reich an spirituellen Einsichten sein – und wir müssten immer spüren, dass wir tatsächlich beten. In den Klassikern der geistlichen Literatur lesen wir, dass dies in den Anfängen unseres Gebetslebens – sozusagen in den Flitterwochen unseres geistlichen Reifeprozesses – zwar durchaus zutreffen mag, jedoch immer weniger gilt, je weiter wir zum eigentlichen Kern des Betens und der Spiritualität vordringen. Das heißt aber nicht, dass unser Beten deswegen schlechter würde. Im Gegenteil.
Vielleicht kann Ihnen ein Vergleich Mut machen, wenn Sie sich das nächste Mal gegen die Langeweile und gegen den Eindruck wehren müssen, Ihre Zeit sinnlos zu vertun:
Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine betagte Mutter, die im Pflegeheim lebt. Weil Sie ein pflichtbewusster Mensch sind, nehmen Sie sich täglich nach der Arbeit eine Stunde Zeit für sie, leisten ihr beim Essen Gesellschaft, unterhalten sich über die Ereignisse des Tages und sind, als Tochter oder Sohn, eben einfach da. Ich bezweifle, dass Sie – von einigen seltenen Gelegenheiten einmal abgesehen – viele zutiefst emotionale oder auch nur interessante Gespräche mit ihr führen werden. Oberflächlich betrachtet sind Ihre Besuche reine Routine. In der Regel sprechen Sie über triviale, alltägliche Dinge. »Den Kindern geht es gut.« »Steve war letzte Woche bei uns.« »Mama, das Essen hier ist wirklich zum Abgewöhnen, wie hältst du das nur aus mit diesem Einheitsbrei?« »Nein, es hat nicht viel geregnet, nur ein paar Tropfen.« Und es ist nur natürlich, dass Sie hin und wieder heimlich auf die Uhr sehen, denn Sie haben viel zu tun, und Ihr eigenes Leben lebt sich auch nicht von allein.
Wenn Sie aber Monat für Monat und Jahr für Jahr an diesen regelmäßigen Besuchen bei Ihrer Mutter festhalten, dann werden Sie sie schließlich besser kennen als jeder andere, und auch sie wird Sie besser kennen als alle Menschen auf der Welt. Das liegt daran, dass die eigentliche Verbindung zwischen uns nicht in unseren belanglosen Gesprächen, sondern auf einer tieferen Beziehungsebene, gleichsam unter der Oberfläche stattfindet. Das bloße Beisammensein macht uns miteinander vertraut.
Mit dem Gebet ist es ganz genauso. Wenn wir treu sind und jahraus, jahrein, täglich beten, dann erwartet uns wenig Aufregendes, jede Menge Langeweile und die immer wiederkehrende Versuchung, auf die Uhr zu sehen. Und doch entsteht dabei eine Bindung, eine Vertrautheit: Unter der Oberfläche wächst eine tiefe Beziehung zwischen uns und unserem Gott.
Falsche Vorstellungen vom Beten
Warum ist es so schwierig, regelmäßig zu beten?
Manche Gründe liegen auf der Hand: Wir sind überarbeitet, müde und haben zu wenig Zeit. Doch einige Leute – Mönche und Menschen, die wir für Mystiker halten – nennen uns darüber hinaus noch andere Ursachen. Die Ausdauer im Beten, so sagen sie, falle uns deshalb so schwer, weil wir uns falsche Vorstellungen machen: Wir glauben, Beten müsse die ganze Zeit über aufregend, intensiv und kraftvoll sein. Genau das aber ist unmöglich! Nichts ist die ganze Zeit über aufregend, nicht einmal das Gebet oder der Gottesdienst, und niemand hat so viel Energie, dass er pausenlos wachsam, aufmerksam, gespannt und aktiv sein könnte.
Wie das Essen sollte sich auch das Beten nach dem natürlichen Rhythmus unserer Energie richten. Wir wissen aus Erfahrung, dass wir nicht immer Lust auf ein Festmahl haben. Wenn wir einmal den Versuch machen und täglich an einer festlichen Tafel speisen würden, dann wäre das Essen schon bald eine lästige Pflicht und jede Ausrede willkommen, um dem zu entgehen, uns davonzustehlen und irgendwo allein ein schnelles Butterbrot zu essen. Unsere Nahrungsaufnahme wahrt ein natürliches Gleichgewicht: Auf das Bankett folgt ein rascher Imbiss, auf das üppige Dinner ein einfaches Abendbrot, auf stundenlange Mahlzeiten ein Snack, den wir gleichsam im Vorbeigehen zu uns nehmen. Ein Fest setzt voraus, dass das Alltägliche die Regel ist. Gesunde Ernährungsgewohnheiten nehmen Rücksicht auf unseren natürlichen Rhythmus: unsere Zeit, Energie, Müdigkeit, die Jahreszeit, die Tageszeit, unseren Geschmack.
Mit dem Beten sollte es genauso sein, doch das wird nur selten beachtet. Zu oft entsteht der Eindruck, dass Beten immer festlich jubilierend, inbrünstig und schwungvoll sein muss. Je vielfältiger, desto besser. Je länger, desto besser. Kein Wunder, dass uns oft die Kraft zum Beten fehlt und wir keine Lust haben, in die Kirche zu gehen!
Die Lösung liegt nicht so sehr in neuen Formen des Gebets und einer größeren Vielfalt, sondern in Rhythmus, Routine und etablierten...