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E-Book

Bilateralismus - was sonst?

Eigenständigkeit trotz Abhängigkeit

AutorGerhard Schwarz, Patrik Schellenbauer
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl344 Seiten
ISBN9783038101680
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,50 EUR
Was haben die bilateralen Verträge der Schweiz tatsächlich gebracht und was nicht? Welche Erwartungen waren überzogen, welche Befürchtungen übertrieben? Der Band zieht eine ökonomische Bilanz, fördert aber auch Unerwartetes zu Tage. Wenn die Eigenständigkeit der Schweiz bewahrt werden soll, bleibt der Bilateralismus für ein vernetztes Land inmitten Europas auch in Zukunft der beste Weg.

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Leseprobe

03
Wirtschaft und Arbeitsmarkt unter neuem Regime


Patrik Schellenbauer


3.1_Schweizer Konjunktur im Wechselbad der Gefühle

3.2_Reindustrialisierung unter eingeschränkter Freizügigkeit

3.3_Abschied vom grossen Wachstum

3.4_Fortschritte trotz Krisen und globaler Verlangsamung

3.5_Reales Pro-Kopf-Wachstum und seine Treiber

3.6_Gebremste Produktivitätsfortschritte

3.7_Keine «Masseneinwanderung» durch die Freizügigkeit

3.8_Verteilung der Migrationsdividende als Schlüssel

3.9_Positive Bilanz mit Wermutstropfen

Fakten

_Der Wachstumsschub 2003 – 2008 wurde von der Weltwirtschaft angetrieben. Die PFZ hat dieses Wachstum unterstützt, die starke Zuwanderung aber nicht ausgelöst, denn auch frühere Migrationsregimes waren arbeitsmarktgetrieben.

_Die Schweiz kam dank der PFZ besser durch die «Grosse Rezession» als andere Länder.

_Die weltweite Schwäche des Pro-Kopf-Wachstums ab 2009 wurde in der Schweiz verstärkt, weil ein Teil der Produktivitätsgewinne über tiefere Arbeitszeiten bezogen wurde.

_Die Zuwanderung ergänzte den inländischen Pool von Arbeitskräften. Dadurch gab es eine Zusatznachfrage nach Inländern und neue Aufstiegschancen.

Schlussfolgerungen

_Der Hauptvorteil der PFZ ist, dass kein Verteilkampf um Kontingente entsteht und keine Strukturerhaltung betrieben wird. Das Bildungsniveau der Zuwanderer wurde erhöht und die Konjunktur robuster.

_Die Kapitalintensität als Treiber der Arbeitsproduktivität wuchs langsamer, da die Schweiz unter der PFZ arbeitsintensiver produzierte.

_Erste Nutzniesser der Migration sind die Unternehmen und die Zuwanderer selbst. Der Mittelstand und die tiefen Einkommen haben ebenfalls leicht profitiert. Im Wesentlichen blieb die Einkommensverteilung stabil.

In diesem Kapitel interessiert, was die Marktöffnungen unter den Bilateralen Verträgen I zur wirtschaftlichen Entwicklung beigetragen und wie sie die Lage der Bevölkerung beeinflusst haben. Zusätzlich würde man gerne wissen, welcher Anteil den einzelnen Verträgen zukommt. Da die grossen Änderungen zeitlich mehr oder weniger zusammenfielen, kann ihr separater Einfluss auf den Gang der Wirtschaft aber nicht isoliert werden, zumindest nicht in der makroökonomischen Sichtweise dieses Kapitels. Die Personenfreizügigkeit dürfte aber die mit Abstand wichtigste Rolle gespielt haben, denn sie bot sämtlichen Branchen bis hin zur öffentlichen Verwaltung neue Möglichkeiten und veränderte die Art der Einwanderung fundamental. Sie ist der eigentliche «Gamechanger».

Die anderen Verträge (technische Handelshemmnisse, Land- und Luftverkehr, Landwirtschaft) brachten überwiegend sektorale Öffnungen und selektive Marktzugänge. Das Abkommen zum Abbau der technischen Handelshemmnisse wird mit Blick auf die Aussenwirtschaft im Kapitel 4 untersucht. Land- und Luftverkehr sind Gegenstand von Kapitel 7.

3.1_Schweizer Konjunktur im Wechselbad der Gefühle


Die Schweizer Wirtschaftsentwicklung der Jahre 2003 – 2014 gleicht einem Wechselbad der Gefühle. Die Hauptzäsur bildete die «Subprime-Krise» und in deren Gefolge die «Grosse Rezession» von 2009, die, obwohl sie in der Schweiz nicht das befürchtete Ausmass annahm, doch zur stärksten wirtschaftlichen Kontraktion seit der Erdölschock-Rezession von 1974/75 führte. Die Notrettung der UBS durch die SNB und den Bund bildet das Fanal dieser Zeit, das bis heute nachwirkt. Nur zwei Jahre später flammte die Eurokrise erstmals auf. Sie rief in der Schweiz zwar keine erneute Rezession hervor, dämpfte die Konjunktur durch das massive Erstarken des Frankens und den Rückgang der Nachfrage aus dem EU-Raum aber empfindlich.

Die vorangehende Periode 2003 bis 2008 kann als Frühphase einer Ära gesehen werden, in der die Schweiz mit der teilweisen Einbindung in den EU-Binnenmarkt neue Wachstumsimpulse erhielt. |1 In der Tat war diese Frühphase eine Zeit grosser Prosperität. Mittlere reale Wachstumsraten von 2,7 % pro Jahr hatte die Schweiz seit den 1980er-Jahren nicht mehr erlebt. Diese fast euphorische Stimmung machte den «Dotcom-Einbruch» von 2001/02 und – für das kollektive Gedächtnis weit bedeutsamer – die Erschütterungen durch den Konkurs der Swissair relativ schnell vergessen. Oft werden der Konsum und die Bauwirtschaft als Haupttreiber der Schweizer «Sonderkonjunktur» unter der Personenfreizügigkeit genannt, schliesslich sind Zuwanderer auch Konsumenten und Mieter, die ihren Lebensunterhalt bestreiten und für die Wohnungen gebaut werden müssen.

1 Formell traten die bilateralen Verträge am 1. Juni 2002 in Kraft. Aufgrund vieler Übergangsbestimmungen dürften sie ihre Wirkung nicht sogleich entfaltet haben. Deshalb erscheint es sinnvoll, 2003 als Anfangsjahr der Untersuchungsperiode festzulegen.

Zumindest für die Periode 2003 – 2008 muss dies relativiert werden: der Konsum trug weniger zum Wachstum bei als in den späten 1990er-Jahren, und die absolute Bedeutung der Bauwirtschaft ist absolut gesehen zu klein, um dominierende Wachstumsbeiträge zum Bruttoinlandprodukt (BIP) zu liefern. |2 Getragen wurde das Wachstum ab 2004 vor allem durch hohe Handelsüberschüsse, d.h. durch stark anziehende Exporte und nicht im gleichen Ausmass wachsende Importe. Im Spitzenjahr 2007 trug die Handelsbilanz 3,6 Prozentpunkte zum realen BIP-Wachstum bei. Dabei dominierten die Ausfuhren von Industriegütern den Dienstleistungsexport klar.

2 Hoch- und Tiefbau wurden zusammen erfasst. Eine Überschlagsrechnung ergibt, dass der Wohnungsbau im Mittel 0,2 Prozentpunkte zum BIP-Wachstum beitrug.

3.2_Reindustrialisierung unter eingeschränkter Freizügigkeit


Viele sprachen von der «Reindustrialisierung» der Schweiz. Angetrieben wurde diese Entwicklung durch den damals schwachen Franken, ermöglicht wurde sie aber durch zwei interne Faktoren: erstens durch die Beschleunigung des Produktivitätswachstums auf 1,8 % und zweitens durch eine erste Zuwanderungswelle dank der Personenfreizügigkeit (PFZ) mit der EU (vgl. Tabelle 1). Zwar galten noch die Einschränkungen der Einführungsphase (Inländervorrang bis 2004, Kontingente für EU-17-Zuwanderer und geografische Einschränkungen für Grenzgänger bis 2007), trotzdem zog die Migrationsziffer (Wanderungssaldo in Prozent der Bevölkerung) markant von 0,3 % (1997 – 2002) auf 0,8 % pro Jahr an.

Diese massive Ausweitung des Arbeitsangebots dürfte ein Grund dafür sein, dass das reale Lohnwachstum mit 0,7 % pro Jahr relativ bescheiden blieb. Die Gewinne und Kapitaleinkommen profitierten damit vom Wachstum der Jahre 2003 – 2008 mehr als die Lohnbezüger. Das Gewinnwachstum führte den Unternehmen willkommenes Eigenkapital zu, denn die Rezession von 2001/02 hatte viele Bilanzen wegen Überschuldung in Schräglage versetzt. Dank dem tiefen Lohnwachstum blieb auch die Inflation mit 1,1 % bescheiden. Die reale Mietteuerung (Zunahme der Mieten minus allgemeine Teuerung) zog hingegen deutlich auf 2,3 % an, denn die Wohnungsproduktion hielt mit dem höheren Bevölkerungswachstum nicht Schritt. |3 Die Anspannung auf dem Wohnungsmarkt wurde trotzdem (noch) nicht zum politischen Thema, und die Personenfreizügigkeit wurde zweimal mit relativ klaren Mehrheiten an der Urne bestätigt. |4

3 Die ausgewiesene Mietinflation bezieht sich auf die Neu- und Wiedervermietungen. Bisherige Mieter in bestehenden Verträgen waren von diesem Anstieg kaum betroffen.

4 2005 wurde die Ausdehnung der PFZ auf die zehn neuen osteuropäischen Mitglieds-länder (EU-10) mit 56,0 % Ja-Stimmen gutgeheissen. Die Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien wurde 2009 sogar mit 59,6 % angenommen.

3.3_Abschied vom grossen Wachstum


In der Periode 2009 – 2014 halbierte sich das mittlere Wachstum des realen BIP auf 1,3 %. Dies ist zwar dem Umstand geschuldet, dass die «Grosse Rezession» dieser zweiten Phase zugeschlagen wird, doch auch unter Ausklammerung des Jahres 2009 lag das Wachstum tiefer (2010 – 2014: 2 %) als in den beiden Vorperioden. Wie vor 2009 lieferte die positive Handelsbilanz den wichtigsten Wachstumsbeitrag, allerdings weniger ausgeprägt. Das Wachstum wurde nun mehr als zuvor vom Konsum getragen, vor allem ab 2012. Gleichzeitig fielen die Anlageinvestitionen ab diesem Jahr als Wachstumstreiber weitgehend aus.

Noch markanter äusserte sich die Wachstumsverlangsamung beim Pro-Kopf-BIP, dessen mittleres Wachstum auf 0,2 % pro Jahr zurückfiel. Klammert man allerdings das Krisenjahr 2009 aus, so nimmt sich der Wachstumsrückgang des Pro-Kopf-Einkommens weniger drastisch aus; dieses liegt dann immerhin noch bei 0,9 % pro Jahr. Der Grund für den akzentuierten Rückgang auf Pro-Kopf-Basis liegt in der höheren Migrationsziffer (1 %) und dem nochmaligen Anziehen des Bevölkerungswachstums auf 1,2 %. Mit dem reduzierten Pro-Kopf-Wachstum ging auch ein tieferes Produktivitätswachstum einher. Mit einem Rückgang auf 0,7 % pro Jahr schrumpfte es allerdings weniger stark. Dies lenkt den Blick auf...

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